Der Bundestag wird am Donnerstag endlich seine Antisemitismus-Resolution verabschieden. Eine Tagung in Berlin überlegte aber schon weiter: Sollte der Kampf gegen Antisemitismus auch im Grundgesetz verankert werden? Christian Rath war dabei.
Eigentlich sollte die Antisemitismus-Resolution des Bundestags ja schon zum Jahrestag des Hamas-Terrorangriffs am 7. Oktober beschlossen werden. Doch dann dauerten die Verhandlungen länger und die Resolution wird erst am 7. November verabschiedet, gerade noch rechtzeitig vor dem Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November.
So geriet eine Tagung ins Getümmel, die eigentlich ruhig über die nächsten Schritte nachdenken wollte. "Verfassungsänderungen für Antisemitismusbekämpfung und Staatsräson?" war das Thema. Veranstalter war neben der Konrad-Adenauer-Stiftung das Tikvah-Institut zur Eindämmung des Antisemitismus, gegründet 2020 u. a. vom Ex-Grünen MdB Volker Beck, der auch Geschäftsführer ist.
Der Gedanke an Verfassungsänderungen liegt nahe, seit Anfang 2024 das Bundesverwaltungsgericht sein BDS-Urteil verkündete. Danach verstieß ein Raumverbot der Stadt München für alle Veranstaltungen im Zusammenhang mit der Israel-Boykottbewegung BDS gegen die Meinungsfreiheit.
Zwar wird der Bundestag auch in der kommenden Resolution seine Aufforderung bekräftigen, dass der Staat die BDS-Bewegung in keiner Weise unterstützen dürfe. Außerdem wird gefordert, dass bei der Kulturförderung keine antisemitischen Werke bezuschusst werden. Wie aber neue Gerichtsurteile vermieden werden können, blieb offen. In der Resolution heißt es nur, entsprechende Haushaltsregeln sollten "rechtssicher" formuliert werden – was immer das bedeutet.
Eine Möglichkeit, "falsche Verwaltungsgerichtsentscheidungen" (so die Wortwahl von Volker Beck) zu vermeiden, wäre eine Änderung des Grundgesetzes (GG). Bei der Berliner Tagung wurden drei Vorschläge vorgestellt.
Drei Ansätze zur Grundgesetzänderung
Ein Vorschlag stammte von Dr. Ludwig Spaenle (CSU), dem langjährigen bayerischen Kultusminister, der seit 2018 bayerischer Antisemitismus-Beauftragter ist. Er stellte den Vorschlag mit der Juristin Susanne Krause-Hinrichs von der Stiftung für Toleranz und Völkerverständigung vor. Sie wollen "den Kampf gegen Antisemitismus und die Förderung jüdischen Lebens" als Staatsziele im Grundgesetz verankern. Einen konkreten GG-Artikel nannten sie hierfür nicht.
Ebenfalls ein Staatsziel schlug der Rechtsanwalt Dr. Matthias von Kaler vor, der Lehrbeauftragter der TU Clausthal ist. In einem weiteren Absatz von Art. 25 GG (Völkerrecht) soll der deutsche Staat verpflichtet werden, die "Sicherheit des Staates Israel" zu schützen. Die komplizierte Formulierung lehnt sich an den Wortlaut von Art. 20a GG zum Staatsziel Umweltschutz an. Hier würde quasi die politische "Staatsräson", die die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) 2008 verkündet hatte, zum verfassungsrechtlichen Staatsziel.
Von Kaler geht davon aus, dass ein derartiges Staatsziel staatliche Eingriffe und Ungleichbehandlungen legitimieren kann. Es könne Versammlungsverbote, Äußerungsverbote und Vereinsverbote sowie die Abschiebung von antisemitischen Ausländern rechtfertigen. Das Staatsziel könne Ausfuhrgenehmigungen für Waffen nach Israel erleichtern, die deutsche Außenpolitik gegenüber den "Feinden Israels" orientieren und das deutsche Abstimmungsverhalten auf UN-Ebene bestimmen.
Dr. Angelika Günzel, eine ehemalige Rechtsprofessorin, die jetzt für eine Bundesbehörde im Bereich der Bundeswehr arbeitet, schlug die Einführung einer weiteren Schranke in Art. 5 Abs. 2 GG vor. Neben den allgemeinen Gesetzen, dem Jugendschutz und der Ehre könne dort auch die Bekämpfung des Antisemitismus erwähnt werden, so ihre "Erwägung". Auch in Art. 8 GG zur Versammlungsfreiheit könne die neue Schranke eingebaut werden.
Kritik an allen Vorschlägen
In der offenen Diskussion gab es Widerspruch zu allen Vorschlägen. Die Staatsziele seien zu schwach, argumentierte Günzel. In der Abwägung mit den besonders starken, weil demokratienahen Grundrechten müssten sie wohl in der Regel zurückstehen. Solche Staatsziele hätten dann allenfalls symbolische Wirkung. Der Potsdamer Rechtsprofessor Norbert Janz fand aber auch eine symbolische Verfassungsänderung "nicht verkehrt", weil sie die politische Diskussion anrege.
Gegen die Einschränkung der Grundrechte durch eine neue Schranke argumentierte vor allem der Berliner Rechtsprofessor Alexander Thiele. Wohl mit Blick auf die umstrittene Frage, ob mit "Antisemitismus" auch der israelbezogene Antisemitismus gemeint ist, warnte Thiele. "Am Ende entscheidet das Bundesverfassungsgericht, was Antisemitismus ist". Das müsse aber eine politische Entscheidung bleiben. Dagegen glaubt Christoph Schuch, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Berliner Humboldt-Uni, dass das BVerfG bei Berücksichtigung eines Staatszieles durchaus ohne konkrete Antisemitismus-Definition auskommen könne.
Günzel stellte ihre Erwägung auch selbst infrage. "Ich möchte kein Sonderrecht für Juden. Das hat sich selten positiv ausgewirkt". Andererseits sei es schwer, ihren Ansatz zu verallgemeinern.
Am eindeutigsten war die Ablehnung für den Vorschlag, den Schutz der Sicherheit Israels als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. Das Bundesverfassungsgericht werde den außenpolitischen Spielraum der Bundesregierung wohl kaum so einschränken, dass es im Konfliktfall das deutsche Abstimmungsverhalten auf UN-Ebene vorgibt. Da waren sich Janz, Thiele und Günzel einig.
Nur Beck begrüßte den Vorschlag, weil er verhindere, dass Verwaltungsgerichte bei der Entscheidung über Ausfuhrgenehmigungen selbst Außenpolitik machen. Eine Grundgesetzänderung sichere damit die Prärogative der Bundesregierung zugunsten Israels.
Wie viel "Nie wieder" ist schon im Grundgesetz?
Udo Di Fabio, Ex-Verfassungsrichter und Bonner Rechtsprofessor, machte deutlich, dass sich die Ablehnung des Antisemitismus auch ohne explizite Grundgesetzänderung der Verfassung entnehmen lasse. Er verwies insbesondere auf das Wunsiedel-Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2009. Das Gericht hatte damals die neue Vorschrift des § 130 Abs. 4 Strafgesetzbuch (StGB) geprüft, mit der die Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung der NS-Herrschaft als Volksverhetzung unter Strafe gestellt wurde. Dies sei zwar kein allgemeines Gesetz im Sinne der Schranke von Art. 5 Abs. 2 GG, so das BVerfG damals, dennoch sei die Norm verfassungskonform, weil die Bundesrepublik ein "Gegenentwurf" zum Nationalsozialismus sei. Di Fabio sagte, dem Grundgesetz sei ein "anti-nationalsozialistisches Telos" unterlegt worden. Di Fabio nannte die damalige Argumentation zwar "schwierig", aber sie sei weithin akzeptiert worden. Und dann sei damit auch die Ablehnung des Antisemitismus mitgemeint.
Für Di Fabio bedeutet Antisemitismus immer auch eine "Feindschaft zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung". Denn: "Antisemitismus ist mehr als Judenfeindschaft", er sei vielmehr ein Welterklärungssystem, das durch seine Fixierung auf das angebliche jüdische Streben nach Weltherrschaft stets Rationalität, Pluralismus und Aufklärung ablehne. Der Antisemitismus sei, so Di Fabio, eine "Ideologie gegen die westliche liberale Demokratie".
Deshalb sei es auch ohne Grundgesetzänderung möglich, antisemitische Kundgebungen generell zu verbieten, argumentierte der Ex-Verfassungsrichter. Auch Förderrichtlinien, die Zuschüsse für antisemitische Inhalte ausschließen, seien heute schon möglich.
Janz, der eine Grundgesetzänderung befürwortet, fand Di Fabios Herleitung aber zu kompliziert, "nicht direkt" genug, "da muss man zu viel erklären".
Das Beispiel der Bundesländer
In den vergangenen Jahren haben bereits vier Bundesländer in ihren Landesverfassungen (LV) den Kampf gegen Antisemitismus verankert, wie Schuch erläuterte. Sachsen-Anhalt machte 2020 den Anfang (Art. 37a LV), es folgten 2022 Brandenburg (Art. 7a LV) und jeweils 2023 Bremen (Art. 65 Abs. 1a LV) und Hamburg (Präambel). Mecklenburg-Vorpommern (Art. 18a LV) steht kurz vor einer entsprechenden Verfassungsänderung.
Dabei hatte jedes Bundesland einen anderen systematischen Standort und andere Formulierungen gewählt. So wurde etwa in Brandenburg neben dem Antisemitismus auch der Antiziganismus erwähnt. Gemeinsam sei allen Bestimmungen jedoch, so Schuch, dass es sich um Staatsziele handelt.
Um herauszufinden, was die Staatszielbestimmungen bewirkt hatten, wurden die Brandenburger Ex-Justizministerin Barbara Richstein (CDU) und der Hamburger Bürgerschafts-Abgeordnete Olaf Steinbiß (SPD) befragt. Außer der Einführung eines Antisemitismusbeauftragten in Brandenburg blieb es aber bei der symbolischen Wirkung als Signal, auch an die jüdischen Gemeinden vor Ort.
Beck hielt die Länderregelungen auch durchaus für zweifelhaft, weil hier Antisemitismus nur als eine Unterform der Gruppenfeindlichkeit gesehen werde. Hier werde der staatszersetzende "Welterklärungscharakter" des Antisemitismus nicht deutlich, bei dem die Regierung nur Marionette von dahinterstehenden Mächten sei.
Gäbe es eine Zwei-Drittel-Mehrheit?
Da für eine Grundgesetzänderung eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich ist, waren auch Abgeordnete der Parteien eingeladen, die gemeinsam die Antisemitismus-Resolution vorbereitet hatten, also die Ampel-Fraktionen und die CDU/CSU.
Johannes Fechner (SPD) zeigte sich "offen" für eine Diskussion über entsprechende Verfassungsänderungen. Die SPD legt aber den Schwerpunkt auf Änderungen des einfachen Rechts und will noch in dieser Wahlperiode eine Initiative zur Schließung von Lücken im Volksverhetzungsparagrafen (§ 130 StGB) anstoßen. So soll die bisherige Begrenzung auf den Schutz der inländischen Bevölkerung entfallen.
Thorsten Liebs (FDP) will ganzheitlich über alle Ebenen sprechen, von der Basisarbeit in der politischen Bildung über Gesetzesanwendung und Gesetzesänderungen bis hin zur Grundgesetzänderung. Er rief zugleich dazu auf, "mutig" zu sein und auszutesten, was das Bundesverfassungsgericht noch akzeptiert und was nicht.
Till Steffen (Grüne) erinnerte daran, dass die Grünen bereits einen Vorschlag gemacht hatten, Antisemitismus in Art. 3 Abs. 3 GG ausdrücklich zu erwähnen. "Wenn Antisemitismus nur als Diskriminierung wegen der Religion behandelt wird, ist auch das schon eine Form von Antisemitismus", sagte Steffen. Der Versuch, den Rasse-Begriff aus Art. 3 GG zu streichen, sei aber gescheitert, nachdem der Zentralrat der Juden signalisiert hatte, dass er eine Grundgesetzänderung wegen der Risiken einer möglichen Schutzverkürzung nicht unterstützt. Die Grünen seien aber weiterhin bereit, sich auf geeignete Grundgesetzänderungen zu einigen.
Nur Günter Krings (CDU) lehnte eine Grundgesetzänderung derzeit ab. Die CDU/CSU-Fraktion sei generell skeptisch gegenüber Verfassungsänderungen. Man solle das Grundgesetz nicht als "Ausweichforum" missbrauchen und sich lieber auf das einfache Recht konzentrieren. "Nur wo die Verfassung hindert, etwas im einfachen Recht zu ändern, sollten wir das Grundgesetz ändern", so Krings. Hierfür sehe er aber keine Notwendigkeit, da das BVerfG im NPD-Urteil 2017 den Antisemitismus als Verstoß gegen Menschenwürde und die freiheitliche demokratische Grundordnung benannt habe. Sollte eine Grundgesetzänderung doch erforderlich sein, wäre er für die Schranken-Lösung Günzels. Die Sicherheit Israels solle nicht im Grundgesetz erwähnt werden, so Krings, da dies den falschen Eindruck geben könnte, Deutschland gebe Israel eine "carte blanche". Es sei besser, die Sicherheit Israels weiterhin als Staatsräson zu behandeln, auf die man sich dann auch immer wieder neu verständigen müsse.
Gastgeber Beck resümierte: "Wir sind noch nicht soweit, dass wir etwas vorschlagen können". Er sei sich noch nicht sicher, ob man es wirklich machen sollte.
Tagung in Berlin: . In: Legal Tribune Online, 06.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55803 (abgerufen am: 09.12.2024 )
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