Gefühlte Gefährlichkeit von Massenprotesten: "Land­frie­dens­bruch" als poli­ti­sches Eti­kett

Gastbeitrag von Dr. Alexander Heinze

25.08.2022

Vom Freibad bis zum Reichstag? Avanciert der Landfriedensbruch zu einer Art Generalklausel für ein bedrohtes Sicherheitsgefühl? Seine flexible Fassung birgt die Gefahr politischer Instrumentalisierung, meint Alexander Heinze.

Verurteilungen wegen Landfriedensbruch sind häufiger geworden. Allgemein haben politisch motivierte Straftaten zugenommen. Die Fallzahlen des Jahres 2021 liegen nach einem Anstieg von 15,57 Prozent mit 55.048 Fällen seit Erfassung auf einem Rekordhoch. Dabei bilden Landfriedensbrüche neben Widerstands- und Köperverletzungsdelikten den Schwerpunkt (siehe hier S. 13)

Die prominente Stellung des Landfriedensbruchs in der Statistik ist wenig verwunderlich: Der Tatbestand des § 125 Strafgesetzbuch (StGB) bedroht diejenigen mit Strafe, die als Mitglieder einer Menschenmenge gewalttätig werden, wobei als "Mitglieder" unter Umständen auch Außenstehende zählen können (als Täter, Teilnehmer, oder "Aufwiegler"). Menschenmengen, aus denen heraus Bedrohungen oder sogar Gewalttätigkeiten vorgenommen werden, sind weltweit Normalität geworden. Das Ausmaß, die Mobilisierung und Koordination von Menschenmengen hat eine Professionalisierung erreicht, die vor Jahren noch schwer vorstellbar war. Um nur einige Beispiele zu nennen: Über Flashmob-Methoden lassen sich Menschenmengen konzentrieren, einschließlich schneller Ortswechsel. Chatdienste erlauben die Bildung und Koordination kleinerer Gruppen. Als Echokammern können sie zudem die Stimmung anheizen.

Niedrige Hürden für Ermittlungen wegen Landfriedensbruch 

Auf die Geschwindigkeit, mit der über moderne Kommunikationsmethoden das Gruppenverhalten dirigiert wird, kann der Gesetzgeber nur begrenzt mit Regelungen reagieren. In diese Asymmetrie stößt der Tatbestand des Landfriedensbruchs: Mit Hilfe der Gesetzesauslegung avancierte dieser zu einer Art Generalklausel für Beeinträchtigungen des Sicherheitsgefühls durch Menschenmengen. Der Landfriedensbruch ist in diesen Fällen der unspektakuläre und einfache Eröffnungszug der Strafverfolgungsbehörden, wie beispielsweise kürzlich beim Angriff von jungen Männern auf Wachleute nachdem sie aus einem Schwimmbades verwiesen wurden.

Denn vor allem die Sanktionierung der Anstiftung oder Unterstützung zu gewalttätigen Protesten über soziale Medien fällt schwer. Eine Anstiftung etwa zur schweren Körperverletzung oder sogar zum versuchten Totschlag scheitert in der Regel daran, dass der Adressatenkreis nicht hinreichend bestimmbar ist. Auch ist schwer nachzuweisen, wer aus einer Menge heraus gewalttätig geworden ist und wer lediglich dabei war. Die Kompensation dieser Nachweisschwierigkeiten war ein Hauptgrund für die Schaffung des § 125 StGB in seiner heutigen Fassung, die auf das 3. Strafrechtsreformgesetz vom 20.5.1970 zurückgeht und 2017 zuletzt geändert worden ist. 

Strategische Vorteile bei Verfahrenseinleitungen

In den 300 Ermittlungsvorgängen zu den Geschehnissen vor dem Reichstag im August 2020 ist in nur 88 Fällen ein Tatverdächtiger ermittelt worden. In 77 Fällen hieß der Vorwurf Landfriedensbruch. Warum von den 55 inzwischen eingestellten Fällen 39 mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden sind, lässt sich nicht herausfinden. Damit zeigt sich nicht nur eine Parallele zu den Geschehnissen vor dem US-Kapitol am 6. Januar 2021, sondern auch zu deren Strafverfolgung: Auch hier wurden erstaunlich viele Verfahren wegen "rioting", dem Äquivalent zum Landfriedensbruch, eingestellt oder von vornherein gegenüber anderen Straftaten zurückgestellt, wie eine Übersicht der zuständigen US-Staatsanwaltschaft zeigt.

Langversion mit Literatur und Rspr.-Nachweisen im StV 8/22Selbst wenn Verfahren wegen Landfriedensbruchs eingestellt werden, bieten die Nachweiserleichterungen in § 125 StGB eine flexible Grundlage für Entscheidungen, Verfahren zunächst einmal einzuleiten. Für die Einleitung von Strafverfolgungsmaßnahmen ist nämlich nicht entscheidend, ob sich der Strafverdacht letztlich bestätigt oder nicht. Die kriminalistischen Erwägungen reichen von der Hoffnung auf zufällige Erkenntnisgewinne, die Anlass zu weiteren Ermittlungen geben (sog. Zufallsfunde); bis hin zu Folgen wie ein Stadionverbot oder eine Beschränkung der Ausreisefreiheit während einer im Ausland stattfinden Fußball-Europameisterschaft.

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Das Sicherheitsgefühl als Türöffner für staatliche Sanktionen

Der Landfriedensbruch setzt voraus, dass aus einer Menschenmenge die in § 125 Abs. 1 StGB beschriebenen Gewalttätigkeiten oder Bedrohungen in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden. Dieser etwas verknotet und vage formulierte Tatbestand muss durch Auslegung erst konturiert werden. Das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit und der Zweck der Norm, der Gefährlichkeit unfriedlicher Massen zu begegnen, verleihen Ermittlern und Gerichten bei dieser Auslegung ein hohes Maß an Flexibilität.

In einem 2021 ergangenen Beschluss musste sich der 2. Strafsenat des BGH mit der Frage auseinandersetzen, ob das gemeinsame Vorrücken einer Gruppe von 20 Männern auf ein Gasthaus in Erfurt im Oktober 2017 eine (konkludente) Bedrohung mit Gewalttätigkeiten war. Fünf Mitglieder der Menge wurden tatsächlich gewalttätig, jedoch zu einem Zeitpunkt, als sich der Rest der Gruppe schon entfernt hatte. Für den BGH stellte die Gruppe Gewalttätigkeiten in Aussicht, handelte also (konkludent) bedrohend im Sinne des § 125 Abs. 1 Nr. 2 StGB, nämlich durch deren "äußeres Auftreten und ihr geschlossenes Vorgehen", sowie ihr "Vorrücken". 

Es bereitet kaum Mühe, sich Fälle friedlicher Gruppen vorzustellen, auf die diese Voraussetzungen ebenfalls passen würden, ohne dass sich eine Strafbarkeit wegen Landfriedensbruchs sofort aufdrängte. Beispielsweise das Vorrücken von 50 Fußballfans auf die Gruppe von Fans der gegnerischen Mannschaft. Menschenmengen wirken per se einschüchternd, und wenn sie auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen wollen, ist ein gewisser Nachdruck sogar gewollt und nötig. Das erhöht die Begründungspflicht, Gruppenmitgliedern zu unterstellen, dass sie zumindest in Kauf nahmen, dass ihre Bedrohungen als ernstlich aufgefasst werden. 

Generalklausel zur Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch Massenverhalten

Dass die Bedrohung "in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise" erfolgen muss, gibt jedem Anwender von § 125 StGB einen Strauß an Möglichkeiten, den Tatbestand in die ein oder andere Richtung zu deuten. Denn: die öffentliche Sicherheit soll auch das allgemeine Rechtssicherheitsgefühl der Bevölkerung umfassen. Zumindest wenn es nach der überwiegenden Ansicht in Literatur und Rechtsprechung geht. Nach weiter Lesart soll schon ausreichen, wenn durch die Bedrohungen der Eindruck entsteht, dass "man" nicht mehr frei von Furcht vor gewalttätigen Mengen leben kann. Tritt dann eine eher halbherzige Begründung hinzu, warum ein Gruppenmitglied bedroht hat, wird das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zum Tatbestands-Seismographen, der je nach Gefühlslage in Richtung Anklage (oder gar Strafbarkeit) oder Einstellung ausschlägt. 

Im BGH-Beschluss oben reichten für die Feststellung der Bedrohungsvariante Vermummung, Mitführen von Pfefferspray einiger Teilnehmer der Gruppe und Notrufe Unbeteiligter bei der Polizei. Dabei war und ist die These, dass vermummte und zum Teil bewaffnete Personen in einer Gruppe die Gewaltbereitschaft der Gruppe indiziert, empirisch schwer nachweisbar. Zusammen mit dem Verweis auf die späteren Gewalttätigkeiten wurde so die Auslegung des Tatbestandsmerkmals "Bedrohung" auf die Nachweisebene verlagert.

Pointiert formuliert: Bedrohungen in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise liegen dann vor, wenn Vermummte später – außerhalb der Menge – tatsächlich gewalttätig werden. Dieses indizielle Vorgehen ist sicherlich unvermeidlich, wird aber durch die Brille des Sicherheitsgefühls weiter aufgewertet. 

So werden auf der Anwendungsebene die Tathandlungen verrührt zu einem Tathandlungsbrei namens "ein die öffentliche Sicherheit gefährdendes Verhalten", oder aber: einer (verfassungsrechtlich problematischen) Generalklausel zur Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch Massenverhalten. § 125 StGB wird dann so gelesen, dass jedes Massenverhalten "Bedrohung" ist, das die öffentliche Sicherheit irgendwie gefährdet. Über ein so verstandenes Tatbestandskonstrukt ließen sich dann übrigens auch diejenigen in den Täterkreis einbeziehen, die die Gruppe von außen nur steuern oder ihr über die sozialen Medien einen Rückhalt geben.

"Landfriedensbruch" als Label

Die Kritik an der allzu flexiblen Handhabe des Tatbestands soll die Chancen, die sich dadurch bieten, natürlich nicht herunterspielen. Denn mögliche Straftaten, die aus einer Menschenmenge heraus begangen werden, sind in die Kleider des 21. Jahrhunderts gehüllt. der Übergang von Gruppen zu sozialen Bewegungen ist fließend; die Gruppe ist dadurch oft hierarchisch strukturiert; die Wahl des öffentlichen Raums dient der Schaffung eines Narrativs (man denke an die Trucker-Proteste in Kanada), das in Echtzeit über die sozialen Medien verbreitet wird. Die Grenze zwischen lautstarkem, mitunter wütendem Protest und Bedrohungen aus einer Menge heraus, die die öffentliche Sicherheit gefährden, ist fließend. Diese fließende Grenze kann § 125 StGB abbilden, verpflichtet aber Ermittlerinnen und Gerichte zu größerer Transparenz.

Andernfalls kann auf einer politischen Ebene legitimer Protest mit dem Label „Landfriedensbruch“ versehen werden, verbunden mit der Hoffnung auf entsprechende Assoziationen. Hier könnte die Erklärung zu finden sein, warum die Geschehnisse vor dem Reichstag zu lediglich einer Anklage wegen Landfriedensbruchs führten: Je größer die gesellschaftspolitische Relevanz der Menschenmenge, desto größere Spuren hinterlässt das Label "Landfriedensbruch".

Vor diesem Hintergrund ist der Landfriedensbruch eben auch ein politisches Instrument, das in der Vorschrift des § 125 StGB seine Übersetzung im Verweis auf die öffentliche Sicherheit findet. Auch in riot-Vorschriften von US-Staaten findet sich dieser Verweis und es mag kaum überraschen, dass auch dort die Diskussion um eine Politisierung des "rioting" entbrannt ist. Wenn das Verhalten innerhalb einer Menschenmenge pauschal schon dann als Bedrohung qualifiziert wird, wenn das Sicherheitsgefühl leidet, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Landfriedensbruch als Generalklausel für Beeinträchtigungen des Sicherheitsgefühls durch Menschenmengen. Der diffuse und populistische Verweis darauf, dass "man sich in Deutschlandland nicht mehr sicher fühlen könne" erhielte dann den Ritterschlag eines Tatbestandsmerkmals.

Der Autor Dr. Alexander Heinze LL.M ist Akademischer Rat a.Z. am Institut für Kriminalwissenschaften in der Abteilung für ausländisches und internationales Strafrecht an der Universität Göttingen.

Carl Heymann / Wolters KluwerBeim Aufsatz handelt es sich um eine Zusammenfassung des wissenschaftlichen Beitrags mit Literatur- und Rechtsprechungsbelegen aus der Zeitschrift "StV Strafverteidiger, Heft 8, August 2022 mit dem Schwerpunkt "Politisches Strafrecht". Die Zeitschrift wird wie LTO von Wolters Kluwer herausgegeben. Sie ist als Einzelausgabe hier und als Abo hier erhältlich.

Zitiervorschlag

Gefühlte Gefährlichkeit von Massenprotesten: . In: Legal Tribune Online, 25.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49418 (abgerufen am: 14.10.2024 )

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