Ein Student prügelt seinen jüdischen Kommilitonen krankenhausreif. Das AG Tiergarten sieht darin eine gefährliche Körperverletzung aus antisemitischen Motiven – und spricht ein hartes Urteil. Dabei gehe es auch um Abschreckung.
Für den brutalen Angriff auf seinen damaligen Kommilitonen Lahav Shapira verurteilte das Amtsgericht Berlin-Tiergarten Mustafa A. wegen gefährlicher Körperverletzung zu drei Jahren Haft. Als der Vorsitzende Richter des Schöffengerichts, Sahin Sezer, dieses Urteil (v. 17.04.2025, Az. 264 Ls 1024/24) am Donnerstagnachmittag verkündete, hallte das nach. Damit ging das Gericht volle acht Monate über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinaus.
§ 224 Strafgesetzbuch (StGB) sieht sechs Monate bis zehn Jahre Freiheitsstrafe vor, ein Amtsgericht (AG) darf aber nur bis zu vier Jahre verhängen. Dass die vom AG Tiergarten verhängte Strafe dem durchaus nahekommt, hat auch mit der Heftigkeit der Tat – ein Faustschlag und ein kräftiger Tritt ins Gesicht – sowie den schwerwiegenden Folgen für Shapira zu tun. "Erheblich strafschärfend" wirkte sich aber das Tatmotiv aus: "Der Angeklagte hat aus antisemitischer Motivation heraus gehandelt", sagte Sezer. A. habe Shapira angegriffen, weil er Jude ist und sich auf dem Campus der Freien Universität (FU) Berlin, wo beide zur Tatzeit u.a. Geschichte auf Lehramt studierten, gegen Antisemitismus einsetze. "Wenn das kein Antisemitismus sein soll, was denn dann?", fragte Sezer.
Ein Streit zwischen Kommilitonen, hatte die Verteidigung versucht zu argumentieren. Es sei nur um Shapiras Umgang mit anderen propalästinensischen Kommilitonen als alleiniger Admin einer WhatsApp-Gruppe gegangen. Dass er in der inoffiziellen Studi-Gruppe mit 416 Teilnehmern immer wieder Nachrichten gelöscht und Mitglieder entfernt hatte, habe A. ebenso missfallen wie der Umstand, dass Shapira an der FU mehrere antizionistische Plakate abgerissen hatte. Darauf habe er Shapira angesprochen, nachdem er ihn am Freitagabend zufällig in einer Bar getroffen hatte. Die Verteidigungsstrategie, es sei A. nur um Meinungsfreiheit und den Umfang mit Kommilitonen gegangen, ging am Ende womöglich sogar nach hinten los.
Wie wahrscheinlich wäre die Alternativgeschichte? "Gar nicht mal so."
Diese Darstellung sei "vollkommen lebensfremd", sagte Sezer. Schon am ersten Verhandlungstag, dem 8. April, hatte der Vorsitzende auf die Einlassungen von A. zum Tathergang und -motiv trocken wie skeptisch gefragt: "Und deswegen haben Sie ihm eine reingehauen?"
Eine echte Antwort auf diese Frage hatte A. nicht – und genau dieser Mangel eines plausiblen "Ersatzmotivs" ließ für das Gericht nur den Schluss zu, dass A. aus Antisemitismus gehandelt haben muss. Die vielen kleinen Indizien ergäben insofern ein eindeutiges Bild. Das Gericht folgte damit der Ansicht der Staatsanwaltschaft sowie des als Nebenkläger auftretenden Shapira. Dessen Anwalt Sebastian Scharmer (dka Rechtsanwälte) hatte in seinem Plädoyer von einem Mosaik, Staatsanwalt Tim Kaufmann am ersten Verhandlungstag von einem Puzzle gesprochen.
"Ich glaube, Ihr Puzzle wird da unvollständig bleiben", sagte Verteidiger Ehssan Khazaeli (EKH Legal) in seinem Plädoyer – und ging sämtliche Indizien für möglichen Antisemitismus einzeln durch. Genau der falsche Ansatz, befand Richter Sezer in der Urteilsbegründung unter Verweis auf den Grundsatz "in dubio pro reo". Danach muss nämlich nicht jedes einzelne Indiz zweifelsfrei erwiesen sein, sondern es genügt, dass in Gesamtwürdigung aller Indizien kein begründeter Zweifel an einer schuld- oder rechtsfolgenrelevanten Tatsache besteht.
Sezer fragte insofern, wie wahrscheinlich denn die Alternativgeschichte wäre, dass die Tat keinen antisemitischen Hintergrund hätte. Zu dieser Geschichte gehörte dann, dass A. die in seiner Wohnung gefundenen Gegenstände – eine Halskette sowie ein Poster mit den allein palästinensisch markierten Umrissen des Gebiets Israel-Palästina – ablehne. Dass sie einem anderen Bewohner gehörten, obwohl das Poster im Flur hing und die Kette in A.s Zimmer lag. Dass A. die Positionen auf den Plakaten, deren Abreißen er kritisierte, und der Chatmitglieder, die bzw. deren Nachrichten Shapira aus der Gruppe entfernte, nicht teile. Dass Shapiras jüdische Identität für A. keine Rolle gespielt habe, obwohl ihm ein Freund, der Shapira nicht kannte, ein Video vom Tatort mit der Nachricht "musti hat den judenhurensohn totgeschlagen" auf Snapchat schickte.
Wie wahrscheinlich wäre das alles? "Gar nicht mal so", antwortete der Richter auf seine eigene Frage. Die vorzunehmende Gesamtschau aller Umstände überzeugten das Gericht vom antisemitischen Hintergrund. Ob es für die einzelnen Indizien jeweils andere Erklärungsansätze gebe, sei unerheblich.
Urheberschaft des Snapchat-Videos bleibt ungeklärt
Daher ging Sezer in seiner mündlichen Urteilsbegründung auch nicht näher auf einige tatsächliche Unklarheiten, insbesondere im Zusammenhang mit dem genannten Snapchat-Video, ein. Für das Gericht spielte am Ende keine Rolle, dass auch nach Anhörung eines Datenforensikers des Berliner Landeskriminalamts am Donnerstag die Urheberschaft des Videos und der Montage mit dem judenfeindlichen Spruch nicht geklärt werden konnte. Das Gericht hatte auf Antrag der Verteidigung zwei Freunde von A., die am Tatabend mit ihm in der Bar waren, als Zeugen geladen. Das sollte ergeben, dass die Videomontage, in der Shapira "judenhurensohn" genannt wird, nicht von A. stammt.
Dass A. selbst Urheber ist, behauptete aber weder Staatsanwalt Kaufmann noch Nebenklägervertreter Scharmer. In ihren Plädoyers spielte ebenso wie für das Gericht keine Rolle, wer das Video erstellt und es A. geschickt hatte. Sie wiesen stattdessen darauf hin, dass die beiden Freunde von A. mit der FU Berlin nichts zu tun hatten und der Ersteller des Videos die Info, dass Shapira Jude ist, nur von A. gehabt haben könne. "Die werden miteinander gesprochen haben", puzzelte sich Staatsanwalt Kaufmann aus den bekannten Informationen zusammen.
Dass der eine der beiden auf die Zeugenladung hin erschienen Freunde das Gegenteil bekundete, schadete A. am Ende womöglich mehr, als es ihm half. Das Gericht bewertete die Aussage als nicht glaubhaft – "ein glorreicher Auftritt", kommentierte Sezer das Ende der Vernehmung.
Welche Art von Antisemitismus?
Kein Problem sah das Gericht zudem darin, dass keine der von Shapira gelöschten WhatsApp-Nachrichten, die auch Verteidiger Khazaeli als "antisemitischen Mist" bezeichnet hatte, von A. stammte. Shapira-Anwalt Scharmer hatte insofern argumentiert, A. habe sich die Positionen zu eigen gemacht, indem er deren Löschung kritisiert hatte. In seinem Plädoyer nutzte er ein Beispiel, das er bereits in der Vorwoche gebildet hatte: Wer jemanden dafür kritisiert, dass der ein Hakenkreuz-Plakat abreißt, müsse nicht selbst ein Hakenkreuz verwenden, um rechtsradikal zu sein.
Während Kaufmann und Scharmer um Differenzierung der unterschiedlichen Arten von Antisemitismus bemüht waren, ging Richter Sezer darauf nicht näher ein. Kaufmann hatte argumentiert, der Kontext des Snapchat-Videos belege eine antijüdische Haltung, A.s Kritik gegen das Löschen von Chatnachrichten und das Abreißen antizionistischer Plakate einen israelbezogenen Antisemitismus.
Zwei Plakate wiesen auf die Organisation "Young Struggle" hin. Diese wird vom Verfassungsschutz beobachtet und hat den Terror vom 7. Oktober als "Ausbruch des palästinensischen Volkes aus dem Freiluftgefängnis Gaza" bezeichnet. Ein drittes von Shapira entferntes Plakat zeigt viermal das Territorium Israel-Palästina in einer historischen Abfolge, um zu zeigen, wie Israel sich nach und nach das Land der Palästinenser angeeignet habe – eine beliebte Abbildung auf propalästinensischen Demos. Diese Geschichte des Landraubs delegitimiere den Staat Israel und spreche ihm sein Existenzrecht ab, argumentierten Kaufmann und Scharmer.
Richter: "Antisemitismus ist keine Meinung"
Richter Sezer kürzte das ab, die Plakate seien "übelster antisemitischer Unrat" – Punkt. Für Shapiras Moderation des WhatsApp-Chats äußerte er Verständnis. Zwar hätte der die eine oder andere Situation besser lösen können. Doch sei es nachvollziehbar, dass Shapira als Jude, gegen den an der FU eine regelrechte Hetzkampagne lief, auch mal ausfällig werde. Einige der Chatmitglieder "kleine pubertierende Wichser" zu nennen, sei "menschlich nachvollziehbar", so Sezer.
Wenn A. kritisiere, dass Shapira Nachrichten gelöscht und wiederholte Störer aus der Gruppe gekickt habe, diene dies nicht der Verteidigung der Meinungsfreiheit. "Antisemitismus ist keine Meinung", sagte Sezer. Mit dieser äußerungsrechtlich allerdings bestenfalls verkürzten Aussage meinte der Richter wohl, dass der Administrator einer privaten Chatgruppe das Recht hat, gegen Hass-Nachrichten einzuschreiten. Das tat Shapira im Übrigen in mindestens einem belegten Fall – lange vor dem 7. Oktober 2023 – auch bei einer rassistischen Aussage. Ein Durchgreifen, das A. damals in einer direkten Nachricht an Shapira mit den Worten "Ich liebe dich" und einem Herz-Emoji quittierte. Eine Nachricht, an der sich die Kniffligkeit des Falls zeigte: Die Verteidigung sah u.a. dies als Beleg dafür, dass A. Shapira respektierte. Staatsanwalt Kaufmann hingegen zog die Nachricht als Beispiel für A.s "doppelte Standards" bezüglich rassistischer bzw. antisemitischer Aussagen heran.
Richter Sezer zog daraus seinen eigenen Schluss: Normalerweise hätten User im anonymen Internet immer eine "offene Hose", seien im wahren Leben aber kleinlaut. "Beim Angeklagten ist das genau umgekehrt." Der habe sich sowohl in den verschiedenen Gruppenchats als auch in den Direktnachrichten mit Shapira überwiegend zurückhaltend und abwägend gegeben. Sobald sie am Tatabend – nach Aussagen beider zum ersten Mal – in echt aufeinandertrafen, schlug A. Shapira krankenhausreif.
Verteidigung zu offensiv?
Die Folgen der Tat waren schwer, wie eine Gerichtsmedizinerin noch einmal genauer ausführte: eine komplexe Mittelgesichtsfraktur und eine Hirnblutung, vier Tage Krankenhaus, mehrere OPs. Eine akute Lebensgefahr habe nicht bestanden, allerdings seien derartige Verletzungen "potenziell" lebensbedrohlich. Vom Mediziner- ins Juradeutsch übertragen bedeutet das eine "abstrakte" Lebensgefahr, damit fällt die Tat unter § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB (lebensgefährliche Behandlung).
Zudem erfüllt der Tritt gegen den Kopf den Tatbestand der Nr. 2, die Körperverletzung "mittels eines gefährlichen Werkzeugs". Dieses Werkzeug war hier der Schuh am Fuß. Ob der tatbestandsmäßig ist, hängt nach der Rechtsprechung von der Stärke und Körperregion des Tritts ab, bei Tritten gegen den Kopf ist das regelmäßig der Fall. Das sei auch für Turnschuhe bereits entschieden, sagte Sezer.
Verteidiger Khazaeli hatte in seinem mehr als halbstündigen Plädoyer beide Varianten von § 224 StGB verneint und wegen einfacher Körperverletzung eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und neun Monaten beantragt.
Während das noch eindeutig zulässiges Verteidigerverhalten ist, gelte das für andere Verhaltensweisen Khazaelis im Ermittlungsverfahren sowie im Auftreten gegenüber Shapira in dessen Zeugenvernehmung nicht, sagte Sezer. Der Täter habe hier die Verantwortung zu sehr auf das Opfer verlagert. Das Verteidigungsverhalten sei deshalb ausnahmsweise strafschärfend zu berücksichtigen.
Richter rügt Springer-Berichterstattung
A.s Geständnis wertete das Gericht kaum mildernd. A. habe nur eingeräumt, was ohnehin klar war. Zudem lastete es A. an, in der von Khazaeli verlesenen Einlassung nur Sachbücher und Fußball als Hobbys genannt zu haben. Dass A. auch Kickboxen betreibt, hatte er erst auf Sezers Nachfrage bejaht. Dieses Hobby schadet dem 24-Jährigen in der Strafzumessung doppelt, denn Sezer betonte die besondere Verantwortung, die mit seiner Kraft und Kampfsporttechnik einhergeht.
Dass A. sich bei Shapira in seinem letzten Wort entschuldigte, wertete das Gericht als "einigermaßen aufrichtig". Dennoch habe A. keine volle Verantwortung für seine Tat übernommen, weil er das Motiv bis zuletzt ebenso bestritten hatte wie den Vorsatz bezüglich der Heftigkeit der körperlichen Schäden.
Mildernd wirke sich aus, dass A. unter vorverurteilender und ihn verunglimpfender Presseberichterstattung gelitten habe. "Das gute Maß wurde überschritten", sagte Sezer insbesondere an die Adresse der Springer-Medien. Sezer beklagte, ohne das so zu nennen, einen Rassismus in der Berichterstattung, den er aus eigener Erfahrung kenne. Konkret störte er sich etwa daran, dass A. in einigen Berichten als Muslim bezeichnet worden war. Ein Umstand, der vollkommen irrelevant sei und zu keinem Zeitpunkt Gegenstand des Prozesses gewesen ist. Auch kritisierte Sezer die Bezeichnung von A. als arabisch: "Er ist Deutscher – und auch nicht Deutscher auf Widerruf."
"Sie haben sich Ihr eigenes Leben damit versaut"
Am Ende gab Sezer zu, dass die angesichts fehlender Vorstrafen "drakonisch" wirkende Strafe von drei Jahren mit dem Gedanken der Resozialisierung des Täters schwer zu vereinbaren sei. Die sei aber nicht nur wegen des 2021 ergänzten § 46 Abs. 2 StGB geboten, wonach antisemitische und andere menschenverachtende Motive strafschärfend wirken. Vielmehr sei auch der erhebliche Anstieg antisemitischer Straftaten insbesondere seit dem 7. Oktober zu berücksichtigen. Die harte Strafe brauche es aus Gründen der negativen Generalprävention, das heißt zur Abschreckung, als Exempel. Eine Tat aus antisemitischen oder rassistischen Motiven "legt die Axt an das Fundament unserer Werteordnung", so Sezer.
Zum Schluss richtete er sich in persönlichen wie strengen Worten an A.: "Sie haben sich Ihr eigenes Leben damit versaut." A. sei auf dem Weg gewesen, Lehrer zu werden. Damit hätte er ein Vorbild für andere migrantische und migrantisch gelesene Kinder sein können. "Sie haben den harten Teil geschafft" – aus einer engen Betonwohnung in Neukölln, mit vielen Geschwistern auf wenig Raum habe er es durch ein selektives Schulsystem bis an die Universität.
Sein Studium hatte A. nach der Tat aufgegeben und war nach München gezogen, nachdem die FU Berlin ein Hausverbot gegen ihn verhängt hatte. Nun muss A. zunächst für drei Jahre ins Gefängnis – wenn er nicht noch in Berufung oder Revision geht.
Für ein Statement war er am Donnerstag nicht zu sprechen. Shapira hingegen sagte: "Ich bin froh, dass es vorbei ist. Ich bin froh, dass das antisemitische Motiv anerkannt wurde."
Shapira-Angreifer zu drei Jahren Haft verurteilt: . In: Legal Tribune Online, 17.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/57034 (abgerufen am: 14.05.2025 )
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