Druckversion
Samstag, 17.05.2025, 21:33 Uhr


Legal Tribune Online
Schriftgröße: abc | abc | abc
https://www.lto.de//recht/hintergruende/h/70-jahre-grundgesetz-rechtsschutzgarantie-artikel-19
Fenster schließen
Artikel drucken
35171

70 Jahre GG – die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG: Wie die Ver­wal­tungs­ge­richte den Rechts­schutz ent­deckten

Gastbeitrag von Prof. Dr. Klaus F. Gärditz

03.05.2019

Das Bild zeigt einen Auszug aus dem Grundgesetz, der die Rechtsschutzgarantie nach Artikel 19 Absatz 4 GG thematisiert.

Schon kurz nach Inkrafttreten des Grundgesetzes ahnte man, dass die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG eine wichtige Rolle spielen könnte. Es dauerte nicht lange, bis das BVerwG ihr volles Potenzial erkannte, zeigt Klaus F. Gärditz. 

Anzeige

Das Grundgesetz (GG) wird 70 Jahre alt. Das gibt Anlass, um einen Blick auf die wichtigsten Werte der deutschen Gesellschaft zu werfen. Bis zum 23. Mai stellt LTO die wichtigsten Grundrechte vor, ihre Entwicklung und ihre Bedeutung gestern und heute. Alles beginnt mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, von Prof. Dr. Klaus F. Gärditz.

Art. 19 GG ist ein auf den ersten Blick eher unscheinbaren Artikel, der – im Kontrast zum Esprit der vorausgehend normierten Grundrechte – eher technisches Grundrechtsfolgenrecht zu behandeln scheint.

Im Mittelpunkt der Debatten des Parlamentarischen Rates stand das Problem, dass die differenzierten Schranken der Einzelgrundrechte dazu missbraucht werden könnten, durch formal korrekte Gesetzgebung die Substanz des Grundrechtsschutzes auszuhöhlen.

In Art. 19 GG wurden letztlich sehr inhomogene Regelungen gebündelt, die aus verschiedenen Vorentwürfen übriggeblieben waren, sich aber nicht erledigt hatten. Die meisten Regelungsgehalte sind aus heutiger Sicht von begrenzter Bedeutung geblieben. Doch dass die trotz deutscher Justizstaatstraditionen neuartige lückenlose Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG einen tatsächlichen Fortschritt für die Freiheitlichkeit der Rechtsordnung bedeuten würde, erahnte man wohl schon frühzeitig.

Den Gesetzgeber zum Nachdenken anhalten?

Das Verbot des Einzelfallgesetzes (Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG) spielt praktisch keine Rolle. Das Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG) war beinahe in Vergessenheit geraten, bis es in jüngerer Zeit vor allem für Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) wiederentdeckt wurde - die Hoffnung eine explizite Benennung des Grundrechts, in das eingegriffen wird, würde den Gesetzgeber zum Nachdenken anhalten und Eingriffe rationalisieren, hat sich jedenfalls nicht erfüllt. Zur primären freiheitsschützenden Begrenzung hat sich vielmehr der Vorbehalt des Gesetzes entwickelt, der den Gesetzgeber zur Präzisierung seines Regelungskonzeptes zwingt.

Das Verbot, Grundrechte in ihrem Wesensgehalt anzutasten (Art. 19 Abs. 2 GG), ist erstaunlicherweise unter dem Grundgesetz weitgehend zur Bedeutungslosigkeit verkümmert. Das liegt daran, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit seiner filigranen und abwägungsintensiven Angemessenheitsprüfung wenig Raum für weitere Korrektive gelassen hat, die der Eingriffsintensität äußere materielle Grenzen ziehen.

Dass die Wesensgehaltsgarantie Eingang in Art. 52 Abs. 1 Satz 1 EU-Grundrechtecharta gefunden hat, ist daher ein bemerkenswerter legal transplant eines bedeutungslosen Rudiments. Vermutlich wird die europäische Wesensgehaltsgarantie ein ähnliches Schicksal ereilen wie ihr deutsches Vorbild.

Die grundsätzliche Anwendbarkeit der Grundrechte auf inländische juristische Personen (Art. 19 Abs. 3 GG) ist rückblickend ebenfalls weniger folgenreich geblieben, als dies möglicherweise noch 1948/1949 wahrgenommen wurde. Die Rechtsprechung hat diese Bestimmung konsequent auf ihren freiheitlichen Bedeutungsgehalt heruntergebrochen. Das BVerfG behandelt juristische Personen als Instrument, dessen sich die individuellen Trägerinnen und Träger von Grundrechten bedienen, um grundrechtlich geschützte Freiheit wirksam wahrzunehmen – zu entsprechenden Ergebnissen wäre man auch ohne Art. 19 Abs. 3 GG gelangt.

Die Verwaltungsgerichte entdecken die emanzipatorische Kraft von Art. 19 Abs. 4 GG

Doch schon 1951 bemerkte Richard Thoma, der selbst stellvertretendes Mitglied im Parlamentarischen Rat war und dort vor allem als Sachverständiger hinzugezogen wurde, die "kühne" Rechtsschutzgarantie habe "dem Gewölbe des Rechtsstaats den Schlußstein eingefügt".

Entsprechende Vorbilder enthielten weder die Weimarer Reichsverfassung noch der Herrenchiemseer Verfassungsentwurf. Die Bestimmung, die ordentliche und Verwaltungsgerichte einbezog, sollte auch als Rechtsschutzgeneralklausel für die Ländern dienen, da bis zur Einrichtung des Bundesverwaltungsgerichts Verwaltungsrechtsschutz noch ausschließlich auf Länderebene gewährleistet wurde. Gemessen an den umwälzenden Folgen für das Verwaltungsrecht, die die Rechtsschutzgarantie später entfalten sollte, verlief die Diskussion im Parlamentarischen Rat vergleichsweise unkontrovers und technisch.

Von Anfang an hatte die Verwaltungsgerichtsbarkeit maßgeblichen Anteil daran, Art. 19 Abs. 4 GG Leben einzuhauchen.

Bereits in seiner Fürsorgeentscheidung aus dem Jahr 1954 hatte das BVerwG die emanzipatorische Kraft des hinter der Idee subjektiver Rechte stehenden Freiheitsmodells erkannt und in einer zupackenden Begründung entfaltet (BVerwGE 1, 159, 161 f.). Bürger, die auf Hilfe angewiesen sind, waren damit keine Almosenempfänger obrigkeitsstaatlicher Fürsorge mehr, sondern hatten eigene subjektive Ansprüche, die man nun gegen den Staat durchsetzen konnte.

Rechtsschutz rückt in den Mittelpunkt des Verwaltungsrechts

Eine Rechtsordnung, die den individuellen Freiheitsrechten einen derart zentralen Stellenwert zuweist wie das Grundgesetz, musste konsequenterweise auch ein Rechtsschutzmodell installieren, das den Einzelnen wirksame Rechtsschutzmöglichkeiten zuweist und ihnen eine Verteidigung ihrer Subjektstellung im Prozess ermöglicht. Art. 19 Abs. 4 GG hatte das deutsche Verwaltungsrecht – aber auch das Verwaltungsrechtsdenken – sehr grundlegend umgeformt.

Zwar blieben zahlreiche vorkonstitutionelle Formen (wie der Verwaltungsakt) erhalten. Verwaltungsrecht wurde aber zunehmend aus der Rechtsschutzperspektive betrachtet: Kontrollierbarkeit und Fehlerfolgen rückten in den Mittelpunkt der gelehrten und angewandten Rechtsdogmatik, wohingegen Fragen der administrativen Zweckmäßigkeit und der Herstellung von Verwaltungsentscheidungen in den Hintergrund gerieten. Art. 19 Abs. 4 GG avancierte zum "Systemmittelpunkt" des Verwaltungsrechts.

Dabei begründet Art. 19 Abs. 4 GG nach herkömmlichem Verständnis keine Rechte, sondern setzt solche voraus. Dort wo ein Recht besteht, ist aber dessen wirksame Durchsetzung garantiert.

Dies führte zu einer fruchtbaren Arbeitsteilung zwischen Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit: Während sich das BVerfG darauf konzentrierte, die Anforderungen an einen effektiven Rechtsschutz immer weiter zu verfeinern, blieb die Frage des Bestands eines Rechts (jenseits der Grundrechtsdogmatik) vornehmlich dem Fachrecht überantwortet. Hier ist es der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu verdanken, das subjektiv-rechtliche Substrat einer ausdifferenzierten Rechtsordnung aus den einzelnen – oftmals technischen – Normen herausgeschält zu haben.

Otto Mayers Zeiten sind damit vorbei

Die deutsche Fixierung des Verwaltungsrechts auf den Rechtsschutz genießt im europäischen Rechtsvergleich zwar weiterhin eine Sonderstellung. Gleichwohl orientiert sich das Unionsrecht – nicht zuletzt unter der Ägide der parallel strukturierten Rechtsschutzgarantie des Art. 47 der EU-Grundrechtecharta – inzwischen (bei allen Unterschieden im Detail) im Kern ebenfalls an einem subjektiven Rechtsschutzmodell, dessen Effektivität sukzessive vom EuGH ausgebaut wird.

Nur an wenigen anderen Bestimmungen lässt sich die staatsrechtliche Diskontinuität im Verwaltungsrecht so klar nachzeichnen wie anhand der Rechtsschutzgarantie. Das häufig zitierte Diktum des Pioniers der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft Otto Mayer aus dem Jahr 1924, wonach Verfassungsrecht vergehe, Verwaltungsrecht bestehe, dürfte durch die Verwaltungsrechtsgeschichte unter dem Grundgesetz widerlegt worden sein.

Dies zeigt einmal mehr die grundlegende Qualität des Systembruchs, der das Grundgesetz vom breiteren Korridor rechtlicher Kontinuität im Öffentlichen Recht unter den staatsrechtlichen Zäsuren 1871 und 1919 abhebt, die Otto Mayers Erfahrungshorizont prägten.

Wenn wir in diesen Wochen 70 Jahre Grundgesetz feiern, darf gerade diese Erfolgsgeschichte in Erinnerung gerufen werden.

Der Autor Prof. Dr. Klaus F. Gärditz ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht an der Universität Bonn.

  • Drucken
  • Senden
  • Zitieren
Zitiervorschlag

70 Jahre GG – die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG: . In: Legal Tribune Online, 03.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35171 (abgerufen am: 17.05.2025 )

Infos zum Zitiervorschlag
  • Mehr zum Thema
    • Staatsrecht und Staatsorganisationsrecht
    • Bundesverwaltungsgericht (BVerwG)
    • Grundgesetz
    • Grundrechte
    • Rechtsschutz
    • Rechtsweg
Corona-Pandemie 22.04.2025
Coronavirus

BVerwG verneint presserechtlichen Auskunftsanspruch:

BND-Erkennt­nisse zum Corona-Ursprung bleiben geheim

Seit gut fünf Jahren fragt die Öffentlichkeit immer wieder nach dem Ursprung der Corona-Pandemie. Einen presserechtlicher Auskunftsanspruch gegen den BND verneinte das BVerwG nun.

Artikel lesen
Bibliothek 15.04.2025
Grundrechte

Hinweis "Werk mit umstrittenen Inhalt" keine Grundrechtsverletzung:

Stadt­bücherei Münster darf vor eigenen Büchern warnen

Leseempfehlungen in Bibliotheken sind keine Seltenheit. Doch was gilt für eine Warnung? Ein Autor klagte gegen einen kritischen Einordnungshinweis und sieht das staatliche Neutralitätsprinzip als verletzt an. Jetzt entschied das VG Münster.

Artikel lesen
Stephan Harbarth (l-r), Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bärbel Bas (SPD), Bundestagspräsidentin, und Manuela Schwesig (SPD), Bundesratspräsidentin und Ministerpräsidentin vo 05.04.2025
Rechtsstaat

Warum es mehr Auseinandersetzung braucht:

Rechts­staat ist Main­st­ream

Das Rechtssystem bewährt sich nicht nur in Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch in alltäglichen Urteilen und Rechtsstreitigkeiten in der Fläche. Warum es deshalb wichtig ist, dass Institutionen des Rechts einladender werden.

Artikel lesen
Nahaufnahme einer Trommel mit Stickern, die die palästinensische Flagge abbilden und auf denen "Boycott Israel" und "Free Palestine" steht (Symbolbild) 29.03.2025
Versammlungen

Gericht bestätigte Sprachverbot auf Palästina-Demo:

Das ver­ges­sene Grund­recht

Demonstrierenden nur den Gebrauch bestimmter Sprachen zu erlauben, ist laut VG Berlin mit der Meinungsfreiheit vereinbar. Dabei übersah das Gericht die Kunstfreiheit, meint Tabea Nalik. Der palästinensische Protest lebt auch vom Gesang.

Artikel lesen
Antrag auf Ausbildungsförderung nach dem BAföG 28.03.2025
BAföG

BVerwG zur BAföG-Rückforderung:

Schlu­d­riges Amt trägt Mit­schuld

Wenn beim BAföG-Antrag etwas schiefgeht, stellt sich die Frage: Wer hat's verbockt? Das BVerwG macht klar, dass auch das BAföG-Amt bei Fehlern verantwortlich sein kann. In diesem Fall mindert Mitverschulden den Rückforderungsanspruch.

Artikel lesen
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe 27.03.2025
Stiftungen

Antrag vor dem BVerfG erfolglos:

Keine Wie­der­gut­ma­chung für AfD-nahe Stif­tung

Im Haushaltsplan 2019 hat der Bundestag die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung von der staatlichen Förderung ausgeschlossen. Das war rechtswidrig, hat das BVerfG festgestellt. Wiedergutmachung gibt es aber nicht, entschied es nun.

Artikel lesen
ads lto paragraph
lto karriere logo
ads career people

Wir haben die Top-Jobs für Jurist:innen

Jetzt registrieren
logo lto karriere
TopJOBS
Logo von Baker McKenzie Rechtsanwaltsgesellschaft mbH von Rechtsanwälten und Steuerberatern
Ju­ris­ti­sche Mit­ar­bei­ter & Re­fe­ren­da­re | Ar­beits­recht | Ber­lin, Frank­furt,...

Baker McKenzie Rechtsanwaltsgesellschaft mbH von Rechtsanwälten und Steuerberatern , Ber­lin

Logo von BLD Bach Langheid Dallmayr Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB
Prak­ti­kan­ten

BLD Bach Langheid Dallmayr Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB , Mün­chen und 1 wei­te­re

Logo von RechtDialog Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Rechts­an­wäl­te (m/w/d) als An­ge­s­tell­te oder in frei­er Mit­ar­beit

RechtDialog Rechtsanwaltsgesellschaft mbH , 100% Re­mo­te

Logo von Schlun & Elseven Rechtsanwälte PartG
Rechts­an­wäl­tin/Rechts­an­walt (m/w/d) im Mi­g­ra­ti­ons- und...

Schlun & Elseven Rechtsanwälte PartG , Köln

Logo von Oppenhoff
Re­fe­ren­da­re (m/w/d) al­le Fach­be­rei­che

Oppenhoff , Köln

Logo von Oppenhoff
Re­fe­ren­da­re (m/w/d) al­le Fach­be­rei­che

Oppenhoff , Frank­furt am Main

Logo von BLD Bach Langheid Dallmayr Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB
Prak­ti­kan­ten

BLD Bach Langheid Dallmayr Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB , Köln

Logo von ARQIS
Prak­ti­kan­ten (m/​w/​d) AR­QIS Sum­mer School 2025

ARQIS , Düs­sel­dorf

Mehr Stellenanzeigen
logo lto events
Matchwinner Verfahrensrecht

26.05.2025

Der Umgang mit Betriebsprüfern und Steuerfahndern

28.05.2025

Logo von Leuphana Universität Lüneburg
Triff Möhrle Happ Luther auf der FOR YOUR CAREER in Lüneburg

27.05.2025, Lüneburg

Krisenland. Finanzielle Restrukturierung durch StaRUG-Verfahren.

05.06.2025, Frankfurt am Main

Logo von Hagen Law School in der iuria GmbH
Fortbildung Sozialrecht im Selbststudium/ online

30.05.2025

Mehr Events
Copyright © Wolters Kluwer Deutschland GmbH