Bei der Untersuchung des Falls von Wikileaks-Gründer Julian Assange ist Nils Melzer auf politische Verfolgung, Justizwillkür und Folter gestoßen - und auf viel betretenes Schweigen. In einem neuen Buch kritisiert er auch Deutschland.
LTO: Herr Professor Melzer, nachdem Sie konkrete Hinweise auf politische Verfolgung, schwere Justizwillkür und vorsätzliche Folter und Misshandlung von Wikileaks-Gründer Julian Assange bekommen hatten, haben Sie als UN-Sonderberichterstatter interveniert. Allerdings mit beschränktem Erfolg. Denn Assange sitzt immer noch in Einzelhaft in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis, seine Auslieferung in die USA wegen Spionage - und damit bis zu 175 Jahre Haft - droht weiterhin.
Prof. Nils Melzer: Der Fall Assange ist die Geschichte eines Mannes, der mit psychischer Folter dafür bezahlen muss, dass er über die Plattform Wikileaks die schmutzigen Geheimnisse der Mächtigen an die Öffentlichkeit gebracht und damit Kriegsverbrechen, Folter und Korruption enthüllt hat. Es ist die Geschichte schwerster Justizwillkür in westlichen Demokratien, die sich im Bereich des Menschenrechtsschutzes sonst gerne als Vorzeigestaaten darstellen.
Leider haben Sie Recht: Ich habe als UN-Sonderberichterstatter alle mit dem Fall direkt involvierten Staaten – Großbritannien, Schweden, Ecuador und den USA – mehrfach um Aufklärung gebeten und konkrete Maßnahmen empfohlen. Keine der vier Regierungen war bereit, sich auf einen konstruktiven Dialog einzulassen. Schlimmer noch: Die Verfolgung und Misshandlung von Assange ist während meiner Untersuchung noch intensiviert worden. Die Verletzungen seiner Verfahrensrechte in England wurden immer offensichtlicher und selbst meine öffentlichen Aufrufe an die Behörden zur Einhaltung der Menschenrechte wurden ignoriert.
Was hat sie zur Veröffentlichung eines Buches über den Fall veranlasst?
Das Entsetzen darüber, dass man sich auf den Rechtsstaat nicht mehr verlassen kann. Ich habe im Rahmen meiner Untersuchungen schwere Menschenrechtsverletzungen festgestellt - und zwar begangen und geduldet nicht von fernen Diktaturen, sondern von westlichen Demokratien, die sich sonst immer ihrer Rechtsstaatlichkeit rühmen.
Letztlich geht es in diesem Fall nämlich nicht um die Person Assange, sondern um die Integrität unserer rechtsstaatlichen Institutionen. Auf dem Spiel steht auch die Pressefreiheit, und damit nicht weniger als die Zukunft unserer Demokratie. An Assange soll ein Exempel statuiert werden, um andere Publizisten, Journalisten und Whistleblower einzuschüchtern, die vielleicht mit dem Gedanken spielen, seinem Beispiel zu folgen und in großem Stil die schmutzigen Geheimnisse der Mächtigen ans Licht der Öffentlichkeit zu ziehen.
"Seine Welt wurde immer enger"
Julian Assange wurde in Schweden der Vergewaltigung zweier Frauen bezichtigt, die Verfahren wurden jedoch nach neun Jahren mangels Beweisen eingestellt. Von 2012 bis 2019 befand er sich in London in der Botschaft Ecuadors in London im Asyl. Jetzt wartet er im "britischen Guantánamo", dem berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, auf eine Berufungsverhandlung vor dem High Court, der über die Auslieferung an die USA entscheiden wird. Ab welchem Punkt dieser Entwicklung kann man Ihren Erkenntnissen nach von Folter sprechen?
Die entscheidende Entwicklung setzte im Mai 2017 ein, nach dem Regierungswechsel zu einem US-freundlichen Präsidenten in Quito. Nun wurde das anfängliche Botschafts-Refugium für Assange zur Falle. Die ursprüngliche Gastfreundschaft verkehrte sich in einen zunehmend feindlichen, willkürlich reglementierten Alltag unter Dauerüberwachung durch Kameras und versteckte Wanzen. Der Zugang wohlgesinnter Besucher wurde immer schwieriger und umständlicher gestaltet, und seine Kommunikationsmöglichkeiten wurden eingeschränkt, bis hin zur vollständigen Unterbindung seines Internetzugangs und seiner Sozialkontakte nach der geheimen Anklageerhebung der amerikanischen Grand Jury im März 2018.
Diese Isolation Assanges erfolgte vorsätzlich, zweckgerichtet und koordiniert. Seine Welt wurde immer enger, bis ihm praktisch kein Rückzugsraum mehr blieb und er seiner fortgesetzten Misshandlung vollkommen wehrlos ausgeliefert war. Es ist eine verdeckte, aber progressiv und kumulativ eskalierende Form der Misshandlung, die man aus dem Mobbing sehr gut kennt und auf die Dauer schwerste Traumatisierungen verursacht. Am Ende entzog man ihm dann das Asyl ohne jedes geordnete Verfahren, nahm ihm drei Monate zuvor sogar den Rasierer weg, damit er zerzaust und wie ein Schmuddelkind medienwirksam und planmäßig von der britischen Polizei festgenommen werden konnte – wegen eines verhältnismäßig geringfügigen Verstoßes gegen Kautionsauflagen.
"Typische Symptome für psychische Folter”
Die deutsche Strafrechtslehrerin Prof. Dr. Tatjana Hörnle hat Ihnen vorgeworfen, sie würden den Folterbegriff im Fall Assange nach Art. 1 Abs. 1 UN-Antifolterkonvention trivialisieren: Psychisches Leiden reiche für den Vorwurf der Folter nicht aus. Erforderlich sei vielmehr eine vorsätzliche Handlung, der Vorsatz des Folterers müsse auf schweres Leiden gerichtet sein. Ein schlampig geführtes, überlanges Strafverfahren oder eine unfreundliche Behandlung durch Botschaftsangehörige sollten nicht unter den Begriff der Folter im Sinne der UN-Antifolterkonvention gefasst werden, sagt Hörnle.
Frau Hörnle fehlt ganz offensichtlich die für eine solche Einschätzung erforderliche Expertise und Erfahrung. Zunächst einmal fällt auch rein psychische Folter unter Art. 1 Abs. 1 UN-Antifolterkonvention. Ob jemand gefoltert wurde, lässt sich aber nicht aus dem wissenschaftlichen Elfenbeinturm beurteilen, sondern verlangt eine forensische Untersuchung gestützt auf eine international anerkannte Methodologie.
Ich habe Assange zusammen mit zwei auf Folteropfer spezialisierten Ärzten in Belmarsh besucht, habe seine Haftbedingungen vor Ort begutachtet, habe Behörden, Anwälte, und Zeugen angehört und seine bisherige Behandlung, Krankengeschichte und Lebensbedingungen studiert. Assange zeigte ganz klar die für Opfer psychischer Folter typischen neurologischen, kognitiven und emotionalen Symptome. Da eine Vorerkrankung als Ursache ausgeschlossen werden konnte, mussten diese Symptome durch äußere Faktoren bewirkt worden sein. Aufgrund seiner langjährigen Isolation in der ecuadorianischen Botschaft konnten wir diese Faktoren mit großer Zuverlässigkeit feststellen.
Es war das von den Staaten absichtlich inszenierte Zusammenspiel von Isolation, Verleumdung, Demütigung, Verunsicherung und ständiger Willkür, alles unter dem ständigen Damoklesschwert einer Auslieferung an die USA.
Sie werfen in ihrem Buch Deutschland vor, in Bezug auf die Misshandlung von Julian Assange "zwischen Appeasement und Komplizenschaft" zu lavieren. Warum?
In meinem Buch diskutiere ich Deutschland nur als Beispiel. Anderen Staaten könnte man genau die gleichen Vorwürfe machen.
Aber auch in Deutschland misst man leider mit zweierlei Maß: Während man im Fall Nawalny sich zu Recht empört, dass jemand - übrigens ebenfalls unter dem Vorwand eines Kautionsverstoßes – verfolgt und bedroht wird, verschließt man im Fall Assange die Augen. Vermutlich ist die Kooperation zwischen deutschen Nachrichtendiensten mit CIA und NSA zum Nachteil der eigenen Bevölkerung ein höheres Gut als die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und die Verteidigung der Menschenrechte.
"Veritable Realityshow in der Bundespressekonferenz"
Können Sie konkreter werden?
Mein Besuch im Auswärtigen Amt im November 2019 war keine Sternstunde der Bundesregierung. Man hatte mich in die Menschenrechtsabteilung des Ministeriums eingeladen, um den Fall Assange zu besprechen, aber meine umfangreiche Berichterstattung zu dem Fall hatte niemand gelesen. Und ganz offensichtlich hatte auch niemand die Absicht, sich näher damit zu befassen. Vielmehr machte man sich wegen meines Engagements angeblich Sorgen um die Glaubwürdigkeit meines Mandates und den Fortbestand der UNO-Menschenrechtsmechanismen.
Dass Assange ohne Rechtsgrundlage seit Monaten in Isolationshaft gehalten und seiner Menschenwürde und Verteidigungsrechte beraubt wurde, ließ bei den deutschen Menschenrechtsbürokraten aber offenbar keine Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des britischen Verfahrens aufkommen. Stattdessen bedachten sie meine Einwände mit den gleichen leeren Blicken wie die Regierungssprecher, die in der Bundespressekonferenz bislang jede Anfrage zum Fall Assange mit steinernen Gesichtern und gequälten Worthülsen abwimmelten – eine veritable Realityshow zum Thema Wirklichkeitsverdrängung.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie selbst in der UNO kein Gehör gefunden hätten.
Das stimmt. Ich berichtete sowohl dem Menschenrechtsrat in Genf als auch der Generalversammlung in New York über die völkerrechtswidrige Verfolgung von Assange und die Verweigerungshaltung der betroffenen Staaten – doch keine Reaktion. Ich bat die Hochkommissarin für Menschenrechte wiederholt um eine persönliche Besprechung in dieser Angelegenheit und wurde abgewimmelt. Ich forderte andere Staaten zur Einflussnahme auf, stieß aber fast durchweg auf eine Wand betretenen Schweigens. Ich erlebte also, wie die rechtsstaatlichen Institutionen, an deren Funktionstüchtigkeit ich immer geglaubt hatte, vor meinen eigenen Augen versagten.
"Unter Joe Biden wird sich nichts ändern"
In einem ersten Urteil im Januar wurde die Auslieferung Julian Assanges an die USA abgelehnt. Eine Entscheidung, die Sie nicht wirklich erfreut hat. Warum?
Die Bezirksrichterin hat den Auslieferungsantrag der USA lediglich aus medizinischen Gründen abgelehnt. Die Haftbedingungen, denen Assange in einem amerikanischen Hochsicherheitsgefängnis ausgesetzt würde, seien derart harsch, dass er angesichts seiner labilen psychischen Gesundheit mit großer Wahrscheinlichkeit in den Selbstmord getrieben würde. In der Tat hatten psychiatrische Gutachter die Suizidgefahr als sehr hoch eingeschätzt. Allerdings sah die Richterin kein Problem darin, Assange sofort nach Belmarsh zurückzuschicken, wo er ja ebenfalls in Isolation gehalten wird.
Im selben Atemzug wischte die Richterin überdies alle anderen rechtlichen Einwände wie auch die entlastenden Gutachten und Zeugenaussagen der Verteidigung ohne viel Federlesens vom Tisch. Das von den USA angestrengte Auslieferungsverfahren sei nicht politisch motiviert, Assange sei eine Bedrohung für die Sicherheit der USA. Das Verbot von Auslieferungen für politische Delikte im angloamerikanischen Auslieferungsabkommen: nicht anwendbar. Die Überwachung von Assange in der ecuadorianischen Botschaft und das Abhören seiner Arzt- und Anwaltsgespräche: nicht zu beanstanden. Die Auswirkungen der drohenden Auslieferung auf Assanges Partnerin und die beiden gemeinsamen Kinder: nichts Ungewöhnliches. Und keineswegs sei Assanges Tätigkeit bei WikiLeaks, das Publizieren von brisantem Material, von der Pressefreiheit gedeckt gewesen. Vielmehr habe er Chelsea Manning aktiv dabei unterstützt, an geheime Dokumente zu gelangen, und sei dadurch weit über die Grenzen des investigativen Journalismus hinausgegangen.
Damit hat Großbritannien einen katastrophalen Präzedenzfall geschaffen, mit dem in Zukunft jeder Journalist, der unbequeme Wahrheiten enthüllt, weltweit als Spion kriminalisiert und verfolgt werden kann.
Gegen das Urteil haben sowohl die USA als auch Assange Berufung eingelegt. Womit rechnen Sie?
Schwer zu sagen. Den USA geht es ja nicht so sehr um eine persönliche Bestrafung von Assange, sondern vor allem um die globale Abschreckungswirkung für andere Journalisten, Publizisten und Aktivisten. Ein möglichst langer, quälender Prozess käme ihnen gelegen. Vielleicht wird also der britische High Court wegen der zahlreichen Fehler der ersten Instanz das Verfahren noch mal an diese zurückverweisen. Und in ein paar Jahren wird es dann vor dem Supreme Court landen.
Halten Sie es für möglich, dass der demokratische Präsident Joe Biden der Verfolgung von Assange ein Ende bereitet und den Auslieferungsantrag zurückzieht?
Da mache ich mir keine Illusionen. Die Biden-Administration wird es sich mit CIA und NSA nicht verscherzen wollen. Schon unter dem Friedensnobelpreisträger Barack Obama hatten die Belange der "National Security" höchste Priorität, wurden Drohnenmorde institutionalisiert und Whistleblower drakonisch bestraft, während Kriegsverbrecher und Folterer Straflosigkeit genossen. Unter Biden wird sich in dieser Hinsicht nichts ändern.
Besten Dank für das Gespräch.
Nils Melzer ist Professor für Völkerrecht und lehrt in Glasgow und Genf. 2016 wurde er vom UN-Menschenrechtsrat zum Sonderberichterstatter für Folter ernannt. Vorher war er als sicherheitspolitischer Berater der Schweizer Regierung tätig sowie als Rechtsberater und Abgesandter in Kriegs- und Krisengebieten für das Internationale Komitee des Roten Kreuz (IKRK). Sein Buch "Der Fall Julian Assange" erscheint am 19.April im Piper-Verlag zum Preis von 22 Euro.
Interview mit dem UNO-Sonderberichterstatter für Folter: . In: Legal Tribune Online, 17.04.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44738 (abgerufen am: 08.10.2024 )
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