Vor 80 Jahren ging das Deutsche Reich durch Kapitulation unter, der Krieg war verloren. Berlin macht daraus einen Feiertag, doch als bundesweites Vorbild taugt dies nicht. Denn die Aufarbeitung ist längst nicht abgeschlossen.
Vor achtzig Jahren, am 8. Mai 1945, kapitulierte die Wehrmacht in Berlin-Karlshorst ein weiteres Mal, nach der vorangehenden Kapitulation einen Tag vorher im französischen Reims. Die Waffen schwiegen. Der verheerende Weltkrieg kam zum Erliegen. Deutschland war besiegt und lag in Trümmern. Eine bedingungslose Kapitulation, die von den Alliierten ausdrücklich nicht als Befreiung gewertet wurde. Die US-Direktive JCS 1067 vom 26. April 1945 ließ verlauten: "Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat." Diese bedingungslose Kapitulation ist einer der Gründe, das Deutsche Reich als untergegangen anzusehen, zusammen mit der Übernahme der gesamten Staatsgewalt durch die Alliierten.
Im kulturellen und erinnerungspolitischen Gedächtnis hatte der 8. Mai 1945 – anders als schon in der jungen Bundesrepublik der 20. Juli 1944 für das Stauffenberg-Attentat– lange Zeit keinen Platz. Noch 1965 überwog der Wunsch nach einem Schlussstrich, sowohl bei Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger ("ein Tag, so grau und trostlos wie so viele vor oder auch nach ihm") als auch beim Oppositionsführer Willy Brandt ("Zwanzig Jahre sind genug … des bloßen Zurückschauens"). Dies änderte sich mit der berühmten Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1985, zum vierzigjährigen Gedenken. Weizsäcker sprach von einem Tag der Befreiung, und wurde dafür aus eigenen Reihen heftig angefeindet.
Wieder Jahrzehnte später erheben sich Forderungen, etwa seitens der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano, den 8. Mai – wie bereits in anderen europäischen Staaten – zu einem nationalen Gedenk- und Feiertag zu erheben. Eine nur zu verständliche Forderung, der gleichwohl Skepsis begegnet. Denn der Tag und seine Wirkungsgeschichte weisen eine erhebliche Ambivalenz und Vielschichtigkeit auf.
Justizdienst ging "ungestört" weiter
Für die meisten Deutschen war der 8. Mai keine Befreiung, sondern eine Niederlage, nach welcher der tagtägliche Kampf ums bloße Überleben weiterging. Häufig findet sich die Metapher "Zusammenbruch". Gewiss, für eine überlebende Minderheit war es ein "rettender Zusammenbruch", etwa für den Literaturwissenschaftler Victor Klemperer in Dresden. Gleichwohl bleibt die Zuschreibung einer "Befreiung" kontrafaktisch. Die Opfer der zahllosen Vergewaltigungen blickten anders auf den Tag zurück. Im Westen nahm man auch daran Anstoß, dass die Sowjetmacht dabei half, in Ostdeutschland eine kommunistische Diktatur zu errichten.
Zudem gab es massive personelle, materielle und strukturelle Kontinuitäten. In der Justiz ging der Dienstbetrieb trotz Bomben, Bränden und Niederlage "ungestört" weiter, wie Benjamin Lahusen, Rechtshistoriker und Professor für Bürgerliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an der Viadrina in Frankfurt (Oder), kürzlich herausgearbeitet hat. Eine "Stunde Null" gab es nicht. Die aus dem Obrigkeitsstaat stammenden Justizstrukturen blieben weitgehend unangetastet, etwa der starke Einfluss der Exekutive oder die Machtfülle der Gerichtspräsidenten. Strukturen, die in den heutigen Zeiten der "Faszination des Autoritären" (Koen Lenaerts, Professor für Europarecht an der Katholieke Universiteit Leuven und Präsident des Europäischen Gerichtshofs) zur fehlenden Resilienz des Rechtsstaats beitragen.
In personeller Hinsicht gab es - im Westen - ebenfalls nur überschaubare Veränderungen. Zahlreiche belastete NS-Juristen konnten ihre Karrieren unbehelligt fortsetzen. Ob und wie der "Geist des Nationalsozialismus" inhaltlich, in Gerichtsentscheidungen und Gesetzen, fortwirkte, bedarf der sorgfältigen Analyse. Jedenfalls ist zweifelhaft, ob es zu einer wirklichen Umkehr, Buße, Einsicht, zu einem Aufbruch des Gewissens kam. Viele Juristen waren Überzeugungstäter gewesen, hatten ab 1933 begeistert am Unrechtsstaat mitgewirkt, rechtfertigten Unrecht wie Terror. Nur ein Beispiel: Wandelte sich ein Theodor Maunz, der den maßgeblichen Grundgesetz-Kommentar herausgab, zugleich aber anonym für die rechtsextreme Deutsche National-Zeitung schrieb? "Unter der Woche Demokrat, in der Freizeit Faschist", beschrieb ihn der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss.
"Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung"
Ein Gedenktag könnte schließlich zu einem weiteren Entlastungsnarrativ beitragen: "Wir wurden befreit!". Deutschland gilt als vorbildhaft, was die – nie abschließbare - Aufarbeitung der NS-Zeit betrifft. So hat der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy die Deutschen "Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung" genannt. Es besteht aber die Gefahr, dass die Erinnerungsarbeit für eine positive Identitätsstiftung der Deutschen instrumentalisiert, zum "Versöhnungstheater" wird, wie der Berliner Schriftsteller und Publizist Max Czollek es schreibt.
Vor allem verbleiben Leerstellen, blinde Flecken, Tabuzonen, insbesondere im Nahbereich. Die eigene (Groß)Familie gilt als sakrosankt. Auch die akademischen Väter und Großväter bleiben verschont. Bis heute. Dabei liegt deren NS-Biografie vielfach noch im Dunkeln.
Es fällt auf, dass Eigen- und Fremdzeugnisse aus der Nachkriegszeit minutiös zusammengetragen werden, wie bei Hans Peter Ipsen, dem Begründer der deutschen Europarechtswissenschaft. Diese häufig beschönigenden und verklärenden Zeugnisse bieten allerdings ein verzerrtes Bild. Die etwa bei Ipsen starke NS-Belastung, vor allem das konkrete Wirken in der Nazizeit, bleiben weitgehend ausgespart.
Große Juristennamen erheblich in die NS-Zeit verwickelt
Dem steht das "Vetorecht der Quellen" entgegen, die – frei recherchierbar und zugänglich – in Archiven lagern. Schutzfristen sind fast immer abgelaufen. Die Akten aus der NS-Zeit, vor allem Personalakten des Reichsjustizministeriums und der SS oder die Mitgliederkartei der NSDAP, finden sich im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde. Die meist aufschlussreichen Entnazifizierungsakten entdeckt man in der Regel in Landesarchiven.
So könnte man in Erfahrung bringen, wie Ipsen konkret in Belgien gewirkt (oder gewütet?) hat. Man könnte erforschen, warum Martin Löffler, der Nestor des deutschen Presse- und Medienrechts, nach einem Engagement als Demokrat in der Weimarer Republik ab 1933 mit aller Macht in die NSDAP strebte, ob er als Kriegsrichter an Todesurteilen beteiligt war und was er konkret in Albert Speers Ministerium für Bewaffnung und Munition bis zum Untergang getrieben hat. Man könnte erforschen, was Murad Ferid, Münchner Institut für Rechtsvergleichung, der schon 1923 als Mitglied des Jungsturms Adolf Hitler am Marsch auf die Feldherrnhalle teilnahm, als Geheimdienstoffizier in Athen und auf dem Balkan vom Schicksal der deportierten Juden wusste. Man könnte sich vergewissern, ob Helmut Coing, der große Rechtshistoriker, wirklich so "impeccable", so tadellos war, wie er sich in seiner Autobiografie darstellt. Es muss nur gewollt werden.
Netzwerke und Querverbindungen weitgehend unbekannt
Besonders spannend und erhellend sind die Netzwerke und Querverbindungen, die bis heute weitgehend unbekannt sind. In das Reichskommissariat Niederlande ordnete das Reichsjustizministerium zahlreiche Juristen ab, um die besetzten Niederlande auszuplündern. Hier tat sich besonders Kammergerichtsrat Georg Schröder hervor, der als Abteilungsleiter die Beraubung jüdischer Menschen und die Arisierung jüdischer Unternehmen verantwortete, im Wissen um das Schicksal der vom Lager Westerbork nach Auschwitz deportierten Menschen. Später avancierte er zum Vorsitzenden am Bundesarbeitsgericht. Sein Vorgesetzter im Reichskommissariat Hans von Boeckh begründete nach dem Krieg die deutsche Europarechtswissenschaft mit. Seine Stellvertreter in der Abteilung Feindvermögen machten ebenfalls Karriere, Gerhard Kramer als Generalstaatsanwalt, später Justizsenator und schließlich Kultussenator in Hamburg, und Gerhard Rothe, Leiter des Judenreferats, am Bundesgerichtshof. Auch Wolfgang Hefermehl, der wohl bedeutendste Wirtschaftsjurist der Nachkriegszeit, begegnet uns, der im Reichsjustizministerium für das Feindvermögen und damit auch das jüdische Vermögen zuständig war. Allesamt Schreibtischtäter, die zum ökonomischen Tod hoch motiviert und – wie von Hitler gewünscht –"fanatisch" beitrugen.
Es ist an der Zeit, die "Ahnengalerien" an Gerichten und in Behörden auf den Prüfstand zu stellen, etwa die Galerie am Bundesarbeitsgericht in Erfurt, von der ein NS-Täter wie Georg Schröder herablacht ("Das Lachen der Täter"), der bis 1973 hoch angesehen am Bundesarbeitsgericht wirken durfte, oder die Galerie am Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg. Es ist an der Zeit, das Schweigen zu brechen, die immer noch vorherrschende Amnesie zu beenden, zur Wahrheitssuche und zur symbolischen Gerechtigkeit für die Opfer – als Prozess der Selbstaufklärung und Selbstvergewisserung. Wenn solche Erinnerungsarbeit kaum stattfindet oder unterbunden wird, spielt dies den Feinden der Demokratie in die Hände. Der 8. Mai vermag dies in Erinnerung zu rufen.
Der Autor Dr. Martin Borowsky ist Richter am Landgericht Erfurt, Lehrbeauftragter an der Willy Brandt School of Public Policy der Universität Erfurt und an der Batumi Shota Rustaveli State University in Georgien, Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und des Vereins Forum Justizgeschichte.
80 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges: . In: Legal Tribune Online, 08.05.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/57149 (abgerufen am: 14.05.2025 )
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