Von der elektronischen Zeiterfassung bis zur steuerfreien Mehrarbeit: Der Koalitionsvertrag bringt neue Impulse für das Arbeitsrecht. Was auf Arbeitgeber, Beschäftigte und Juristen jetzt zukommt, erklärt Marijke van der Most.
Der Koalitionsvertrag 2025 bringt zahlreiche Impulse für das Arbeitsrecht – von Wochenarbeitszeit bis Tariftreue, von Zeiterfassung bis steuerfreie Überstunden. Während einige Vorhaben bestehende Unsicherheiten beseitigen sollen, etwa bei der Arbeitszeiterfassung, werden an anderer Stelle, wie etwa beim Mindestlohn, neue Akzente gesetzt.
Hinter Schlagworten wie Bürokratieabbau und Digitalisierung finden sich sowohl bereits erprobte Ansätze – wie die digitale Betriebsratsarbeit – als auch längst überfällige Schritte, etwa die Reduzierung gesetzlicher Schriftformerfordernisse. Nicht alle Erwartungen wurden erfüllt, manche lang diskutierten Forderungen blieben außen vor. Und um einige Punkte wird weiter hart gerungen. Der Koalitionsvertrag skizziert ein arbeitsrechtliches Kompromissprogramm mit vielen offenen Details:
Wochenmodell statt täglicher Höchstarbeitszeit
Der Koalitionsvertrag 2025 sieht vor, die tägliche Höchstarbeitszeit zugunsten einer wöchentlichen Betrachtung zu flexibilisieren, im Einklang mit der EU-Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG. Das bedeutet, dass die bisherige Begrenzung von acht bzw. zehn Stunden pro Tag (§ 3 Arbeitszeitgesetz, ArbZG) durch eine Wochenarbeitszeit von maximal 48 Stunden ersetzt werden könnte.
Arbeitgeber begrüßen diese Flexibilisierung, da sie eine bessere Anpassung an betriebliche Erfordernisse ermöglicht. Gewerkschaften hingegen warnen vor möglichen Gesundheitsrisiken durch längere tägliche Arbeitszeiten und fordern klare Schutzmechanismen. Die Koalition plant, die konkrete Ausgestaltung im Dialog mit den Sozialpartnern zu entwickeln, wobei der Gesundheitsschutz und die Einhaltung von Ruhezeiten weiterhin gewährleistet sein sollen.
Digitale Erfassung der Arbeitszeit
Wenig überraschend ist, dass der Koalitionsvertrag auch das Thema Arbeitszeiterfassung aufgreift. Die Pflicht zur Einführung eines "objektiven, verlässlichen und zugänglichen" Systems zur Erfassung der täglich geleisteten Arbeitszeit, also jeder Arbeitsstunde, hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits 2019 festgestellt (Urt. v. 14.05.2019, Az. C-55/18). Seither warten Unternehmen auf eine gesetzliche Umsetzung, schließlich sieht das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) in § 16 Abs. 2 bislang nur eine Dokumentationspflicht für Mehrarbeit vor.
Zwar hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) später ausdrücklich festgestellt, dass sich die vom EuGH geforderte umfassende Erfassungspflicht bereits aus einer unionskonformen Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) ergibt (Urt. v. 13.09.2022, Az. 1 ABR 22/21). Arbeitgeber waren also schon immer zur Erfassung von Lage, Beginn, Dauer und Ende der Arbeitszeit verpflichtet. Der gleichwohl weiter bestehenden Rechtsunsicherheit, wie diese Pflichten zu erfüllen sind und welche Personen und Konstellationen sie überhaupt umfassen, soll nun aber endlich ein Ende gesetzt werden.
Ein deutliches Zeichen für mehr Flexibilisierung ist die angekündigte Möglichkeit, Vertrauensarbeitszeit ohne Erfassung beizubehalten. Ob dies für Unternehmen der neue Ausweg aus der generellen Erfassungspflicht wird, kann nur die genaue gesetzliche Ausgestaltung zeigen, die "im Einklang mit der EU-Arbeitszeitrichtlinie" erfolgen soll.
Ursprünglich diskutierte Aspekte wie die freie Wahl des Erfassungssystems und die ausdrückliche Möglichkeit, die Erfassungspflichten auf Dritte zu delegieren, haben es zwar nicht in den Koalitionsvertrag geschafft. Die nunmehr angekündigte elektronische Form schafft aber immerhin mehr Transparenz. Sie bedeutet aber auch erheblichen Umstellungsaufwand – besonders für kleinere Unternehmen, für die aber Übergangsfristen geplant sind.
Mindestlohn von 15 Euro bis 2026 "erreichbar"
Im Koalitionsvertrag bekennen sich SPD und CDU/CSU zum gesetzlichen Mindestlohn von 15 Euro bis 2026. Die unabhängige Mindestlohnkommission soll sich künftig neben der Tarifentwicklung auch am Ziel "60 Prozent des mittleren Lohns (Median) von Vollzeitbeschäftigten" orientieren. Das mutet ein wenig seltsam an, wie Prof. Dr. Gregor Thüsing auf LTO konstatierte. Gerade diese 60 Prozent-Grenze entstamme nämlich der europäischen Mindestlohnrichtlinie, die kürzlich noch der EuGH-Generalanwalt für europarechtswidrig gehalten hat.
Im Ergebnis sei so jedenfalls ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 "erreichbar". Schon innerhalb der Koalition ist die Bewertung allerdings uneinheitlich: Die SPD verzeichnet die Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro als klaren Sieg. CDU-Chef und Kanzlerkandidat Friedrich Merz bremst im Interview mit der Bild am Sonntag ein – die Entscheidung über die Höhe des Mindestlohns liege weiterhin bei der Mindestlohnkommission, ein gesetzlicher Automatismus sei nicht verabredet worden. Das Ziel sei erreichbar, aber nicht garantiert.
Auch Arbeitgeber pochen auf Kommissionsautonomie und warnen vor politischem Druck: Rainer Dulger, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) nennt staatliche Eingriffe “brandgefährlich”. Branchenvertreter fürchten “unabsehbare Konsequenzen” aufgrund höherer Lohnkosten. Gewerkschaften dagegen hatten einen Mindestlohn in Höhe von 15 Euro zuvor selbst gefordert und begrüßen die Pläne daher.
Tariftreue und Gewerkschaftsrechte
Zudem plant die Koalition ein Bundestariftreuegesetz, das öffentliche Aufträge des Bundes ab einem Auftragswert von 50.000 Euro – bei Start-ups mit "innovativen Leistungen" in den ersten vier Jahren nach Gründung ab 100.000 Euro – an die Einhaltung tarifvertraglicher Arbeitsbedingungen knüpft. Unternehmen müssten künftig nachweislich Löhne mindestens auf Branchentarifniveau zahlen. Ziel ist eine Stärkung der Tarifbindung und mehr Fairness im Wettbewerb.
Ein ähnlicher Gesetzentwurf scheiterte 2024 in der Ampelregierung am Veto der FDP. Im Koalitionsvertrag setzte sich jetzt die SPD nun auch mit deutlich niedrigeren als von der CDU geforderten Schwellenwerten durch. Gewerkschaften unterstützen das Vorhaben und sehen darin ein zentrales Mittel gegen Lohndumping. Unternehmensverbände kritisieren hingegen die erwarteten Belastungen für Mittelstand und Verwaltung.
Auch sonst trägt der Koalitionsvertrag in diesem Bereich eine deutliche sozialdemokratische Handschrift: Gewerkschaften sollen ein digitales Zugangsrecht zu Betrieben erhalten – etwas, das das BAG noch vor wenigen Wochen klar verneint hat (Urt. v. 28.01.2025, Az. 1 AZR 33/24). Ferner sollen Gewerkschaften durch steuerliche Anreize für Mitglieder attraktiver werden.
Mehr leisten, mehr behalten: Steuerfreie Überstunden
Der Koalitionsvertrag sieht außerdem vor, Zuschläge für Mehrarbeit steuerfrei zu stellen, sofern sie über die tariflich vereinbarte oder an Tarifverträge orientierte Vollzeit (34 bzw. ohne Tarif 40 Wochenstunden) hinaus geleistet wird. Arbeitgeberverbände begrüßen diese Maßnahme als Anreiz, um den Fachkräftemangel durch mehr Überstunden vorhandener Vollzeitkräfte abzufedern.
Gewerkschaften kritisieren dagegen eine einseitige Begünstigung von Vollzeitbeschäftigten. Teilzeitkräfte – zumeist Frauen – würden ausgeschlossen und strukturell benachteiligt. Es werden verfassungs- und gleichstellungsrechtliche Bedenken laut, da diese Ungleichbehandlung nach Beschäftigungsumfang als Verstoß gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 GG) und als mittelbare Diskriminierung von Frauen gewertet werden könnte.
Weniger Bürokratie – mehr Digitalisierung
Die neue Koalition setzt auch auf einen spürbaren Abbau arbeitsrechtlicher Bürokratie und auf die Anpassung an die digitale Realität. Geplant ist insbesondere die Reduzierung gesetzlicher Schriftformerfordernisse – etwa bei Befristungen nach § 14 Abs. 4 Teilzeitbefristungsgesetz (TzBfG).
Auch das Statusfeststellungsverfahren soll reformiert werden: schneller, rechtssicherer und mit Genehmigungsfiktion, um langwierige Verfahren zu verkürzen und Scheinselbstständigkeit klarer abzugrenzen. Die Einführung einer "Work-and-Stay-Agentur" soll darüber hinaus die Fachkräfteeinwanderung digital bündeln und beschleunigen.
Zudem will die Regierung an der Möglichkeit zur telefonischen Krankschreibung festhalten – allerdings unter klaren Missbrauchsschutzmechanismen; private Online-Plattformen sollen ausgeschlossen werden. Dieser Kurs ist durchaus positiv zu werten – unter der Maßgabe, dass neue Formen auch rechtssicher und praktikabel ausgestaltet werden.
Die Digitalisierung kommt auch bei der Betriebsratsarbeit an: Online-Betriebsratssitzungen und Online-Betriebsversammlungen sollen als gleichwertige Alternativen zu Präsenzformaten in das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) aufgenommen werden. Das gab es auch schon während der Corona-Pandemie. Betriebsratswahlen sollen online möglich werden. Ein Vorhaben, das sich bereits die Ampel vorgenommen hatte, aber letztlich nicht umsetzte.
Zwischen Kompromiss und Verzicht: Was auf der Strecke blieb
Andere Forderungen, die zuvor in Sondierungen und Parteiprogrammen – insbesondere der SPD – deutlich adressiert worden waren, fehlen hingegen im Koalitionsvertrag:
Im Bereich des Schutzes betrieblicher Mitbestimmung verzichtet der Koalitionsvertrag auf zentrale Maßnahmen zur Bekämpfung von sog. Union-Busting, also der systematischen Blockade und Sabotage von Betriebsräten. So wurde weder die bislang nur auf Antrag verfolgte Behinderung von Betriebsratsarbeit (§ 119 BetrVG) zum Offizialdelikt erhoben, noch der besondere Kündigungsschutz für Initiatoren von Betriebsratswahlen auf außerordentliche Kündigungen ausgeweitet. Aus der Sicht von Arbeitnehmervertretern bleiben damit bestehende Schutzlücken bestehen, die es Arbeitgebern faktisch erleichtern, betriebliche Interessenvertretung zu unterbinden oder zu erschweren.
Auch die vielfach geforderte Abschaffung der sachgrundlosen Befristung wurde nicht umgesetzt. Sie bleibt als arbeitsrechtliches Flexibilisierungsinstrument erhalten – was von Arbeitgeberseite begrüßt, von Arbeitnehmervertretungen jedoch als strukturelle Ursache für Unsicherheit und mangelnde Planbarkeit kritisiert wird.
Das ursprünglich diskutierte arbeitsrechtliche Verbandsklagerecht für Gewerkschaften hat ebenfalls keinen Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden.
Was der Koalitionsvertrag bislang bietet, ist ein rechtspolitischer Fahrplan – doch wie konkret, effektiv und praxistauglich die arbeitsrechtlichen Reformen am Ende ausfallen, wird erst die Umsetzung zeigen. Die Richtung ist gesetzt, doch über Tempo und Zielgenauigkeit ist noch lange nicht entschieden.
Marijke van der Most ist Partnerin im Arbeitsrecht bei Addleshaw Goddard in Frankfurt. Ihre Schwerpunkte sind komplexe Restrukturierungen, Compliance-Fragen, der Einsatz von Drittpersonal und interne Untersuchungen.
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Koalitionsvertrag zu Arbeitszeit, Mindestlohn und Tariftreue: . In: Legal Tribune Online, 14.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56999 (abgerufen am: 25.04.2025 )
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