Nach dem Anschlag von Solingen und den jüngsten AfD-Wahlerfolgen verhandeln Regierung und Union über die Asylpolitik – vor allem über Zurückweisungen von Migranten an deutschen Grenzen. Das sorgt auch innerhalb der Ampel für Streit.
CDU-Chef Friedrich Merz erhöht in der Migrationsdebatte den Druck auf die Ampel-Regierung. Bis Dienstag fordert er konkrete Zusagen zu Zurückweisungen von Migranten an der deutschen Grenze. Für ihn ist dies die Grundlage für weitere Verhandlungen zwischen Union, Vertretern der Ampel-Koalition und der Länder.
Nach einer ersten Gesprächsrunde war vereinbart worden, zu klären, ob es möglich ist, Migranten zurückzuweisen, die bereits in einem anderen europäischen Land registriert sind. Nach der bisherigen Rechtsauffassung des Bundesinnenministeriums müssen Asylsuchende zunächst in eine Erstaufnahmeeinrichtung gebracht werden, wo dann geprüft wird, ob ein anderes europäisches Land für sie zuständig ist.
Allerdings: Inzwischen sind die Ampelparteien zunehmend auch untereinander beim Thema Migration zerstritten und verhärten ihre Positionen. Seitens der Grünen wurde Kritik an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) laut. So forderte der Europaabgeordnete und Migrationspolitiker Erik Marquardt vom Bundeskanzler in der aktuellen Debatte mehr Engagement: "Er muss aufpassen, dass er nicht den Eindruck erweckt, im Sekretariat von Friedrich Merz zu sitzen. Ich würde mir da Führung wünschen", erklärte der Parlamentarier in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.
Grüne Jugend fordert Abbruch der Verhandlungen
Marquardt sagte, Polen mache an der belarussischen Grenze genau das, was Merz an der deutsch-polnischen Grenze wolle. "Es führt nur nicht dazu, dass weniger Menschen kommen." Man müsse Migrationspolitik viel stärker europäisch diskutieren. Die Grünen-Parteivorsitzende Ricarda Lang sagte Politico, das "unseriöse Verhalten" von Merz zeige, dass es ihm nicht um ernsthafte Lösungen gehe.
Ähnlich äußerte sich die Grünen-Politikerin Luise Amtsberg. "Rechtswidrige Forderungen sind kein konstruktiver Beitrag zur Debatte", erklärte die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung der Süddeutschen Zeitung.
Die Grüne Jugend fordert unterdessen einen Abbruch der Gespräche mit der Union. "Nach den bisherigen Äußerungen gibt es aus unserer Sicht keinen Grund, diese Gespräche fortzusetzen", sagte Katharina Stolla, Co-Sprecherin der Jugendorganisation, dem Nachrichtenportal ZDFheute.de. Es sei von Anfang an abzusehen gewesen, dass die Union die Ampel-Koalition weiter nach rechts drängen wolle.
FDP: "Verweigerungshaltung der Grünen"
FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai kritisierte dagegen die Grünen scharf: "Die Grünen sollten sich selbst fragen, ob sie noch fähig dazu sind, den zentralen Herausforderungen des Landes als Regierungspartei entgegenzutreten", sagte er der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ferner warf er den Grünen eine "Verweigerungshaltung" in der Migrationspolitik vor.
Auch FDP-Parteichef Christian Lindner äußerte Besorgnis über die Haltung des Koalitionspartners. "Es ist bedauerlich, dass die Grünen sich bereits öffentlich gegen Zurückweisungen an den deutschen Grenzen ausgesprochen haben, obwohl noch Gespräche laufen", sagte er der ARD. Dies sei nicht hilfreich für die laufenden Verhandlungen mit den Ländern und der CDU-Opposition. Dennoch kritisierte Lindner die Forderungen von Friedrich Merz im Sender Welt TV. "Ich hätte mir bei den Ultimaten von Merz etwas mehr Demut gewünscht. Schließlich gibt es auch Vollzugsdefizite in von der CDU geführten Ländern wie Nordrhein-Westfalen."
Weniger Asylanträge, seit Oktober 2023 mehr als 30.000 Personen zurückgewiesen
Laut aktuellen Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge haben im Zeitraum Januar bis August 2024 insgesamt 174.369 Personen einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeute dies eine Abnahme um 21,7 Prozent, teilte die Behörde am Donnerstag mit.
Und tatsächlich finden auch Zurückweisungen an den deutschen Grenzen in gewissem Umfang bereits statt. Personen, die mit einer Einreisesperre belegt sind oder keinen Asylantrag stellen, können abgewiesen werden. Seit Oktober 2023 wurden laut Bundesinnenministerium mehr als 30.000 Personen an den deutschen Landgrenzen zurückgewiesen. Seit Mitte Oktober dieses Jahres gibt es verstärkte Grenzkontrollen zu Polen, Tschechien und der Schweiz, während an der deutsch-österreichischen Grenze seit 2015 Kontrollen durchgeführt werden. Auch an bestimmten Flughäfen wird das sogenannte Flughafenverfahren angewendet, bei dem Asylanträge innerhalb von maximal 19 Tagen im Transitbereich bearbeitet werden – noch bevor eine Einreise erfolgt.
Dennoch bleibt die deutsche Grenze trotz punktueller Kontrollen grundsätzlich offen. Dies ist aus wirtschaftlichen Gründen wichtig, wie die zeitweise verschärften Kontrollen während der Corona-Krise gezeigt haben. Daher ist es für Migranten, die an der Einreise gehindert wurden, prinzipiell möglich, an anderer Stelle ins Land zu gelangen. Es bleibt unklar, wie viele Zurückgewiesene dies tatsächlich tun.
Die Union fordert jedoch mehr: Sie drängt darauf, Menschen zurückzuweisen, die bereits in einem anderen EU-Mitgliedstaat oder im Schengen-Raum aufgenommen wurden oder die einen Asylantrag in einem anderen Staat stellen könnten. Die rechtliche Umsetzbarkeit dieser Forderung ist jedoch umstritten. Völkerrechtler Daniel Thym von der Universität Konstanz und andere Juristen vertreten die Auffassung, dass nach der Dublin-Verordnung Zurückweisungen nicht zulässig sind.
Könnte Deutschland eine "Notlage" nach dem AEUV ausrufen?
Allerdings könne sich Deutschland laut Thym auf eine Ausnahmeregel der EU-Verträge (Art. 72 AEUV) berufen und eine Notlage ausrufen – worauf auch die Union setzt. Ob das Notlagen-Argument aber letztlich auch gerichtsfest ist? Thym hat Zweifel: "Etwas anderes ist, ob das Argument der Notlage im konkreten Fall die Richterinnen und Richter überzeugt und ob darüber hinaus das deutsche Verhalten als verhältnismäßig eingestuft wird", erklärte der Völkerrechtler. "Eine definitive Rechtssicherheit kann Ihnen hier niemand geben." Das sei im Leben und dem Recht manchmal so. Die Politik müsse also im Bewusstsein entscheiden, dass die Rechtmäßigkeit nicht endgültig feststehe.
Die Unionsfraktion jedenfalls ist davon überzeugt, dass sich das Land in einer Ausnahmesituation befindet: "Die seit zwei Jahren andauernde Migrationskrise hat zu einer völligen Überlastung unserer Aufnahme- und Integrationskapazitäten geführt", sagte etwa Unionsfraktionsvize Andrea Lindholz (CSU) der dpa.
Der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus prognostiziert in der Rheinischen Post, dass Deutschland das rechtliche Risiko wohl dennoch nicht eingehen werde. "Das kann und wird die Bundesregierung nicht machen, denn das würde zu einem rechtlichen Chaos in Europa führen", sagte er. "Wenn man wegen dieser Situation jetzt das EU-Recht aushebelt, dann bricht das dem Rechtssystem in Europa das Genick, weit über dieses Thema hinaus."
Eine mögliche Konsequenz könnte sein, dass andere EU-Staaten die Zusammenarbeit aufkündigen und Migranten eher zur Weiterreise nach Deutschland ermutigen. Dies könnte auch den mühsam ausgehandelten Kompromiss zur europäischen Asylreform gefährden.
Thym hingegen hält auch einen anderen Ausgang für möglich. "In den Hauptstädten Europas ist inzwischen eine Mehrheit für teils drastische Verschärfungen", schreibt er im Spiegel. Die Regierungen in Nachbarländern beschwerten sich schon länger darüber, dass das deutsche Asylsystem als "Magnet" wirke. "Die Bundesregierung müsste also nicht befürchten, dass Bulgarien und Griechenland aus Verärgerung ihre Grenzzäune zur Türkei öffnen – mit der Folge, dass noch mehr Personen einreisen." Stattdessen würde Europa gemeinsamen auf einen stärkeren Kurs zur Begrenzung unerwünschter Migration einschwenken.
Was tut die Regierung grundsätzlich gegen irreguläre Migration?
In jüngster Vergangenheit hat die Ampel bereits diverse Maßnahmen ergriffen, um irreguläre Migration zu bekämpfen. Vor einigen Monaten beschloss der Bundestag Regelungen, die unter anderem eine Verlängerung des maximalen Abschiebegewahrsams vorsehen. Das kürzlich vorgestellte "Sicherheitspaket" reagiert auf den Anschlag von Solingen und umfasst Maßnahmen in drei Bereichen: eine strengere Rückführung abgelehnter Asylbewerber in ihre Herkunftsländer, entschiedenere Schritte gegen den islamistischen Terrorismus sowie Verschärfungen im Waffenrecht. Ebenfalls wurden vergangene Woche erstmals seit der Machtübernahme der Taliban vor drei Jahren afghanische Straftäter in ihr Herkunftsland abgeschoben.
Die Union kritisiert jedoch, dass das Paket zu spät ansetzt, nämlich erst, wenn die Migranten bereits in Deutschland sind.
dpa/xp/LTO-Redaktion
Zoff über Asylpolitik und die umstrittene "Notlage": . In: Legal Tribune Online, 06.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55354 (abgerufen am: 11.10.2024 )
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