Die Debatte über die Flüchtlingspolitik der künftigen Regierung geht an der Realität vorbei. Denn die EU arbeitet an einer Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Wenn die Reform in Kraft tritt, bleibt Deutschland nur noch wenig Spielraum, warnt Christoph Tometten.
Die potenziellen Koalitionspartner verzetteln sich in Debatten über Obergrenzen und die Union überlegt, wie man den Grünen weitere Beschränkungen des Asylrechts schmackhaft machen könnte, etwa mit der Zusage eines Einwanderungsgesetzes. Die Obergrenze ist aber verfassungs- und völkerrechtlich unzulässig und die Neugestaltung der Arbeitsmigration in einem Einwanderungsgesetz hat mit Flüchtlingspolitik nichts zu tun.
Viel wichtiger wäre es, in den Koalitionsverhandlungen endlich die Debatte um die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) aufzugreifen.
Schon Mitte 2016 hat die EU-Kommission weitreichende Vorschläge zur GEAS-Reform vorgelegt, die derzeit im Europäischen Parlament und im Rat beraten werden. Die Vorschläge sollen "eine humane und effiziente Asylpolitik" gewährleisten und "die Funktionsweise der vorhandenen Instrumente und Verfahren verbessern". Die Außengrenzen sollen besser kontrolliert und irreguläre Migration soll unterbunden werden.
Die bestehenden EU-Richtlinien würden dann weitgehend durch direkt anwendbare EU-Verordnungen ersetzt, die den Mitgliedstaaten in der Flüchtlingspolitik nur noch wenig Spielraum ließen. Das betrifft sowohl die Voraussetzungen, unter denen Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte (also Menschen, die vor Todesstrafe, Folter oder bewaffneten Konflikten fliehen) anerkannt werden, als auch das Asylverfahren und die Situation der Menschen nach einer Anerkennung. Die Folgen sind bislang kaum abzusehen.
Das gesamte Flüchtlingsrecht wird neu gefasst
Die Reformen betreffen die Dublin-Verordnung, die den für die Durchführung von Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaat bestimmt, und die Eurodac-Verordnung über den Abgleich von Fingerabdrücken. Die Verfahrensrichtlinie, die Mindeststandards im Asylverfahren festlegt, soll durch eine EU-Verordnung ersetzt werden, ebenso die Anerkennungsrichtlinie, die die materiellen Voraussetzungen für die Anerkennung von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten regelt.
Zudem soll die Aufnahme von Flüchtlingen aus Drittstaaten in der EU neu geregelt werden und eine EU-Asylagentur soll das Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) ablösen. Lediglich die Aufnahmerichtlinie bliebe als Richtlinie bestehen, sodass die Mitgliedstaaten bei den Aufnahmebedingungen für Asylsuchende weiterhin einen Umsetzungsspielraum hätten. Kurz gesagt: Die Reform betrifft das gesamte Flüchtlingsrecht.
Wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts wären nach der Reform weite Teile des deutschen Asylgesetzes und Teile des Aufenthaltsgesetzes nicht mehr anwendbar.
Starre Zuständigkeiten verhindern flexible Flüchtlingspolitik
Die schwerwiegendsten Folgen dürften sich aus der neugefassten Dublin-Verordnung und der neuen Verfahrensverordnung ergeben. Bisher können Asylsuchende von dem Staat, in dem sie Asyl beantragen, in den laut Verordnung zuständigen Staat überstellt werden. In der Regel ist das der Staat, in den sie zuerst eingereist sind, es sei denn, es leben Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat.
Für die Überstellung gelten allerdings bestimmte Fristen, ansonsten muss der Staat, in dem der Asylantrag gestellt, selbst das Asylverfahren übernehmen. Diese Fristen sollen laut Kommissionsvorschlag entfallen. So würde eine "ewige Zuständigkeit" eingeführt: Auch wenn die Überstellung nicht erfolgt, etwa wegen organisatorischer Schwierigkeiten oder menschenrechtlicher Bedenken, würde das Asylverfahren auf unabsehbare Zeit nicht weitergeführt. Im unzuständigen Mitgliedstaat sollen Asylsuchende – wenn überhaupt – nur stark reduzierte Sozialleistungen erhalten (Art. 17a der neugefassten Aufnahmerichtlinie; Art. 5 Abs. 3 der neugefassten Dublin-Verordnung).
Zugleich soll das Selbsteintrittsrecht (Art. 17 Abs. 1 der geltenden Dublin-Verordnung), das jedem Mitgliedstaat ermöglicht, ohne weitere Begründung das Asylverfahren selbst durchzuführen (wie im Herbst 2015 in Deutschland geschehen), nur noch aus familiären Gründen ausgeübt werden können (Art. 19 Abs. 1 der Neufassung). So würde der politische Gestaltungsspielraum bei der Flüchtlingsaufnahme quasi zunichtegemacht.
2/2 Restriktive Flüchtlingspolitik in allen Mitgliedstaaten
Das Asylverfahren soll in allen Mitgliedstaaten restriktiv gehandhabt werden. Besondere Verfahrensarten, die bislang im politischen Ermessen der Mitgliedstaaten standen, müssten dann zwingend angewandt werden. Das betrifft etwa das beschleunigte Prüfungsverfahren (Art. 40 des Verfahrensverordnungsvorschlags). Wie auch bei anderen Regelungen, die der Verfahrensbeschleunigung dienen sollen, werden dabei die Klagefristen verkürzt. Davon sind auch unbegleitete Minderjährige betroffen.
Der Verfahrensverordnungsvorschlag sieht zwingend die bislang optionale Anwendung des Konzepts des sicheren Drittstaats vor (nicht zu verwechseln mit dem Konzept des sicheren Herkunftsstaats). Danach sind Asylanträge unzulässig, wenn angenommen wird, dass die Antragstellenden außerhalb der EU vor Verfolgung sicher sind. Diese Frage soll sogar der Zuständigkeitsprüfung und damit der Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat vorgeschaltet werden (Art. 3 Abs. 3 a der neugefassten Dublin-Verordnung). Hierbei wird auch die langfristige Trennung von engsten Familienangehörigen in Kauf genommen.
Derzeit muss in einem sicheren Drittstaat unter anderem gewährleistet sein, dass Flüchtlinge Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) erhalten (Art. 38 Abs. 1e der Verfahrensrichtlinie). In Hinblick auf die Türkei etwa bestehen aber erhebliche Zweifel, ob das nationale Asylrecht einen solchen Schutz vermittelt. Entsprechend schlägt die EU-Kommission nun vor, einen "ausreichenden" – und damit geringeren – Schutz für die Anwendung der Drittstaatenregelung genügen zu lassen.
Gegenstand der Verhandlungen im Rat könnte möglicherweise auch eine Regelung sein, wonach auch Staaten, die die Asylsuchenden nie betreten haben, als sichere Drittstaaten in Betracht kämen – oder solche, in denen Familienzusammenführung oder Arbeitsmarktzugang verwehrt bleiben. Darauf deuten ein deutsch-französisches Papier von Februar 2017 und die Schlussfolgerungen des Rates vom 23. Juni 2017 hin.
Weitere Reformen überschatten spärliche Fortschritte
Demgegenüber dürften Verbesserungen beim Flüchtlingsschutz marginal bleiben. Die EU-Kommission schlägt zwar Kontingente zur Aufnahme von Flüchtlingen aus Drittstaaten vor. Die Festlegung der jährlichen Aufnahmezahl soll aber dem Rat vorbehalten bleiben (Art. 7 des Neuansiedlungsverordnungsvorschlags). Gegen den Widerstand von Polen und Ungarn wird diese Zahl wohl auch in Zukunft gering bleiben. Derzeit bewegt sie sich für die gesamte EU jährlich im vierstelligen Bereich.
Voraussichtlich werden so weiterhin vor allem syrische Flüchtlinge aus der Türkei aufgenommen, wie es seit dem EU-Türkei-Deal Praxis ist. Flüchtlinge aus anderen Weltgegenden bleiben damit außen vor. Dabei ist z.b. die Lage der Rohingya-Flüchtlinge in Bangladesch oder die Situation im Flüchtlingslager Dadaab in Kenia ohne Neuansiedlungsbemühungen nicht zu lösen.
Das mangelnde Interesse an der GEAS-Reform ist besorgniserregend. Die EU-Kommission möchte die GEAS-Reform baldmöglichst abschließen. Dafür hat sich auch der französische Präsident in seiner vielbeachteten Rede zu Europa ausgesprochen. Über eine derartige Umwälzung des Flüchtlingsrechts muss bei den Gesprächen in Berlin geredet werden. Und zwar bevor es zu spät ist.
Christoph Tometten, LL.M. (Köln/Paris 1) war in der 18. Wahlperiode Referent für Innen- und Migrationspolitik im Büro von Volker Beck MdB.
Christoph Tometten, LL.M. , Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems: Worüber Jamaika wirklich diskutieren müsste . In: Legal Tribune Online, 23.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25173/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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