Der Chef der Allianz fordert einen Karenztag. Danach sollen Beschäftigte den Lohnausfall für den ersten Tag einer Krankheit selbst tragen. Michael Fuhlrott erklärt im Interview die Rechtslage.
LTO: Der Allianz-Chef Oliver Bäte hat die Einführung eines Karenztages gefordert. Was steckt dahinter?
Prof. Dr. Michael Fuhlrott: Bäte verweist darauf, dass die Krankheitstage pro Beschäftigtem seit Jahren ansteigen. Das stimmt sogar, wenn man die Corona-Zeit außen vorlässt. Da die Arbeitgeber die Lohnfortzahlung ab dem ersten Arbeitstag zu tragen haben, haben sie schon häufiger gefordert, die Belastung für die Unternehmen durch die Ausfälle der Beschäftigten zu reduzieren. Denken Sie etwa an die Hausbesuche der Tesla-Manager, um die Arbeitsunfähigkeit der Beschäftigten zu kontrollieren, oder an die Idee von Teilzeit-Krankmeldungen. Noch im Dezember hatte der Mercedes-Chef Ola Källenius auf ZDF heute die telefonische Krankmeldung sogar grundsätzlich infrage gestellt mit dem Argument, es sei viel zu einfach, sich in Deutschland krankzumelden.
Und nun fordert der Chef der Allianz, Oliver Bäte, im Handelsblatt, dass die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nicht mehr ab dem ersten, sondern frühestens ab dem zweiten Krankheitstag Anwendung finden sollte.
Das Thema bewegt also seit einigen Monaten die Arbeitsrechtswelt.
Zu Recht?
Wenn man auf die Zusammenstellung der wichtigsten Gerichtsentscheidungen des vergangenen Jahres blickt, dann zählt die Rechtsprechung zum Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zweifellos zu den wichtigsten. Da hat sich schlichtweg gezeigt, dass vereinzelt Beschäftigte das System für ihren persönlichen Vorteil nutzen und sich eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellen lassen, ohne krank zu sein. Insoweit ist die arbeitgeberseitige Forderung durchaus verständlich.
Was genau fordert nun der Allianz-Chef?
Offenbar stellt er die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag in Frage. Schon ab dem ersten Krankheitstag übernimmt bisher der Arbeitgeber nach § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) die Lohnfortzahlung für bis zu sechs Wochen, erst danach tritt die Krankenkasse mit einem reduzierten Betrag ein.
Es könnte also um die Frage gehen, ob die Krankenkasse schon ab dem ersten Tag eintreten soll, oder ob es womöglich einen erzieherischen Effekt haben soll, also die Last von Ausfällen der Arbeitsleistung zwischen Beschäftigten und ihren Arbeitgebern aufgeteilt werden soll. Die Debatte könnte auch auf die einseitigste Variante abzielen: Sollen Krankgeschriebene weder vom Arbeitgeber noch vom Unternehmen eine Lohnfortzahlung erhalten?
Das würde für die Menschen, die längerfristig krank sind, kaum ins Gewicht fallen. Diejenigen aber, die immer wieder mal einen Tag fehlen, würden das im Portemonnaie schon spüren.
Wie einfach wäre die Änderung der bestehenden Rechtslage?
Der Gesetzgeber müsste lediglich in § 3 EFZG eine Ergänzung einfügen, was relativ einfach zu machen wäre. Die Formulierung könnte recht schlicht lauten, dass die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers erst ab dem zweiten Tag der nachgewiesenen Arbeitsunfähigkeit des Beschäftigten beginnt.
Abwegig wäre eine solche Änderung nicht: Die aktuelle Regelung der Lohnfortzahlung für sechs Wochen gibt es auch erst seit den 90er-Jahren. Sie geht zurück auf einen Erfolg der Gewerkschaften, die durch Streiks den Gesetzgeber schon im Jahr 1969 dazu brachten, den arbeitgeberseitigen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gesetzlich zu regeln. Dieser lag zunächst bei 100 Prozent, wurde unter der Kohl-Regierung auf 80 Prozent abgesenkt und erst 1999 durch die damalige rot-grüne Bundesregierung zu 100 Prozent wieder im Gesetz vorgesehen.* Damals war aber auch die Krankenquote noch eine andere als heute.
Halten Sie eine Änderung aus arbeitsrechtlicher Sicht für sinnvoll?
Die Frage ist natürlich, ob Menschen, die krank sind, sich dann zur Arbeit schleppen und womöglich noch andere anstecken. Oder ob es wirklich eine Art erzieherische Maßnahme wäre, da diejenigen, die wirklich blau machen und nicht krank sind, dies nicht mehr tun. Es könnte aber auch das Gegenteilige bewirken: Nämlich, dass “Blaumacher” sich nicht nur für ein paar Tage, sondern gleich längere Zeit krankschreiben lassen.
Vorstellbar wäre auch, den Lohnausfall am ersten Tag über eine private Zusatzversicherung abzudecken.
Das klingt, als könnte die Forderung ein Marketing-"Gag" des Allianz-Chefs sein?
Natürlich könnten private Versicherer so Geschäft machen. Aber das darf von der Problematik nicht ablenken: Das Problem besteht ja. Das zeigt auch die Vielzahl der Äußerungen der Unternehmenschefs und auch die Vielzahl der anhängigen Verfahren bei den Arbeitsgerichten zu dem Stichwort "Anzweifeln des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen". Das war aus meiner Sicht das Thema des vergangenen Jahres, es liegt also etwas im Argen, so dass die Rechtsprechung anfangen musste, die Auswüchse in Einzelfällen einzuschränken.
Ob der Karenztag das einzig richtige Mittel ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Dass aber für Unternehmen zunehmend ein Ungleichgewicht besteht, würde ich ohne Frage unterschreiben. Handlungsbedarf besteht damit also.
*Satz geändert am 07.01.25, 15.11h
Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei Fuhlrott Arbeitsrecht in Hamburg.
Interview zu Allianz-CEO fordert Karenztag: . In: Legal Tribune Online, 06.01.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56268 (abgerufen am: 20.01.2025 )
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