Das Grundgesetz bietet in seiner zeitlosen Ästhetik verlässliche Orientierung für komplexe Fragen. Indes: Gesellschaftlicher Wandel und fortwährende Krisen machen Aktualisierungen für die Zukunft unumgänglich, meint Dana-Sophia Valentiner.
Bei Lektüre des Grundgesetzes (GG) ist das erste Wort, das bei der Juristin mit Ausbildungsstart nach der Jahrtausendwende für Irritation sorgt, das "Sittengesetz". Nach Art. 2 Abs. 1 GG hat jede Person das Recht auf die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit, soweit sie nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder eben das Sittengesetz verstößt.
Im Studium lernen wir, dass von dieser Schrankentrias in der verfassungsrechtlichen Praxis nicht viel übriggeblieben ist: Die "Rechte anderer" gehen mittlerweile ebenso wie das "Sittengesetz" in der "verfassungsmäßigen Ordnung" auf, also in der Gesamtheit aller Rechtsnormen, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind.
Anders sah das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) dies bekanntlich im sogenannten Homosexuellen-Urteil aus dem Jahr 1957. Das Gericht erkannte in dieser Entscheidung das Sittengesetz als formal selbstständige Schranke der Persönlichkeitsentfaltung an und erblickte in der "gleichgeschlechtlichen Betätigung" einen Verstoß gegen das Sittengesetz. Weniger bekannt ist, dass das BVerfG auch in der ersten Entscheidung zum Thema Transgeschlechtlichkeit aus dem Jahr 1978 das Sittengesetz als Schranke der Persönlichkeitsentfaltung prüfte, einen Verstoß aber ablehnte.
"Sittengesetz" streichen, "sexuelle Orientierung" ergänzen
Heute kann die Schranke des Sittengesetzes als irrelevant bezeichnet werden. Aus diesem Grund sprechen sich etwa Philipp Kunig und Jörn-Axel Kämmerer in ihrer Kommentierung zu Art. 2 Abs. 1 GG im von Münch/Kunig für eine teleologische Reduktion der Schrankentrias im Sinne eines "Schrankenduos" aus. Bedenkt man, dass das Sittengesetz in der Vergangenheit in Rechtsdiskursen um Sexualität und Geschlecht angerufen wurde, um tradierte naturrechtliche Vorstellungen verfassungsrechtlich zu legitimieren, drängt sich aber auch eine weitergehende Forderung auf: Das Sittengesetz sollte aus dem Grundgesetz gestrichen werden. Es ist heute bestenfalls funktionslos, schlimmstenfalls bildet es ein unnötiges Einfallstor für rückwärtsgewandte Sittlichkeitsrhetorik und rechtspolitischen Backlash.
In Zeiten zunehmenden Populismus kommt dem Minderheitenschutz im Grundgesetz besondere Bedeutung zu. Eine Ergänzung der Diskriminierungsverbote in Art. 3 Abs. 3 GG ist in der Vergangenheit mehrfach diskutiert worden.
Das betrifft die sexuelle Orientierung, die bislang – trotz entsprechender Gesetzesinitiativen – nicht im Katalog der Diskriminierungsverbote enthalten ist. Das BVerfG hat dies als Schutzlücke erkannt und behilft sich damit, den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bei Ungleichbehandlungen aufgrund der sexuellen Orientierung einem strengen Kontrollmaßstab zu unterstellen, weil die sexuelle Orientierung mit den in Art. 3 Abs. 3 GG aufgezählten Merkmalen vergleichbar sei.
Eine explizite Ergänzung des Katalogs der verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbote ist nicht nur zur Klarstellung nötig, sondern unterstreicht das Gebot einer hinreichenden antidiskriminierungsrechtlichen Gesetzgebung zum Schutz von Menschen mit nicht-heterosexueller Orientierung, die in den aktuellen politischen Zeiten wichtiger denn je ist.
"Rassistische Zuschreibung" statt "Rasse"
Bereits seit 1949 verbietet Art. 3 Abs. 3 GG eine Benachteiligung "wegen der Rasse". An dieser Formulierung wurde immer wieder Kritik geübt, schließlich gibt es keine "Rassen", der Begriff hält schlimmste NS-Rassenideologie rhetorisch am Leben. Aus diesem Grund erklärte die Ampel-Regierung im Koalitionsvertrag, den Begriff ersetzen zu wollen. Hiervon rückte sie nun jüngst unter Berufung auf eine fragwürdige Erinnerungskultur ab.
Auch wenn das verfassungsrechtliche Schutzniveau von einer sprachlichen Anpassung unberührt bliebe, ist diese aus Gründen demokratischer Bildung, für die das Grundgesetz Grundlage und Bezugspunkt ist, wichtig. Wir können nicht in den Schulen lehren, dass es keine "Rassen" gibt und zugleich im wichtigsten Text unserer Rechtsordnung diesen Begriff reproduzieren. Statt "Rasse" sollte in Art. 3 Abs. 3 die "rassistische und antisemitische Zuschreibung" aufgeführt werden.
Resilienz der Verfassungsgerichtsbarkeit stärken
Das Erstarken der AfD hat in jüngerer Zeit eine Debatte über die Absicherung des BVerfG angestoßen, die darauf gerichtet ist zu verhindern, dass das für die Wahrung der Verfassung zentrale Kontrollorgan von rechts vereinnahmt und in seiner Arbeit behindert wird.
Das GG schützt das Gericht bislang weder vor Blockaden durch parlamentarische Minderheiten noch vor einem Umbau durch einfache Gesetzgebung. So enthält die Verfassung zwar die zentralen Verfahrensarten vor dem BVerfG (Art. 93 GG) oder die Besetzung mit Bundesrichter:innen und anderen Mitgliedern bei je hälftiger Wahl durch Bundestag und Bundesrat (Art. 94 Abs. 1 GG). Konkrete Vorgaben zur Wahl der Richter:innen, zur Organisation und Struktur des Gerichts sowie dem anzuwendenden Prozessrecht sind hingegen erst im Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) niedergelegt und somit durch einfache Mehrheiten veränderbar.
Zwischenzeitlich liegen erste Vorschläge für Ergänzungen des GG vor. Im BMJ ist ein Papier erarbeitet worden, eine Arbeitsgruppe der Justizministerkonferenz hat einen Gesetzentwurf verfasst, kürzlich hat die Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Wehrhafter Rechtsstaat" sich auf umfassende Vorschläge geeinigt.
Um die Resilienz der Verfassungsgerichtsbarkeit zu stärken, sind folgende Regelungen essentiell: Die Bindungswirkung der Entscheidungen des BVerfG sollte Verfassungsrang erhalten. Auch Konkretisierungen zu den Richter:innen im GG sind sinnvoll. Dies betrifft die Amtszeit (inkl. Ausschluss einer zweiten Amtszeit), Altersgrenzen und erforderliche Mindestqualifikationen. Auch die Festsetzung der zwei Senate sollte im GG niedergelegt werden.
Kniffliger sind Regelungen zum Wahlmodus. Eine Zwei-Drittel-Mehrheit für die Wahl der Richter:innen durch Bundestag und Bundesrat im Grundgesetz entspricht dem Ziel der Absicherung breiter politischer Zustimmung und schließt Personen mit extremen Positionen aus. Zugleich würde eine Sperrminorität verfassungsrechtlich festgeschrieben, die zur Blockade bei der Richter:innenwahl ausgenutzt werden könnte. Für diesen Fall sind ausgleichende Instrumente wie Ersatzwahlen vorzusehen.
Sozial-ökologische Transformation
In den vergangenen Jahren sind auch Forderungen nach einem ökologischen, planetaren oder nachhaltigen Grundgesetz laut geworden, die teils umfassende Überarbeitungen verlangen, um das Grundgesetz fit für die sozial-ökologische Transformation zu machen. Auch die Idee einer feministischen oder sozialen Verfassung hat einen gewissen Charme.
In der Rechtsprechung anerkannte soziale Rechte wie das menschenwürdige Existenzminimum oder das Recht auf schulische Bildung würden durch eine Kodifikation eine begrüßenswerte Stärkung als Individualrechte, ebenso als Bezugspunkt für gesetzgeberisches Handeln erfahren.
Die Querschnittsziele der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit (Art. 20a GG, Art. 20 Abs. 1 GG) sowie der Gleichstellung der Geschlechter (Art. 3 Abs. 2 GG) sind als Staatszielbestimmungen bereits heute kodifiziert. Das Ziel der sozial-ökologischen Transformation ist dem Staat in der Zusammenschau verbindlich aufgegeben, mit Spielräumen zur konkreten Transformationsgestaltung, die sich angesichts zeitlich-dynamischer Zuspitzungen etwa durch den Klimawandel enorm verengen. Höchste Zeit also, dass der Staat, insbesondere durch die Gesetzgebung, tätig wird. Eine Ergänzung des Grundgesetzes ist hierfür nicht zwingend notwendig.
Erstmal sind die bereits bestehenden Verpflichtungen ernst zu nehmen. Nur wenn dies nicht gelingt, können Verfassungsergänzungen in Betracht kommen, um nachzuhelfen. Dies war etwa im Jahr 1994 nötig, nachdem trotz klarer Formulierung und entsprechender Rechtsprechung des BVerfG in der Nachtarbeits-Entscheidung das aus Art. 3 Abs. 2 GG ("Männer und Frauen sind gleichberechtigt.") folgende Gleichberechtigungsgebot negiert wurde.
Prof. Dr. Dana-Sophia Valentiner ist Juniorprofessorin für Öffentliches Recht an der Universität Rostock. Ihre Forschungs- und Interessenschwerpunkte liegen im Verfassungs- und Verwaltungsrecht, insbesondere Grundrechte, Recht der Verkehrswende und Legal Gender Studies. Im Ehrenamt engagiert sie sich als Vorsitzende des Landesverbandes Hamburg im Deutschen Juristinnenbund. Mit Selma Gather hostet sie den Podcast "Justitias Töchter".
75 Jahre Grundgesetz: . In: Legal Tribune Online, 18.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54565 (abgerufen am: 07.10.2024 )
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