Forschung an nichteinwilligungsfähigen Patienten soll erlaubt werden, die selbst keinen Nutzen von der Teilnahme haben. Klingt fragwürdig, bei genauem Hinsehen aber durchdacht und ethisch tragbar, meint Sebastian Graf von Kielmansegg.
"Gruppennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen" – das ist bei der gerade anstehenden Reform des Arzneimittelgesetzes die wohl am heftigsten umstrittene Frage. Diskutiert wird sie meist unter dem Schlagwort "Demenzforschung", aber es geht dabei auch um andere schwere Erkrankungen mit Bewusstseinsstörungen.
Bisher ist klinische Arzneimittelforschung an erwachsenen Personen, die nicht einwilligungsfähig sind, in Deutschland nur zulässig, wenn diese Personen von ihrer Teilnahme an dem Forschungsvorhaben einen persönlichen medizinischen Nutzen haben. Ein solcher sogenannter Eigennutzen besteht etwa bei der Anwendung eines neuen Medikaments, mit dem ihre Krankheit möglicherweise besser behandelt werden kann.
Den Vorteil hätten andere
Ein Regierungsentwurf zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften enthält nun eine Regelung, die Arzneimittelforschung an Nichteinwilligungsfähigen auch bei einem Gruppennutzen erlauben würde. Der Nutzen läge dann bei der Gruppe anderer, zukünftiger Patienten, die an derselben Krankheit leiden.
Die Bundesregierung reagiert damit auf eine EU-Verordnung aus dem Jahr 2014, die die Möglichkeit solcher Forschungsvorhaben europaweit begründet, den Mitgliedstaaten allerdings auch gestattet, strengere Regeln beizubehalten. Drei Änderungsanträge aus dem Kreis der Bundestagsabgeordneten sind zu dem Regierungsentwurf vorgelegt worden. Einer will die von der Regierung vorgesehene Option wieder streichen und das bisherige strikte Verbot gruppennütziger Forschung an Nichteinwilligungsfähigen aufrechterhalten. Die anderen beiden wollen am Regierungsentwurf mit gewissen verfahrensrechtlichen Modifikationen festhalten. Anfang November soll darüber im Bundestag abgestimmt werden.
Menschen als Objekt der Forschung?
Es handelt sich in der Tat um eine rechtlich und ethisch schwierige Frage, über die man mit guten Gründen streiten kann. Die Kritik sieht in der vorgesehenen Regelung eine Verletzung der Menschenwürde, eine Degradierung nichteinwilligungsfähiger Personen zu Forschungsobjekten, mit der zugleich ein Dammbruch für noch weitergehende Begehrlichkeiten riskiert werde. Auch die historische Sensibilität vor dem Hintergrund der NS-Verbrechen wird betont.
Diese Sichtweise, zuweilen sehr apodiktisch und mit Schärfe vorgebracht, beherrscht auch die Darstellung in den Medien. Aber liegen die Dinge wirklich so eindeutig? Wer zu einem abgewogenen Urteil kommen will, muss auch die Argumente ernst nehmen, die für die andere Richtung sprechen. Er muss vor allem auch die engen Grenzen der vorgesehenen Regelung zur Kenntnis nehmen. Sechs Gründe vor allem sind es, die in der Summe die geplante Ermöglichung gruppennütziger Forschung vertretbar erscheinen lassen.
2/2: Sechs Gründe für die Vertretbarkeit
- Das Konzept gruppennütziger Forschung an Nichteinwilligungsfähigen ist nicht neu. Die wichtigsten internationalen Regelwerke zur klinischen Forschung, etwa die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes, gestatten sie – in engen Grenzen – schon seit längerem. Das ist für sich genommen kein Argument, aber doch ein Indiz, dass es ernsthafte ethische Gründe gibt, die für eine solche Lösung sprechen. Auch Deutschland hat im Jahr 2004 mit der 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes die Möglichkeit gruppennütziger Forschung an Minderjährigen eingeführt. Warum eine solche Regelung, die bei Minderjährigen anerkannt und bewährt ist, bei nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen von vornherein völlig inakzeptabel sein soll, ist bisher noch nicht einleuchtend erklärt worden.
- Ein rigides Verbot gruppennütziger Forschung an Nichteinwilligungsfähigen begründet die Gefahr, dass diese Patientengruppen von den Chancen auf medizinischen Fortschritt in erheblichem Umfang ausgeschlossen bleiben. Die Kritik wendet zwar ein, dass dafür auch andere Forschungsverfahren ausreichen würden, also gar kein Bedarf an gruppennütziger Forschung an den Betroffenen bestehe. Aber genau besehen gehen auch diese Stimmen i.d.R. von einem gewissen Bedarf an gruppennützigen Untersuchungen aus, ohne das Kind freilich bei diesem Namen zu nennen. Die Diskussion dürfte zum Teil also durch begriffliche Missverständnisse befeuert werden. Worum es der geplanten Gesetzesänderungen in erster Linie geht, ist die Ermöglichung von Begleituntersuchungen im Kontext einer Behandlung – Begleituntersuchungen, die dem Patienten selbst keinen Nutzen bringen, aber für das Verständnis der Arzneimittelanwendung wichtig sind, z.B. Blutentnahmen zur Ermittlung der Wirkstoffverteilung im Körper oder Biomarkerforschung. Das ist nach bislang geltendem Recht – was häufig verkannt wird – bei Nichteinwilligungsfähigen wegen des strikten Verbotes gruppennütziger Forschung nicht zulässig.
- Nichteinwilligungsfähige Patienten werden nicht als Probandenreservoir für den allgemeinen Fortschritt missbraucht. Gruppennützige Forschung an ihnen betrifft nur das spezifische Krankheitsbild dieser Personengruppen und soll ausschließlich dann erlaubt werden, wenn eine Forschungsfrage anders nicht beantwortbar ist. Wenn Forschung auch an einwilligungsfähigen Personen durchgeführt werden könnte, steht auch nur dieser Weg offen.
- Nichteinwilligungsfähige Patienten können naturgemäß nicht selbst eine Einwilligung erteilen. Aber ihr Selbstbestimmungsrecht soll so weit wie möglich gewahrt werden: Sie selbst müssen, solange sie noch einwilligungsfähig waren, persönlich in einer Art Patientenverfügung vorab ihre Zustimmung zur Einbeziehung in solche Studien erklärt haben – so sieht es der Regierungsentwurf vor. Möchte ein Forscher sie später tatsächlich in eine Studie aufnehmen, ist zudem die Einwilligung ihres gesetzlichen Vertreters nötig, und wenn erkennbar ist, dass der Betroffene die Beteiligung nun doch ablehnt, ist auch dieser Wille zu beachten.
- Gruppennützige Forschung darf nur minimale Risiken und Belastungen mit sich bringen. Das ist, wie immer man sie im Einzelnen zieht, eine sehr rigide Grenze, wie sie heute schon für Forschung an Minderjährigen gilt. Darunter kann, je nach Einzelfall, z.B. eine Blutentnahme oder ein bildgebendes Verfahren im Kontext der Behandlung fallen. Substantielle medizinische Eingriffe oder die Erprobung neuer, nicht indizierter Wirkstoffe wären danach in keinem Fall als gruppennützige Forschung zulässig.
- Der Forscher kann über die Einbeziehung Nichteinwilligungsfähiger nicht selbst entscheiden. Nicht nur muss der gesetzliche Vertreter des Betroffenen einwilligen, sondern das gesamte Forschungsvorhaben einschließlich der Risiko- und Belastungsschwellen wird vorher – wie immer bei klinischen Prüfungen – von einer unabhängigen Ethik-Kommission geprüft.
Kurz: Es besteht ein ethisches Dilemma zwischen dem Schutz Nichteinwilligungsfähiger als Forschungsteilnehmer und als zukünftige Patienten. Der Gesetzentwurf löst dieses Dilemma mit so strengen Voraussetzungen auf, dass man redlicher Weise nicht von einer entwürdigenden Instrumentalisierung sprechen kann.
Den Betroffenen wird etwas zugemutet, aber für einen ihnen nahestehenden Zweck, auf der Basis einer eigenen Vorentscheidung und mit minimalen Risiken und Belastungen. Auch darüber kann man noch streiten. Aber der Streit sollte dann auch so präzise geführt werden und nicht mit pauschalen Großformeln.
Der Autor Prof. Dr. Sebastian Graf von Kielmansegg ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Medizinrecht und Direktor des Instituts für Öffentliches Wirtschaftsrecht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Prof. Dr. Sebastian Graf von Kielmansegg, Arzneimittelforschung an Nichteinwilligungsfähigen: Eine Frage der Ethik . In: Legal Tribune Online, 31.10.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21010/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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