Die Corona-Maßnahmen sind massiv grundrechtsrelevant – auch soweit sie angehende Abiturienten betreffen. Dass bei den Abi-Prüfungen überhaupt der Gesundheitsschutz hinreichend gewährleistet ist, bezweifelt Prüfungsrechtler Arne-Patrik Heinze.
Inwieweit und unter welchen Voraussetzungen die Abiturprüfungen in der Hochzeit der Corona-Pandemie durchzuführen sind, hängt maßgeblich vom verfassungsrechtlichen Hintergrund ab. Die Maßnahmen der Bundesländer in Rücksprache mit der Bundesregierung zur Eindämmung beziehungsweise Kontrolle der Pandemie sind in erheblicher Weise grundrechts- und zumindest partiell unionsrechtsrelevant. Bezüglich der Abiturprüfungen sind insbesondere die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) und der Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG sowie das Schulwesen aus Art. 7 GG und das Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 GG tangiert.
Selbst bei Unterstellung der Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen, die im Wesentlichen auf dem Infektionsschutzgesetz beruhen, wären die Auswirkungen auf die Abiturprüfungen erheblich.
Prüfungsrechtliche Möglichkeiten vor und während der Abiturprüfungen
In der Phase vor Absolvierung der Abiturprüfungen sind die Möglichkeiten der Absolventen eher begrenzt. Grundsätzlich sind Grundrechte als objektive Werteordnung im Sinne des Art. 1 Abs. 3 GG auch derivative beziehungsweise originäre Leistungsrechte, so dass verfassungsrechtlich zwar ein Prüfungsanspruch besteht. Der Zeitpunkt der Prüfung ist allerdings grundsätzlich nicht justiziabel, soweit die Prüfungen unter Berücksichtigung der Schutzpflicht für Leib und Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG staatlich in einem verhältnismäßigen Zeitrahmen stattfinden, weil etwaige Regelungen in den Landesschulgesetzen zu Zeitabläufen durch Spezialgesetze zum Gesundheitsschutz – wenn sie verfassungsgemäß und hinreichend bestimmt sind – sowie eine höherrangige Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verdrängt sind.
Es gäbe bei Verfassungsmäßigkeit der Pandemiemaßnahmen weder einen Anspruch auf die Anfertigung der Abiturarbeiten zu den ursprünglich vorgesehenen Terminen noch einen Anspruch auf das Verschieben der Prüfungen. Es besteht ein Einschätzungsspielraum der Legislative und der Exekutive. Die Verschiebung der Prüfungen mittels einer einstweiligen gerichtlichen Anordnung mangels hinreichender Vorbereitung durch Unterricht erscheint kaum erreichbar, solange nicht das gesetzliche Mindestmaß an Anwesenheitstagen in der Schule, dessen Unterschreitung zum Nichtbestehen des Schuljahres führen würde, unterschritten ist. Bei Nichtunterschreitung dieser Grenze genügt die Möglichkeit, dass Schüler sich selbst mittels Literatur auf die Prüfung vorbereiten können.
Ebenso wenig besteht ein Anspruch auf den Erhalt eines Abiturzeugnisses ohne Abiturprüfungen auf Basis des Durchschnittes der bisherigen Schulleistungen. Letzteres ist in den Landesschulgesetzen nicht vorgesehen und wäre zudem kaum mit dem Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, da die ohnehin schon problematische Vergleichbarkeit der Bewerber für Studien- und Ausbildungsplätze endgültig verzerrt werden würde.
Anspruch auf hinreichenden Gesundheitsschutz
Soweit Prüflinge allerdings besorgt sind, dass während der Prüfungen Gefahr für die eigene Gesundheit besteht, bestehen rechtliche Möglichkeiten. So müssen die Behörden zusätzlich zu den üblichen prüfungsrechtlichen Vorgaben (angemessene Raumtemperatur, kein Lärm, ordnungsgemäße Sitzmöglichkeit usw.) gewährleisten, dass die Gesundheit hinreichend geschützt wird.
Je nach Bundesland gibt es unterschiedliche Konzepte, die weitgehend unzureichend erscheinen. Mancherorts sollen die Prüfungen zum Beispiel versetzt zu unterschiedlichen Zeiten beginnen und in den Räumen dürfen maximal 15 Schüler sitzen. Es ist schwer vorstellbar, wie vorgegebene Abstände eingehalten werden sollen. Während im Alltagsleben 1,5 bis 2 Meter Abstand gehalten werden muss und dies durch Behörden zum Teil scharf kontrolliert wird, ist das in ohnehin schlecht ausgestatteten Schulen, in denen es oft an Seife und funktionierenden Toiletten mangelt, kaum denkbar. Die Prüflinge werden sich an Eingängen oder Toiletten begegnen.
Selbst bei unterschiedlichen Ankunftsvorgaben vor festgelegten Prüfungsräumen werden Prüflinge sicherlich früher erscheinen und somit ihren prüfungsrechtlichen Obliegenheiten gerecht werden. Soweit 15 Personen in einem Raum ihre Prüfung schreiben sollen, ist das mit den üblichen Corona-Vorgaben kaum vereinbar. Eine durchgehende Lüftung durch offene Fenster wäre nicht hinreichend und zudem mit prüfungsrechtlichen Vorgaben zu Temperaturen, Lärm und anderen Kriterien unvereinbar.
Prüflinge sollten Missstände vorab rügen
Soweit im Vorfeld einer Abiturprüfung konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Sicherheitsmaßnahmen nicht eingehalten werden, könnten einstweilige Anordnungen bei den Verwaltungsgerichten erwirkt werden. Diese hätten sich dann mit den Corona-Vorgaben in Kollision zu den vorgesehenen Prüfungsabläufen sowie etwaigen Kompetenzfragen auseinanderzusetzen. Jedenfalls haben Prüflinge den Anspruch auf den Schutz ihrer Gesundheit, der mit dem Anspruch auf einen ordnungsgemäßen Prüfungsablauf in Einklang zu bringen ist. Digitale Abiturprüfungen sind gesetzlich nicht vorgesehen und bergen zudem eine zu große Gefahr für Täuschungsversuche. Letztlich kommt nur die Ausgestaltung der Prüfungsbedingungen mit erheblichem Aufwand in Betracht.
Da Prüfungen schon außerhalb der Corona-Zeit nicht selten unter unzumutbaren und rechtswidrigen Bedingungen erfolgen, erscheint es fraglich, ob ein kaputtgespartes Bildungswesen einen ordnungsgemäßen Prüfungsverlauf während der Coronakrise zu gewährleisten vermag. Jedenfalls ist den Prüflingen zu raten, die Missstände im Vorfeld und während der Prüfung zu rügen und in die Prüfungsprotokolle aufnehmen zu lassen, um der prüfungsrechtlichen Mitwirkungspflicht nachzukommen und sich eine Prüfungsanfechtung offenzuhalten. Werden Prüfungen verschoben, sind Entschädigungsansprüche zum Beispiel aus Amtshaftung oder objektiver Unrechtshaftung denkbar.
Prüfungsanfechtung nach der Abiturprüfung
Interessant wird die Anfechtung der Abiturprüfungen im Nachhinein, soweit die Prüflinge ihren Rügepflichten im Vorfeld und während der Prüfung nachgekommen sind. Dann werden Gerichte darüber zu entscheiden haben, ob die Prüflinge bei mangelnder Einhaltung der Corona-Vorgaben durch die Behörden sich auf Verfahrensfehler berufen können und ihr normales Leistungspotential zum Beispiel wegen etwaiger Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus aufgrund mangelnder Schutzvorkehrungen nicht abrufen konnten. Sollten aufgrund unzureichender Prüfungsbedingungen – mit oder ohne Prüfungsanfechtung – bei einzelnen Prüflingen Prüfungswiederholungen notwendig werden, könnten ebenso wie bei Verschiebungen der Prüfungen im Vorfeld Entschädigungsansprüche entstehen.
Bei prüfungsrechtlicher Betrachtung werden die Abiturprüfungen im Jahr 2020 sicherlich mancherorts rechtswidrig erfolgen. Im Vorfeld ist die Erwirkung einstweiliger Anordnungen möglich, um der Pandemiesituation angepasste Abiturprüfungsbedingungen zu gewährleisten, während im Nachhinein Prüfungsanfechtungen der Abiturergebnisse in erheblichem Maß zu erwarten sind.
Für diese wird es unter anderem maßgeblich sein, inwieweit rechtswidrige Prüfungsbedingungen und Prüfungsabläufe frühzeitig gerügt worden sind, weshalb frühzeitige Rügen unbedingt erfolgen sollten. Im Rahmen der Prüfungsanfechtungen müssten die Gerichte die Rechtmäßigkeit der Corona-Maßnahmen entscheiden, soweit diese bis dahin nicht ohnehin bereits vielfach durch Gerichte geprüft worden sind. Nicht nur im Zusammenhang mit dem Abi sind umfangreiche Entschädigungsansprüche denkbar.
Prüfungen nach Gutsherrenart
Fraglich ist allerdings, inwieweit das auf dem Papier dezidiert ausgeklügelte rechtsstaatliche System in der Praxis funktionieren wird. Bereits außerhalb der Sondersituation durch eine Pandemie stehen Behörden und Justiz in nicht unerheblichen Bereichen vor dem Kollaps, so dass rechtliche Vorgaben nicht in rechtsstaatlicher Weise umgesetzt werden. In dieser Sondersituation ist erst recht keine Besserung zu erwarten.
Wahrscheinlich werden sich die Prüfungsbehörden wie auch sonst eher wenig um die verfassungsrechtlich verankerten Prüfungsbedingungen kümmern und die Prüfungen pragmatisch nach Gutsherrenart durchführen, um anschließend Gerichtsverfahren in Kauf zu nehmen – in der Hoffnung, dass eine dezidierte juristische Aufarbeitung durch die Gerichte aus politischen Gründen nicht erfolgen wird. Bisherige Gerichtsentscheidungen, in denen entscheidenden Fragen wie hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlagen in Eilverfahren außer Acht gelassen wurden, lassen bereits eine derartige Tendenz vermuten.
Meine Prognose: In gerichtlichen Prüfungsanfechtungen wird es einige erfolgreiche Verfahren in der Sache geben. Doch die Entschädigungsverfahren werden bei meist mutlosen oder überlasteten Gerichten eher im Sande verlaufen.
Der Autor Dr. Arne-Patrik Heinze ist Rechtsanwalt im Öffentlichen Recht mit einem Schwerpunkt im Hochschul- und Prüfungsrecht und als Fachautor aktiv. Zudem ist er bundesweit als Repetitor bzw. Dozent im Öffentlichen Recht tätig – im kommerziellen Sektor sowie an Hochschulen.
Prüfungsrecht in der Corona-Zeit: . In: Legal Tribune Online, 21.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41367 (abgerufen am: 01.12.2024 )
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