Ein Student der FU Berlin schlägt einen jüdischen Kommilitonen brutal zusammen. Die Tat steht im Wesentlichen fest – nicht aber das Motiv: War es Antisemitismus? Vor allem eine Chatnachricht steht im Fokus.
Zwei Stunden nach Beginn war klar, dass es eine lange und kleinteilige Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht (AG) Tiergarten werden würde. "Wenn ich mir Ihren Stapel da angucke, dann sitzen wir hier heute Abend noch", sagte der Vorsitzende Richter des Schöffengerichts Sahin Sezer (Az. 264 Ls 1024/24). Er kommentierte damit das Prozessverhalten der Verteidigung bei der Zeugenbefragung von Lahav Shapira. Strafverteidiger Ehssan Khazaeli hatte ausgedruckte Fotos und Screenshots aus mehreren Whatsapp-Chatgruppen mitgebracht, mit denen er Shapira konfrontierte.
Dieser studiert an der Freien Universität (FU) Berlin Geschichte auf Lehramt – ebenso wie zur Tatzeit der Angeklagte Mustafa A. Dem wird vorgeworfen, Shapira am 2. Februar 2024 abseits der Uni brutal zusammengeschlagen zu haben. Die Tat räumte A. zu Beginn ein, Khazaeli (EKH Legal) verlas für ihn ein Statement, welches den in der Anklage geschilderten Geschehensablauf bestätigte. Danach sah A. seinen Kommilitonen am späten Freitagabend zufällig in einer Bar in Berlin-Mitte, folgte ihm auf die Straße. Nach kurzem Wortwechsel schlug er Shapira mit der Faust ins Gesicht. Nachdem Shapira zu Boden gegangen war, trat A. ihm mit dem Fuß so kräftig gegen den Kopf, dass dieser eine komplexe Mittelgesichtsfraktur und eine Hirnblutung erlitt.
"Ich bin froh, dass sich das dem Ende zuneigt", sagte Shapira. Nachdem er "fast umgebracht" worden sei, sei es frustrierend, dass er sich rechtfertigen müsse, dass der antisemitische Hintergrund der Tat nun angezweifelt werde. Das mutmaßlich antisemitische Motiv – darum geht es an diesem Dienstag, das ist der Streitpunkt. Shapira, der als Nebenkläger auftritt, und die Staatsanwaltschaft bejahen dies. Der in Neukölln aufgewachsene heute 24-jährige A., der einen palästinensischen Großvater hatte, streitet jeden Antisemitismus ab. Es sei eine Kurzschlussreaktion nach einem Streit unter Kommilitonen gewesen. Relevant ist die Frage für die Strafzumessung, dazu wurde Richter Sezer sogar konkret.
Bewährung oder Gefängnis?
Ergebe die Beweisaufnahme ein antisemitisches Motiv, komme eine Bewährungsstrafe nicht mehr in Betracht, so Sezers vorläufige Bewertung. Dann müsste A. ins Gefängnis. Zur Länge der Freiheitsstrafe äußerte sich Sezer nicht. Die Aussagen des Richters erfolgten im Rahmen der Verlesung mehrerer richterlicher Vermerke über mündliche Gespräche mit Verteidiger Khazaeli im Vorfeld. Dabei ging es auch um eine mögliche Verständigung über eine mildere Strafe gegen Geständnis.
Den Strafrahmen gibt § 224 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) vor. Angeklagt ist A. wegen gefährlicher Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs (Nr. 2). Dieses Werkzeug ist hier der Schuh am Fuß. Ob der tatbestandsmäßig ist, hängt nach der Rechtsprechung von der Stärke und Körperregion des Tritts ab, bei Tritten gegen den Kopf ist das regelmäßig der Fall. Eine gefährliche Körperverletzung kommt in Moabit so oft auf den Schreibtisch, dass sie im Justizsprech nur "gefKV" genannt wird. Eine Bagatelle ist das Delikt aber keineswegs: Dem Täter drohen sechs Monate bis zehn Jahre Freiheitsstrafe – ein weiter Strafrahmen.
Bei einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren ist die Aussetzung zur Bewährung möglich, genau das will die Verteidigung hier erreichen. Und dafür kommt es nach Sezers vorläufigem richterlichem Hinweis darauf an, ob die An- und Nebenklage das Gericht davon überzeugen können, dass A. die Tat aus Antisemitismus begangen hat – oder nur wegen eines Streits unter Kommilitonen. Nach § 46 Abs. 2 StGB sind "die Beweggründe (...) des Täters, besonders auch rassistische, (...) antisemitische (...) oder sonstige menschenverachtende", strafschärfend zu berücksichtigen.
Nicht nur An- und Nebenklage gehen von Antisemitismus aus. Auch Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner und der Antisemitismusbeauftrage der Bundesregierung, Felix Klein, hatten die Tat früh mit Antisemitismus in Verbindung gebracht. "Dieses Verfahren zeigt eines ganz deutlich: nämlich, wie gefährlich Antisemitismus ist und wie wichtig seine konsequente Verfolgung und Ahndung durch die Justiz sind", hatte Klein, der am Dienstag den ersten Teil der Verhandlung in Moabit mitverfolgte, im Vorfeld laut dpa gesagt. Die FU Berlin reagierte mit einem Hausverbot, der Berliner Senat änderte sein Hochschulgesetz.
FU-Campus als Spiegel des Nahostkonflikts
Die Berliner Polizei war in den ersten Tagen nach der Tat aber zunächst nicht von einem antisemitischen Hintergrund ausgegangen. Auch einer der Tatzeugen witterte einen "politischen Prozess". Dabei sind Ansatzpunkte für den mutmaßlichen Antisemitismus im vorliegenden Fall für Außenstehende nicht erkennbar. Das gilt unzweifelhaft für den ersten Ansatzpunkt: Shapira ist Jude – was im Kommilitonenkreis auch bekannt ist. Einer seiner Großväter war ein Holocaust-Überlebender, der andere ein Leichtathletiktrainer, der 1972 zur israelischen Olympiamannschaft in München gehörte und beim Massaker durch die palästinensische Terrororganisation "Schwarzer September" ermordet wurde. Allerdings nahm A. in dem kurzen Wortwechsel, der dem Schlag in Shapiras Gesicht vorausging, nicht auf dessen Jüdischsein Bezug. Das behaupteten weder Shapira noch die drei weiteren Augenzeugen der Tat.
Der zweite Anknüpfungspunkt besteht in Shapiras Engagement auf dem Campus. Nach dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel hatte er sich an der Uni immer wieder gegen Antisemitismus und für die Solidarität mit Israel sowie den am 7. Oktober 2023 von der Hamas Ermordeten und Verschleppten ausgesprochen. Er war auch immer wieder mit propalästinensischen Aktivisten aneinandergeraten und hatte Aufrufen zu propalästinensischen Protestaktionen widersprochen. Immer wieder kam es auf dem FU-Campus zu Streit zwischen den Israel- und Palästina-solidarischen Gruppen.
Zumindest mit zwei Aktionen, die A. offenbar missfielen, hatte er Shapira kurz vor dem Schlag konfrontiert, wie beide übereinstimmend berichteten. Zum einen geht es um Shapiras Verhalten im Zusammenhang mit einer Hörsaal-Besetzung an der FU im Dezember 2023. Shapira gab zu, zwei Plakate abgerissen zu haben, die auf die Organisation "Young Struggle" hinwiesen. Diese wird vom Verfassungsschutz beobachtet und hat den Terror vom 7. Oktober als "Ausbruch des palästinensischen Volkes aus dem Freiluftgefängnis Gaza" bezeichnet. Ein drittes von Shapira entferntes Plakat zeigt viermal das Territorium Israel-Palästina in einer historischen Abfolge, um zu zeigen, wie Israel sich nach und nach das Land der Palästinenser angeeignet habe – eine beliebte Abbildung auf propalästinensischen Demos. Dass die Errichtung des Staates Israel auf dem FU-Campus als Geschichte des Landraubs erzählt werde, habe er nicht hinnehmen können, sagte Shapira dazu.
A. gab auf Nachfrage des Gerichts an, bei der Hörsaalbesetzung nicht dabei wie auch generell in der Protestszene nicht aktiv gewesen zu sein. Beide gaben an, sich vor der Gewalttat vom 2. Februar 2024 nicht über den Weg gelaufen zu sein.
Reihenweise antisemitische Chatnachrichten – aber nicht vom Angeklagten
Sie hätten sich vielmehr nur aus einem Gruppenchat gekannt. Shapira war zeitweise alleiniger Administrator einer Whatsapp-Gruppe des Studiengangs, unter den mehr als 400 Mitgliedern war auch A. Shapira soll immer wieder Chatnachrichten gelöscht und Personen aus der Gruppe geschmissen haben. Nach eigener Aussage ist er dabei nur gegen sexistische, rassistische und antisemitische Inhalte eingeschritten.
Bei der Auswertung des Chats wurde es am Dienstag kleinteilig. Verteidiger Khazaeli hielt Shapira in dessen Zeugenvernehmung zahlreiche Screenshots aus dem Chatverlauf vor: Die Juden kontrollierten die Medien, beherrschten die Welt und ähnliche antisemitische Klischees waren unter den Chatnachrichten. Auch wurden antisemitische Rollenbilder auf Shapira projiziert: Er inszeniere sich als ewiges Opfer, dabei sei er selbst der Täter, so die Kernaussage einiger Beiträge. Dass diese Aussagen klar antisemitisch sind, darüber bestand in Saal B129 Einigkeit. Als Verteidiger Khazaeli von "antisemitischem Mist" sprach, nickte sein Mandant.
Von diesem stammt ausweislich des am Dienstag Gezeigten und Erörterten aber auch kein einziger dieser Posts, das stellte auch Richter Sezer am Schluss der Verhandlung noch einmal klar. Auch war A. nicht von Löschungen oder einem Rauswurf betroffen. Er war nur mit Shapiras Moderation teilweise nicht einverstanden und hatte diesen deshalb auch schon bilateral per Whatsapp kontaktiert. Nach den Aussagen beider ging es in diesem Chat zunächst zivilisiert zu. Shapira habe Solidarität für die Palästinenser geäußert und sich für eine Zweistaatenlösung ausgesprochen, A. habe Shapiras Umgang im Gruppenchat kritisiert und sich um den "guten Ton" gesorgt. Das Gespräch endete allerdings mit einer mutmaßlichen Drohung. A. sagte, man könne das Thema auch mal woanders klären. Shapira erwiderte: Wenn das eine Drohung sein solle, gern.
Macht ein Snapchat-Video den Unterschied?
Shapiras Rechtsanwalt Sebastian Scharmer schärfte sein Argument in einem Beweisantrag für den Fortsetzungstermin noch einmal nach: A. habe die Löschungen und Rausschmisse von Chatmitgliedern gegenüber Shapira kritisiert und sich damit auf die Seite der Antisemiten geschlagen. Das gelte auch für die Plakate. "Wenn ich jemanden dafür kritisiere, dass er ein Hakenkreuz-Plakat abreißt, muss ich nicht selbst ein Hakenkreuz verwenden, um Antisemit zu sein", so der Nebenklägervertreter.
Ob das Gericht dieser Argumentation folgt, ließen weder der Vorsitzende noch die zwei Schöffinnen am Dienstag erkennen. Am 17. April wird die Hauptverhandlung fortgesetzt und womöglich auch das Urteil verkündet. Als Zeuge gehört werden soll noch ein Datenforensiker der Berliner Polizei. Er hatte ein Handy ausgewertet, das im Rahmen einer Hausdurchsuchung bei A. am Mittag nach der Tatnacht gefunden worden war. Diese Auswertung könnte den dritten Ansatzpunkt liefern und bei der Suche nach dem Tatmotiv das Zünglein an der Waage sein.
Nach den Schilderungen einer Polizistin wurden bei A. zwei Mobiltelefone gefunden: eines im Flugmodus, das andere komplett resettet, aber voll geladen. Welches ihm gehöre, habe A. nicht gesagt. Es habe wie zurechtgelegt gewirkt, so die Zeugin. Auf einem Handy fanden die Ermittler sodann eine Videodatei, die mutmaßlich per Snapchat auf das Handy gelangt war. Das Video zeige Shapira am Boden mit dem Rücken zur Kamera, blaues Licht sei zu sehen, vermutlich Blaulicht, so die Beamtin. Das Entscheidende: Das Video trägt einen Banner mit Text. Dort steht: "musti hat diesen judenhurensohn totgeschlagen. polizei full hier."
Das mit "Musti" wohl Mustafa A. gemeint ist, darüber bestand weitgehend Einigkeit. Völlig unklar aber ist, wer das Rohmaterial aufgenommen und wer das Banner drübergelegt hat. Auch Staatsanwalt Tim Kaufmann geht aufgrund der dritten Person nicht davon aus, dass A. selbst die Collage erstellt hat. Gewissheit soll in der nächsten Woche die Aussage des Technikers bringen.
Shapira mit Personenschutz
Stammt die Collage nicht von A., kommen zwei seiner Freunde in Betracht, die am Tatabend zusammen mit ihm in der Bar waren. Sie sollen die Tat selbst nicht beobachtet haben, kamen aber womöglich nach Eintreffen von Polizei und Rettungswagen hinzu. Beide sollen in der kommenden Woche geladen werden. Einer von ihnen hatte sich im Vorfeld der Hauptverhandlung allerdings schon auf ein Auskunftsverweigerungsrecht berufen, um sich selbst nicht der Strafverfolgung auszusetzen. Sollte es sich bei den beiden Freunden nicht um FU-Studenten handeln, fragt sich jedoch, woher einer von ihnen hätte wissen können, dass Shapira Jude ist. Sollte A. ihnen das erzählt haben, wäre das womöglich doch ein Indiz für Antisemitismus.
Weitere Indizien könnte das Gericht in Gegenständen sehen, die im Rahmen der Durchsuchung bei A. gefunden wurden. Eine Polizistin gab an, ein "Palästina-Bild" und eine "Palästina-Kette" seien bei A. gefunden worden. Auf den am Dienstag in Augenschein genommenen Fotos waren jeweils nur die Umrisse des Territoriums zu sehen, auf dem heute der Staat Israel und die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete liegen. Auf die Nachfrage von Shapiras Anwalt Scharmer, ob die Landkarte Grenzen zwischen Israel und Palästina enthalte, sagte die Zeugin, dass sie das nachschauen müsse.
Sollte das Gericht am Ende nicht von einem antisemitischen Motiv überzeugt sein, wird A. sich dennoch nicht auf eine allzu milde Strafe einstellen können. Bei der Strafzumessung wird die Brutalität der Tat erheblich zu seinen Lasten zu berücksichtigen sein. A. betreibt Kampfsport, ein Zeuge berichtete, die Schlagkombination habe präzise gewirkt. Eine andere Zeugin berichtete von einem "Knirschen", das sie nach dem Tritt gegen den Schädel vernahm. A. selbst gab zu, dass nach der Tat sein Fuß geschmerzt habe. Shapira gab an, er habe infolge des brutalen Angriffs mehrere Monate Arbeitszeit verpasst, seine Regelstudienzeit verlängern müssen und dass er wegen der Entstellung seines Gesichts einen Monat lang kaum vor die Haustür gegangen sei. Er habe nun außerdem einen Personenschutz beauftragt.
Für den Angeklagten sprechen sein Geständnis sowie der Umstand, dass er sich für die Tat entschuldigt hat, ein Antigewalttraining mache und in Psychotherapie sei. Auch reichte er ein Krankenhausattest über einen Suizidversuch mit Tabletten aus April 2024 zur Akte. Das Angebot, 5.500 Euro als erstes Schmerzensgeld in bar anzuzahlen, lehnte Nebenklagevertreter Scharmer ab.
Hinweis: Die Passage zur Verlesung des richterlichen Vermerks über Verständigungsgespräche wurde am 10.04.2025, 11:55 Uhr, nachträglich präzisiert (mk).
Vorm AG Tiergarten geht es ums Motiv: . In: Legal Tribune Online, 08.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56965 (abgerufen am: 22.04.2025 )
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