Die Tat in Aschaffenburg hätte verhindert werden können – da sind sich Politiker parteiübergreifend einig. Aber wie? Welche Möglichkeiten bieten Aufenthalts-, Polizei- und Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz? LTO hat mit Experten gesprochen.
Die Messerattacke in Aschaffenburg vom Mittwoch scheint sich – anders als der Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt am 20. Dezember – ins Muster von Mannheim und Solingen einzureihen. Wieder ein Messer, wieder ein ausreisepflichtiger Ausländer – wie in Mannheim ein Afghane. Und wie in anderen Fällen war der Angreifer im Vorfeld schon durch Gewalttaten auf- und straffällig geworden.
Dass das Tatmotiv nach ersten Erkenntnissen nicht in diese Reihe passt, weil bislang nichts auf eine islamistische Gesinnung, sondern – stärker noch als in Magdeburg – vieles auf eine psychische Erkrankung hindeutet, scheint Politikern (fast) aller Parteien mittlerweile egal zu sein. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach trotzdem von einer "Terror-Tat", Julia Klöckner (CDU) brachte die Tat mit "Kulturen" in Verbindung, "die mit unserer Lebensweise nicht einverstanden sind". Zwar hatte die zuständige Ermittlungsrichterin am Amtsgericht (AG) Aschaffenburg am Donnerstagabend wegen Zweifeln an der Schuldfähigkeit des Mannes keine U-Haft, sondern eine Unterbringung in der Psychiatrie angeordnet. Dennoch bleiben jene Aussagen unwiderrufen.
Auch die Debatte um Verschärfungen des Migrationsrechts und der Abschiebungspraxis hat das nicht gestoppt: Ebenfalls am Donnerstagabend legte CDU-Chef Friedrich Merz einen Fünf-Punkte-Plan mit teils alten, teils neuen Forderungen vor: darunter die unionsrechtswidrige Forderung nach Zurückweisungen aller Geflüchteten an den deutschen Grenzen sowie die Befugnis der Bundespolizei, Haftbefehle auszustellen. Ein Entschließungsantrag mit Umsetzungsauftrag soll noch eilig in der nächsten Woche in den Bundestag eingebracht werden. Um dafür eine Mehrheit zu organisieren, riss Merz auch offiziell die Brandmauer ein: Wer an der Seite der Union für das Gesetz stimme, sei ihm "völlig egal", berichtete Table Media am Freitag. AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel hat ihre Zustimmung bereits erklärt. Ob Weidels Fraktion im Bundestag auch formal zustimmen wird, ist angesichts einiger AfD-kritischer Passagen in dem Antrag, die am Samstag bekannt wurden, ungewiss.
Dabei müsste der Fall Aschaffenburg eigentlich Anlass zu ganz anderen Debatten geben: Überdurchschnittlich viele Asylbewerber leiden unter einer psychischen Erkrankung. Wie können Behörden damit umgehen? Einerseits müsste Betroffenen mehr Hilfe angeboten werden, andererseits stellt sich die Frage: Wie können Sicherheitsbehörden die Öffentlichkeit vor gewalttätigen Menschen mit psychischer Erkrankung schützen?
Warum war der Mann noch in Deutschland?
Politiker fast aller Parteien scheinen sich einig: Die bayerischen Sicherheitsbehörden – sonst nicht gerade für Zögerlichkeit bekannt – haben versagt. Erster Ansatzpunkt für diesen Vorwurf ist auch diesmal wieder das Aufenthaltsrecht. Der Angreifer von Aschaffenburg, Enamullah O., kam Ende 2022 nach Deutschland. Im Sommer 2023 hätte er dann eigentlich, wie der Solingen-Attentäter, nach Bulgarien rücküberstellt werden sollen – nach dem Dublin-System. Die Dublin-III-Verordnung schreibt vor, dass derjenige Staat für das Asylverfahren zuständig ist, in dem die geflüchtete Person erstmals EU-Boden betreten hat. Reist die Person weiter und stellt erst dort einen Asylantrag, soll sie eigentlich von diesem Staat aus in den zuständigen Staat überstellt werden. Dafür bleiben sechs Monate Zeit; verstreichen die, wird der Staat, in dem der Asylantrag gestellt wird, zuständig.
Dass dieses System praktisch nicht funktioniert, ist bekannt. Viele Staaten an der EU-Außengrenze sind vom Zustrom an Geflüchteten überfordert und deshalb nicht bereit, durchgereiste Personen zurückzunehmen. Im Fall von Bulgarien ist das anders. Dass die Überstellung hier scheiterte, lag nach bisherigen Erkenntnissen an einer mangelhaften Kommunikation zwischen dem für den Bescheid über den Asylantrag zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und der für den Vollzug der Überstellung zuständigen Ausländerbehörde in Bayern. Insofern ist hier tatsächlich von einem Behördenfehler auszugehen, auch wenn noch nicht klar ist, von wem genau.
Kritik kam im Verlauf der letzten Tage auch an der Strafjustiz auf. Mittlerweile ist bekannt, dass O. mehrfach strafrechtlich verurteilt worden ist, auch wegen Gewaltdelikten; einen vorläufigen Überblick hat LTO am Donnerstag gegeben. Wie die Bild-Zeitung berichtet, hätte O. zum Zeitpunkt der Tat sogar eine Ersatzfreiheitsstrafe im Gefängnis absitzen sollen. Weil wegen einer späteren Straftat eine Gesamtstrafe gebildet werden sollte, wurde mit dem Haftantritt jedoch gewartet. Bemerkenswert ist, dass die psychische Erkrankung, die ausweislich einer psychiatrischen Begutachtung beim AG Aschaffenburg nun offenbar vorliegt, in früheren Strafprozessen nicht zu einem Schuldausschluss und in der Rechtsfolge zu einer Unterbringung in der Psychiatrie geführt hatte. Womöglich hat sich die Erkrankung in den letzten Monaten verstärkt, erst seit Anfang Dezember soll O. in Betreuung gewesen sein.
Als nächstes stellen sich viele die Frage: Warum ist der Mann danach nicht abgeschoben worden? Er war doch ausreisepflichtig. Das stimmt – aber nur deshalb, weil O. selbst Anfang Dezember den Asylantrag zurücknahm und ankündigte, freiwillig nach Afghanistan zurückkehren zu wollen. Bis zu diesem Zeitpunkt lief das Asylverfahren noch, wäre also eine Abschiebung von vornherein ausgeschlossen gewesen. Und danach?
Freiwillige Ausreise forcieren?
Eine Frist, bis wann O. Deutschland hätte verlassen müssen, gab es laut bayerischem Innenministerium nicht. Das eigentlich für die Setzung einer Ausreisefrist zuständige BAMF wollte sich auf LTO-Anfrage nicht zu dem Fall äußern. Die Ausländerbehörde hatte dem Mann laut dpa einen längeren Aufenthalt gestattet, zur gemeinsamen Vorbereitung der freiwilligen Ausreise. O. fehlten laut Innenminister Joachim Herrmann (CSU) die erforderlichen Papiere, die habe er bis zur Tat Aschaffenburg nicht vom afghanischen Generalkonsulat erhalten.
Geht es um Länder, in die eine Ausreise ohne Weiteres realisierbar ist, insbesondere Pässe und Flugtickets leicht zu organisieren sind, setzt das BAMF nach erfolgslosem Asylverfahren eine Ausreisefrist und droht für den Fall des Fristablaufs die Abschiebung an. Ist die Person nach Fristablauf dann tatsächlich noch im Land, ordnet die Ausländerbehörde die Abschiebung an. Auch im Fall einer freiwilligen Rücknahme des Asylantrags wird nach § 38 Asylgesetz (AsylG) eine Frist gesetzt. Die beträgt nach Abs. 2 sogar nur eine Woche, erklärt sich die Person aber freiwillig zur Ausreise bereit, kann das BAMF sie nach Abs. 3 auf drei Monate verlängern. Es sei üblich, diese Frist auszunutzen, sagt Prof. Dr. Constantin Hruschka, der am Münchener Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik forscht.
In Ländern wie Afghanistan, mit denen keine klaren Abschiebeabkommen bestehen, steht auch eine freiwillige Ausreise vor praktischen Hürden. "Es finden nach wie vor keine Abschiebungen nach Afghanistan statt", sagt Hruschka zu LTO. Zwar waren im August 2024 mehrere teils schwerste Straftäter mit afghanischer Staatsangehörigkeit aus Deutschland abgeschoben worden. Allerdings lief das über Katar; ein Abkommen zwischen der Bundesregierung und den Taliban über direkte Abschiebungen existiert nicht. Die Konsequenz? "Wenn eine Abschiebung nicht möglich ist, kann sie eigentlich auch nicht angedroht werden", sagt Hruschka. "Der Staat darf im Grunde nur androhen, was er durchführen kann. Ist eine Abschiebung aus tatsächlichen Gründen nicht möglich, muss die Abschiebung ausgesetzt und eine Duldung erteilt werden." Vorliegend arbeitete man offenbar noch an einer Lösung – ohne Pass und Flugverbindung ging es eben nicht.
Die psychische Erkrankung eines Ausreisepflichtigen könnte umgekehrt aber sogar einer Abschiebung entgegenstehen. Sowohl die gesundheitliche Beeinträchtigung selbst als auch eine damit ggf. einhergehende Erwerbsunfähigkeit könnten individuelle Umstände bilden, die in Zusammenschau mit anderen Umständen nach § 60 Abs. 7 AufenthG ein Abschiebungsverbot begründen.
Abschiebehaft, Ausreise- und Präventivgewahrsam
"Jeder ausreisepflichtige Gefährder und Täter soll in zeitlich unbefristeten Ausreisearrest genommen werden, bis er die mögliche freiwillige Ausreise antritt oder die zwangsweise Abschiebung gelingt", wird Merz in seinem Fünf-Punkte-Plan zitiert. "Für genau solche Täter wie den [...] in Aschaffenburg wäre ein solcher Arrest schon längst nötig als auch erforderlich gewesen."
Dazu müsste die Union das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ändern. Bislang kommen Abschiebehaft (§ 62 AufenthG) und Ausreisegewahrsam (§ 62b AufenthG) nicht in Betracht, wenn der Ausreisepflichtige freiwillig ausreisen will. "Das dient beides der Ermöglichung und Sicherung des Vollzugs der späteren Abschiebung", so Hruschka. "Wenn die Abschiebung aber gar nicht möglich ist, sind auch Maßnahmen zur Vollzugssicherung nicht zulässig."
Sicherungshaft ist nach § 62 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG insbesondere zulässig, wenn Fluchtgefahr besteht. Die maximale Dauer beträgt nach Abs. 4 zunächst sechs Monate. Ausreisegewahrsam ist unter einfacheren Voraussetzungen möglich, zeitlich aber auf 28 Tage begrenzt. Allerdings werde die Regelung des § 62b AufenthG von vielen für europarechtswidrig gehalten, sagt Hruschka. Dabei ist nach § 62b Abs. 1 S. 3 AufenthG auch ein Ausreisegewahrsam unzulässig, "wenn der Ausländer glaubhaft macht oder wenn offensichtlich ist, dass er sich der Abschiebung nicht entziehen will". Das ist eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
Ob der von der Union vorgeschlagene neue Ausreisearrest, der auch ausreisewillige Personen erfasst, mit EU-Recht und Grundgesetz vereinbar ist, hängt nicht nur von dem notwendigen Richtervorbehalt ab, sondern auch davon, wie "Gefährder und Täter" definiert werden.
Allerdings ist hier zu beachten, dass es für beide Gruppen bereits Gewahrsamsregelungen gibt: Wer eine Straftat begeht, dem droht Haftstrafe, bei andauernder Gefährlichkeit ggf. mit Sicherungsverwahrung. Auch präventiv, zur Verhinderung von Straftaten, kann eine Person auf richterliche Anordnung in Unterbringungsgewahrsam genommen werden, auch Präventivhaft genannt. Wie der Berliner Polizeirechtler Prof. Dr. Clemens Arzt bereits nach dem Magdeburg-Attentat gegenüber LTO betont hatte, kommt dieses hochumstrittene Instrument nur zur Vermeidung kurzfristiger, konkreter und unmittelbar bevorstehender Straftaten in Betracht. Damit hätte dies im Fall des Magdeburger Attentäters näher gelegen als im hiesigen Fall. Eine latente Gefährlichkeit aufgrund einer psychischen Erkrankung rechtfertigt einen Polizeigewahrsam keinesfalls, der dürfte auch in Bayern einen Zeitraum von zwei Monaten nicht überschreiten, in den meisten anderen Ländern sind nur wenige Tage möglich.
Das Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz
Als dauerhafte Lösung wäre eine andere Unterbringungsform möglich, die CSU-Chef Markus Söder am Donnerstag in Spiel gebracht hat: Viele Bundesländer haben sogenannte Psychisch-Kranken-Gesetze, die eine Unterbringung erlauben. Das Bayerische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (BayPsychKHG) werde man "noch einmal für uns überprüfen und es härten", sagte Söder. Was genau "härten" bedeutet und inwiefern er das Gesetz ändern oder bloß die Behörden an dessen Anwendung erinnern will, ist unklar. Das Gesetz räumt ihnen jedenfalls heute schon weitreichende Befugnisse zur zwangsweisen Unterbringung psychisch Kranker ein – und ist entsprechend umstritten.
Das Gesetz verfolgt nach eigener Aussage in Art. 6 Abs. 1 einen dualen Zweck: "Ziel der Unterbringung ist es einerseits, die untergebrachte Person zu heilen oder ihren Zustand soweit zu stabilisieren, dass von ihr keine Gefährdungen [...] mehr ausgehen, sowie andererseits die von ihr ausgehenden Gefahren abzuwehren." Hilfe und Gefahrenabwehr also. "Es geht vor allem darum, eine Selbstgefährdung sowie eine Fremdgefährdung durch die Person auszuschließen", sagt Prof. Dr. Jens Puschke, der Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Medizinstrafrecht in Marburg lehrt.
Die Voraussetzungen für eine Unterbringung sind in Art. 5 PsychKHG geregelt. Danach muss die Person eine Gefahr für sich oder andere darstellen, und zwar "auf Grund einer psychischen Störung, insbesondere Erkrankung". Stets erforderlich ist, dass die zuständige Behörde eine ärztliche Einschätzung einholt, die Unterbringung anordnen kann nur ein Gericht.
Liegt hier das eigentliche Versäumnis?
"Praktisch muss es einen Hinweis aus der Bevölkerung, einer medizinischen Einrichtung oder von anderen Behörden geben, dass die Person ein auffälliges Verhalten gezeigt hat", sagt Puschke im Gespräch mit LTO. Das müsse keine schwere Straftat sein. "Aber irgendein Vorverhalten, das Anlass zu dem Verdacht gibt, braucht man natürlich schon."
Art. 5 Abs. 2 PsychKHG nennt als negative Voraussetzung noch, dass die "Einsichts- und Steuerungsfähigkeit" des Betroffenen "nicht erheblich beeinträchtigt" ist. Das heißt: Wer – trotz psychischer Erkrankung – weiß, was er tut, darf nicht nach dem PsychKHG zwangsweise untergebracht werden. "Im Grunde geht das Gesetz hier davon aus, dass eine einsichtsfähige Person abstrakt weniger gefährlich ist, bzw. die Gefahr weniger stark mit der psychischen Störung im Zusammenhang seht", sagt Puschke. Denn bei dieser Person komme der Appell, den ein Straftatbestand sendet ("tu das nicht!") grundsätzlich an. "Wer Einsichts- und Steuerungsfähigkeit besitzt, ist durch den Normbefehl noch erreichbar, so die Annahme", meint Puschke.
Die Verhältnismäßigkeit ist auch hier eine zentrale Einschränkung: Es versteht sich, dass ein zwangsweises Einsperren nur äußerstes Mittel sein kann. Vorrang haben nach Art. 5 Abs. 2 die "Hinzuziehung eines Krisendienstes" und die "des gesetzlichen Vertreters". Das wird auch die Union nicht verfassungskonform anders regeln dürfen. Durchaus zweifelhaft ist aber, ob das BayPsychKHG im Fall von Enamullah O. wirklich erschöpfend angewendet wurde. Er war bereits mehrfach nach Gewalttaten kurzfristig eingewiesen worden. Die weiteren Ermittlungen werden zeigen müssen, warum eine längerfristige Einweisung nicht erfolgt ist.
Red. Hinweis: Aktualisierte Fassung vom 26.01.2025, 13:15 Uhr (mk)
Ausreisepflichtig, gewaltbereit und psychisch krank: . In: Legal Tribune Online, 25.01.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56431 (abgerufen am: 11.02.2025 )
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