Die Entscheidung zur Sterbehilfe ist ein Befreiungsschlag, gerade in Zeiten einer Tendenz zur Übertherapie am Lebensende, meint Eric Hilgendorf. Nun brauche es ein austariertes System, das die Hilfe zum Sterben am besten den Ärzten überlasse.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat entschieden, dass der 2015 in das Strafgesetzbuch (StGB) aufgenommene § 217 gegen die Verfassung verstößt und deshalb nichtig ist. Das Urteil ist in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen und war in dieser Deutlichkeit von kaum einem Beobachter erwartet worden. Das Gericht greift zahlreiche der Argumente auf, die vor fünf Jahren 150 deutsche Strafrechtslehrer in einer Petition gegen die Neuregelung vorgebracht hatten.
Der technische Fortschritt hat dazu geführt, dass ein "natürlicher Tod" zur Seltenheit geworden ist. Mittels moderner Behandlungsmethoden lässt sich das Sterben verändern, herauszögern oder auch beschleunigen. Jede dieser Möglichkeiten bedeutet einen Eingriff in Grundrechte des davon betroffenen Menschen. Für Patienten ist es oft jedoch schwierig, sich derartigen Zugriffen am Lebensende zu entziehen. Dies erklärt, warum seit einigen Jahren Vereinigungen aufgetreten sind, die es Menschen ermöglichen wollen, selbstbestimmt und ohne unnötige Qualen aus dem Leben zu scheiden. Am bekanntesten ist wohl die Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas, deren Dienste bisher auch von vielen Deutschen in Anspruch genommen werden.
Um die Etablierung derartiger Angebote auf deutschem Boden zu verhindern, hat der Gesetzgeber im Dezember 2015 die Norm des § 217 StGB erlassen, die geschäftsmäßige Sterbehilfe unter Strafe stellte. Den Tatbestand erfüllte, wer einem anderen "geschäftsmäßig", d.h. in mehr als nur einem Fall, etwa durch die Übergabe von Medikamenten die Möglichkeit gewährte, aus dem Leben zu scheiden.
Rechtsgeschichte geschrieben
Gegen den neuen Straftatbestand brachten seine Kritiker im Wesentlichen zwei Argumente vor. Das erste betraf seine mangelnde Bestimmtheit, denn die Norm hatte, anders als ihre Befürworter lange Zeit argumentierten, einen außerordentlich breiten Anwendungsbereich. So erhalten auch im Rahmen der Palliativmedizin Schwerstkranke Medikamente in höheren Dosen, mit deren Hilfe sie sich ohne weiteres das Leben nehmen könnten.
Das zweite Argument gegen § 217 StGB lautete, dass die Norm einen unzulässigen Eingriff in das Recht auf selbstbestimmtes Sterben bedeutet, ein Recht, welches jedem Menschen, auch dem Schwerstkranken und Moribunden, kraft seiner Persönlichkeitsrechte und seiner Menschenwürde zusteht. Schon vor zwei Jahren hatte das Bundesverwaltungsgericht dieses Recht in deutlichen Worten bestätigt und daraus hergeleitet, dass ein schwerstkranker Patient in extremen Notfällen auch Anspruch auf todbringende Medikamente haben kann.
Selten ist das Recht auf persönliche Selbstbestimmung, das eben auch das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben umfasst, so emphatisch betont worden wie in der neuen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Mit diesem Bekenntnis zur persönlichen Autonomie hat das Gericht Rechtsgeschichte geschrieben. Bemerkenswert ist auch das folgende Argument: Dem Gesetzgeber ist es verwehrt, die Möglichkeiten einer legalen Selbsttötung dadurch zu beseitigen, dass er den Sterbewilligen von jeder Hilfe abschneidet. Auch indirekte Freiheitseinschränkungen sind am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen. Ein Recht, welches bloß auf Papier besteht, faktisch aber nicht realisiert werden kann, hilft dem Rechteinhaber wenig.
In der mündlichen Urteilsbegründung wurden die Belange der Patienten und Moribunden in den Mittelpunkt gestellt; die Ausführungen zu den Sterbehilfevereinigungen und den Ärzten, die sich durch § 217 StGB in ihrer Handlungsfreiheit ungerechtfertigt eingeschränkt gefühlt hatten, fielen deutlich kürzer aus. Das Urteil kommt jedoch auch ihnen zugute. Gerade die ambulante Palliativmedizin wird durch das Urteil gestärkt.
Wie der Gesetzgeber nun reagieren kann
Die Entscheidung bedeutet, dass die Rechtslage vor Erlass des § 217 StGB wiederhergestellt ist. Wie das Gericht andeutete, werden wohl auch das Betäubungsmittelrecht und darüber hinaus die ärztliche Musterberufsordnung angepasst werden müssen.
Ob der Gesetzgeber weitere Maßnahmen ergreift, um den Vorgaben des Gerichts gerecht zu werden, bleibt abzuwarten. Zu denken ist, worauf auch das Bundesverfassungsgericht hinweist, vor allem an prozedurale Vorgaben, etwa Dokumentations- und Transparenzverpflichtungen, Vorgaben zur Einbeziehung medizinischer Expertise und Beratungspflichten sowie an Maßnahmen zum Schutz der Betroffenen vor Übereilung.
Auch sollte die Autonomiefähigkeit des Sterbewilligen jedenfalls dann eigens sichergestellt werden, wenn es ernsthafte Indizien dafür gibt, dass sie fehlen könnte. Es bedarf es noch vieler Überlegungen im Detail.
Gegen die Tendenz zur Übertherapie am Lebensende
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts fügt sich fast nahtlos in die Entwicklung der Rechtsprechung der vergangenen Jahre ein und trägt dem Fortschritt der medizinischen Technik und der damit erforderlich gewordenen Neubesinnung auf die der Medizinethik zugrundeliegenden Werte Rechnung.
Zu den wichtigsten Folgerungen, die aus der Entscheidung zu ziehen sind, gehört, dass auch Schwerstkranke bis zuletzt Träger von Persönlichkeitsrechten und Menschenwürde sind, die nicht zum Spielball fremder Interessen werden dürfen.
Das muss man so betonen, weil sich in den vergangenen Jahren eine sehr bedenkliche Tendenz zur Übertherapie am Lebensende herausgebildet hat. Das Urteil des BVerfG enthält die erforderlichen Argumente, um dem entgegenzuwirken. Die kürzlich ergangene Entscheidung in Zivilsachen, mit welcher der Bundesgerichtshof in einem Fall qualvoller und nicht durch eine Einwilligung gedeckter Lebensverlängerung Schadensersatz und Schmerzensgeld abgelehnt hat, dürfte verfassungsrechtlich kaum zu halten sein.
Richtig austarieren: für Sterbehilfeorganisationen und Ärzte
Eine zweite Aufgabe besteht darin, zu verhindern, dass nach der Nichtigerklärung des § 217 StGB das Pendel in die entgegengesetzte Richtung ausschlägt. Niemand wird Sterbehilfeangebote nach Art eines "Mc Die" akzeptieren wollen, der ein schnelles und sozialverträgliches Ableben ohne größere Umstände in Aussicht stellt und sich diese Dienste gut bezahlen lässt. Eine derartige Kommerzialisierung der Sterbehilfe muss verhindert werden.
Auch das Argument, es dürfe keinen sozialen Druck in Richtung auf ein "beschleunigtes Sterben" geben, ist unverändert überzeugend und sollte auch im Rahmen einer Neuregelung beachtet werden.
Es spricht sehr viel dafür, die Unterstützung beim und zum Sterben in den Händen von Ärzten zu belassen. Das wird nur zu erreichen, sein, wenn die Ärzteschaft bereit ist, entsprechende Aufgaben zu übernehmen. Die ärztliche Ethik muss fortentwickelt werden, um den Ärzten Handlungssicherheit zu geben. Hierzu bedarf es der Zusammenarbeit mit der Medizinethik und der praktischen Philosophie.
Deutschland braucht eine sachliche Debatte
Die Strafrechtswissenschaft steht vor der Aufgabe, das Konzept der Autonomie und ihre Voraussetzungen im Recht genauer zu beleuchten. Man wird davon ausgehen können, dass unter dem Grundgesetz eine Vermutung für Autonomie besteht. Aber wie erkennt man fehlende Autonomiefähigkeit? Und wo sind die Grenzen autonomer Entscheidungsmacht erreicht?
Vielleicht können die Grundsätze fruchtbar gemacht werden, die im Rahmen der Einwilligung in einen Heileingriff und in den Behandlungsabbruch erarbeitet wurden. Darüber hinaus müssen psychiatrische Erkenntnisse über die Autonomiefähigkeit des Menschen stärker einbezogen werden.
Die internationalen Erfahrungen mit Sterbehilfe sind ambivalent. In den Niederlanden lässt sich eine nicht unbedenkliche Ausweitung entsprechender Angebote feststellen, während die Lage in der Schweiz weitgehend stabil zu sein scheint und die dortige Sterbehilfepraxis in der Bevölkerung breite Anerkennung genießt. Deutschland tut sich bislang mit einer sachlichen Debatte zu Möglichkeiten und Grenzen von Sterbehilfe schwer. Das Urteil des BVerfG macht es dringend erforderlich, dass sich unsere Gesellschaft intensiver und sachlich angemessener als bisher mit Fragen der Hilfe beim und zum Sterben auseinandersetzt.
Der Autor Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtstheorie, Informationsrecht und Rechtsinformatik an der Universität Würzburg. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte liegt im Medizinstrafrecht.
Zum Urteil des BVerfG zu § 217 StGB: . In: Legal Tribune Online, 27.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40517 (abgerufen am: 10.11.2024 )
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