Wer arbeitsunfähig ist, muss nicht arbeiten. Dabei gilt rechtlich das Prinzip "ganz oder gar nicht", eine teilweise Arbeitsunfähigkeit kennt das Arbeitsrecht nicht. Die Bundesärztekammer ist nun offen für eine Reform, weiß Michael Fuhlrott.
Der Krankenstand in Deutschland ist hoch, er erreicht derzeit Rekordwerte: Nach aktuellen Angaben der Techniker-Krankenkasse von Ende Oktober 2024 war in den ersten drei Quartalen des aktuellen Jahres jeder Erwerbstätige durchschnittlich an 14,13 Tage krankgeschrieben. Das übersteigt die Werte des Vorjahres abermals, vor der Coronapandemie im Jahr 2019 lag der Wert etwa bei 11,4 Tagen. Für Unternehmen stellen hohe Krankenstände in verschiedener Hinsicht eine besondere Herausforderung dar.
Zum einen muss der erkrankte Arbeitnehmer vertreten werden, dessen Aufgaben auf andere Kollegen umverteilt werden oder liegenbleiben. Zum anderen muss der Arbeitgeber nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) ab dem ersten Tag der Krankheit den Lohn des erkrankten Mitarbeiters in ungekürzter Höhe bis zu sechs Wochen weiterzahlen. Erst ab sechs Wochen springt die Krankenkasse ein, der weiterhin erkrankte Mitarbeiter erhält dann ein im Vergleich zur Lohnfortzahlung gekürztes Krankengeld. Mit dieser für Beschäftigte durchaus großzügigen Regelung steht Deutschland im internationalen Vergleich recht isoliert da.
Attest per Telefon und geänderte Rechtsprechung
Kritiker der aktuellen Gesetzeslage weisen daher auch auf die Missbrauchsgefahr der aktuellen Regelungen hin, die durch die Möglichkeit der Krankschreibung per telefonischer Befundung durch Ärzte sogar noch gesteigert worden sei. Denn – ebenfalls als Folge von Corona – ist seitdem die Krankschreibung dauerhaft auch per Telefon möglich, der erkrankte Arbeitnehmer muss für das Attest nicht mehr den Weg zur Praxis antreten. So regelt es die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL) in § 5, 5a AU-RL, die die "Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (…) nach telefonischer Anamnese" zulässt. Teile der Politik und Arbeitgebervertreter laufen hiergegen Sturm und plädieren für die Streichung, die Ärzteschaft hält mit Blick auf die anstehende Erkältungssaison dagegen.
Krankschreibungen beschäftigten ebenfalls die Arbeitsgerichtsbarkeit zunehmend: Zwar hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 2021 (Urt. v. 8.9.2021, Az.: 5 AZR 149/21) und durch weitere Ausprägungen dieser Rechtsprechung in den Folgejahren (s. zuletzt BAG, Urt. v. 13.12.2023, Az. 5 AZR 137/23) den Beweiswert ärztlicher Atteste reduziert und sieht im Rahmen einer Gesamtwürdigung bei Anhaltspunkten von Missbrauch die Aussagekraft der Krankschreibung als erschüttert an – der Krankenstand steigt ungeachtet dessen.
Neuer Vorstoß: Teil-Arbeitsunfähigkeit
Als weitere Reformidee steht nun eine Idee der Bundesärztekammer im Raum. Dessen Präsident Klaus Reinhardt hat nach dpa-Meldungen "Teilzeit-Krankschreibungen" ins Spiel gebracht. "Die Arbeitswelt hat sich in den letzten Jahren sehr stark verändert, insbesondere durch die Digitalisierung und die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten“, so der Ärztepräsident, der eine praktikable Handhabe bei Krankschreibungen angesichts Veränderungen in der Arbeitswelt wie mobilem Arbeiten einfordert und dabei auf Wiedereingliederungsprogramme nach langen Krankheitsphasen hinweist.
Die Reaktion der Gewerkschaftsseite ließ nicht lange auf sich warten. Als "schlicht absurd" bezeichnet der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) die Überlegungen des Bundesärztekammerpräsidenten und weist auf die Risiken verschleppter Erkrankungen hin. Und: Bereits heute gingen viele Arbeitnehmer erkrankt zur Arbeit, weil sie sich aufgrund des Drucks in den Unternehmen nicht trauten, krank zuhause zu bleiben.
Was sagt das Arbeitsrecht?
Derzeit haben die Gewerkschaften das Arbeitsrecht auf ihrer Seite. Zwar ist das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit durch den Arzt je nach ausgeübter Tätigkeit des Arbeitnehmers einzelfallbezogen zu bestimmen. So führt ein verstauchter Fuß beim Briefträger zur Arbeitsunfähigkeit, bei der Callcenter-Agentin im Homeoffice hingegen nicht unbedingt. Es gilt also ein individueller Maßstab der Arbeitsunfähigkeit ausgehend von der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung.
Gleichwohl gibt es keine Teilarbeitsunfähigkeit, wie das BAG wiederholt festgestellt hat (u.a. Urt. 2.11.2016, Az. 10 AZR 596/15, Rn. 31). Entweder ist der Beschäftigte also in der Lage, seine komplette Arbeitstätigkeit auszuüben oder eben nicht. Im ersteren Falle ist er komplett arbeitsfähig, im zweiten Falle gänzlich arbeitsunfähig. Ein Arbeitnehmer, der einen kleinen Ausschnitt seiner arbeitsvertraglichen Tätigkeiten nicht ausüben kann, ist damit arbeitsunfähig. Der Arbeitgeber muss ihm für sechs Wochen seinen Lohn zahlen, anschließend übernimmt die Krankenkasse.
Das gilt auch für Arbeitnehmer, die nach einem Arztbesuch mit einem Attest zu ihrem Arbeitgeber kommen, das ihnen bestimmte Tätigkeiten untersagt oder etwa eine Arbeit nur aus dem Homeoffice heraus gesundheitlich erlaubt. Zwar muss der Arbeitgeber im Rahmen seines Direktionsrechts und der allgemeinen Rücksichtnahmepflicht schauen, ob ein anderer Einsatz ausnahmsweise möglich ist. Einen neuen Arbeitsplatz muss der Arbeitgeber aber nicht schaffen.
Teilarbeitsfähigkeit in anderen Bereichen
Die Reformidee der Bundesärztekammer wäre also insoweit – jedenfalls zu Teilen – arbeitsrechtliches Neuland. Allerdings gibt es auch derzeit schon "teilweise" Krankschreibungen: Im Rahmen einer zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer einverständlich vereinbarten Wiedereingliederung (sog. Hamburger Modell) nach § 74 Sozialgesetzbuch (SGB) V kann bereits derzeit nach einer längeren Krankheitsphase eine stufenweise zeitlich gestaffelte Wiedereingliederung in das Arbeitsleben erfolgen. Bei Schwangeren gibt es ähnliches: So können individuelle Beschäftigungsverbote etwa darauf erstreckt werden und nur die Ableistung einer bestimmten Anzahl von Stunden am Tag erlauben.
Rechtstechnisch wären neben der zeitlichen Begrenzung natürlich auch inhaltliche Beschränkungen möglich. So könnte die Arbeitsunfähigkeit etwa auf bestimmte Aufgaben bezogen werden ("kein Außendienst" oder "nur Homeoffice"). Ob dies sinnvoll und praktisch handhabbar wäre, kann aber bezweifelt werden. Es würde vom jeweiligen Arzt voraussetzen, eine genaue Prüfung der Beschäftigungsbedingungen des Arbeitnehmers vorzunehmen. Zwar sind Ärzte bereits jetzt in der Pflicht, die Krankschreibung anhand des jeweiligen Tätigkeitsbildes vorzunehmen. Wer aber selbst einmal beim Arzt war, mag sich fragen, wie detailliert der Arzt sich überhaupt nach der eigenen beruflichen Tätigkeit und dem Aufgabenspektrum erkundigt hat, bevor er eine Krankschreibung erhielt.
Aus Sicht des Verfassers ist damit die "Teilzeit-AU" zwar eine Überlegung, die in die richtige Richtung geht. Neben einem verantwortungsvolleren Umgang bei ärztlichen Krankschreibungen wäre aber vielleicht eher an anderen Ursachen anzusetzen: Stärkung der betrieblichen Gesundheitsprävention einerseits und andererseits womöglich Reformüberlegungen zu einer moderaten Kürzung der arbeitgeberseitigen Lohnfortzahlung in den ersten Krankheitstagen.
Mit Material von dpa
Der Autor Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei Fuhlrott Arbeitsrecht in Hamburg.
Reformidee der Bundesärztekammer: . In: Legal Tribune Online, 01.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55768 (abgerufen am: 07.12.2024 )
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