Vom Brokdorf-Beschluss bis zu den Fridays-for-Future-Protesten: Die Versammlungsfreiheit als eines der konstituierenden Grundrechte ist stets aktuell, zeigt Mathias Hong – und nicht grundlos als unbequemes Grundrecht gedacht.
Das Grundgesetz (GG) wird 70 Jahre alt. Das gibt Anlass, einen Blick auf wichtige Normen und Werte der deutschen Verfassung zu werfen. Bis zum 23. Mai stellt LTO die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes vor.
Das schlagende Herz der Versammlungsfreiheit ist die freie politische Rede. Gemeinsam mit ihrem Geschwistergrundrecht, der Meinungsfreiheit, sichert sie jedenfalls gerade auch das Recht, mit anderen zusammenkommen und sich an der öffentlichen Meinungsbildung zu beteiligen. Die Meinungsfreiheit schützt dabei den Inhalt, die Versammlungsfreiheit die besondere Art und Weise der Meinungsäußerung durch Versammlungen.
Das Bundesverfassungsgericht nennt beide Grundrechte mit Recht "konstituierend" für die freiheitliche Demokratie. Warum? Weil erst sie "die ständige geistige Auseinandersetzung" ermöglichen, "den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement" ist (so zur Meinungsfreiheit: BVerfGE 7, 198 [208] – Lüth [1958]; für die Versammlungsfreiheit vgl. BVerfGE 69, 315 [344 f.] – Brokdorf [1985]).
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Versammlungsfreiheit beginnt mit einer seiner großen Pionierleistungen: dem Brokdorf-Beschluss von 1985, der die Leitlinien für die Interpretation dieses Grundrechtes entwickelte und dessen Aktualität bis heute ungebrochen ist. Er hat für die Versammlungsfreiheit einen vergleichbaren Stellenwert wie das berühmte Lüth-Urteil von 1958 für die Meinungsfreiheit und die Grundrechtsauslegung insgesamt.
Ihre fortdauernde Kraft gewinnen diese Leitentscheidungen richtigerweise auch daraus, dass sie beanspruchen können, plausibel den Willen der verfassungsgebenden Gewalt näher zu konkretisieren – die vor 70 Jahren mit großen Mehrheiten das Grundgesetz in den Volksvertretungen der Länder angenommen und mit Ablauf des 23. Mai 1949 auch diese Grundrechte in Kraft gesetzt hat.
Die Gedanken sind frei – und der wegweisende Brokdorf-Beschluss
Lüth-Urteil und Brokdorf-Beschluss konnten nicht zuletzt auch an die Weimarer Debatten anknüpfen. Vor allem der Grundgedanke dieser Entscheidungen findet sich schon dort und er prägt auch die Geschichte der Kommunikationsfreiheiten insgesamt: Die Gedanken sind frei. Ihre Äußerung darf deshalb nicht schon deshalb beschränkt werden, weil schon ihr Inhalt als falsch oder als gefährlich beurteilt wird (vgl. BVerfGE 124, 300 [330-334] – Wunsiedel [2009]). Der Staat darf mit rechtlichen Zwangsmitteln keine Gesinnungskontrolle betreiben, darf es nicht schon auf bestimmte Meinungen als solche abgesehen haben, sondern muss sich auf die Abwehr von Bedrohungen für äußere Rechtsgüter beschränken, wie etwa das friedliche Zusammenleben oder das Persönlichkeitsrecht eines hinreichend eingrenzbaren Kreises von Personen (vgl. BVerfGE 93, 266 [301-303] – Soldaten [1995]).
Im Brokdorf-Beschluss ging es um eine Großdemonstration gegen die Kernkraft. Zehntausende demonstrierten im Februar 1981 in der Wilstermarsch und am Baugelände des Kernkraftwerks – trotz Versammlungsverbots und erfolgloser Eilanträge. Die Demonstration verlief teils friedlich, teils kam es aber auch zu gewalttätigen Ausschreitungen mit Verletzten; es wurden Molotow-Cocktails und Steine geworfen (vgl. dieses Tagesschau-Video).
Die Karlsruher Richter erklärten trotzdem das weiträumige Versammlungsverbot im Nachhinein größtenteils für grundrechtswidrig (nämlich außerhalb eines engeren Bereiches um das Baugelände herum). Ganz parallel dazu erklärte das Gericht später auch das – ebenfalls äußerst großflächige – Versammlungsverbot für den G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm für mit der Versammlungsfreiheit weitgehend unvereinbar. (vgl. BVerfG v. 06.06.2007, Az. 1 BvR 1423/07, Rn. 30-36, und v. 19.07.2007, Az. 1 BvR 1423/07, Rn. 4-5).
Der Brokdorf-Beschluss stellte damit insbesondere klar, dass Versammlungen unter freiem Himmel nur untersagt werden dürfen, wenn das zur Abwehr einer unmittelbaren Gefährdung für wichtige – im Wesentlichen nur elementare – Rechtsgüter unabdingbar ist. Diese grundrechtliche Eingriffsschwelle leitete das Gericht aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ab: Wegen des hohen Gewichts des Grundrechts kann es nur dann verhältnismäßig sein, eine Versammlung zu verbieten oder aufzulösen.
Die Versammlungsfreiheit – ein hohes Gut
Solche grundrechtlichen Eingriffsschwellen sind auch bei anderen Grundrechten wohlbekannt. Für die Versammlungsfreiheit sah schon Art. 123 der Weimarer Reichsverfassung eine ähnliche Schwelle vor, der Verbote nur "bei unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit" zuließ. Das Gericht hätte sich daneben etwa auch am "Brandenburg-Test" des U.S. Supreme Court zur Meinungsfreiheit orientieren können, der die Wahrscheinlichkeit eines unmittelbar bevorstehenden gesetzwidrigen Handelns verlangt ("imminent lawless action"; vgl. Brandenburg v. Ohio, 395 U.S. 444, 447-48 [1969]).
Der Brokdorf-Beschluss legte die Latte für Versammlungsverbote daher zu Recht hoch – und machte so Ernst mit den großen Worten von der "konstituierenden" Bedeutung des Grundrechts für die Demokratie. So hielt er fest, dass sogar gewalttätige Ausschreitungen einer Minderheit – wie in Brokdorf – danach grundsätzlich nicht für ein Verbot ausreichen können: Die Minderheit hätte es sonst in der Hand, Demonstrationen "umzufunktionieren": "[P]raktisch könnte dann jede Großdemonstration verboten werden, da sich nahezu immer 'Erkenntnisse' über unfriedliche Absichten eines Teiles der Teilnehmer beibringen lassen" (BVerfGE 69, 315 [361]).
Das heißt allerdings nicht, dass Versammlungen nicht unterbunden werden könnten, von denen militante Einschüchterungswirkungen ausgehen oder die als Ganze unfriedlich verlaufen. Die Versammlungsfreiheit ist kein Grundrecht auf gewalttätige Randale, wie sie etwa beim G20-Gipfel in Hamburg 2017 zu besichtigen war. Sie gibt jedoch denjenigen einen robusten grundrechtlichen Schutz, die an friedlichen Demonstrationen teilnehmen wollen – wie dies auch beim Hamburger Gipfel eben auch Zehntausende taten.
Die Versammlungsfreiheit ist unbequem
Wenn heute Schüler anlässlich der "Fridays For Future" demonstrieren, ist das hohe Gewicht der Versammlungsfreiheit ebenfalls zu beachten. Von Grundrechts wegen kann jedenfalls für einzelne Demonstrationsteilnahmen an Beurlaubungen zu denken und bei der Sanktionierung von Schulpflichtverletzungen Zurückhaltung geboten sein. Das entspricht auch der unter dem Grundgesetz geltenden Vermutung für die Freiheit der Rede, die vor allem auch in Fragen greift, die die Öffentlichkeit wesentlich berühren (vgl. BVerfGE 7, 198 [212]). Denn was könnte die Öffentlichkeit wohl stärker berühren als das Schicksal der gesamten Menschheit angesichts der verheerenden Folgen einer drohenden Klimakatastrophe?
Versammlungs- und Meinungsfreiheit sind unbequeme Grundrechte. Sie dienen gerade auch dem Schutz jener andersdenkenden Minderheiten, deren Interessen in den Parlamenten und im politischen "Mainstream" nicht – oder aus der Sicht ihrer Anhänger jedenfalls nicht ausreichend – vertreten sind. Solchen Gruppen ein Protestventil zu geben, kann gerade in einer vorwiegend repräsentativ strukturierten Demokratie, wie das Grundgesetz sie bislang vorsieht, eine wesentliche stabilisierende Funktion haben.
Das schließt richtigerweise grundsätzlich auch solche Gedanken und Meinungen mit ein, die wir hassen – "freedom for the thought that we hate", wie der Richter des U.S. Supreme Court Holmes es in einem Sondervotum formulierte (U.S. v. Schwimmer, 279 U.S. 644, 654-55). Die scharfen Instrumente der streitbaren Demokratie, wie das Parteiverbot, setzen erst bei einem hinreichenden Gefährdungspotenzial ein.
70 Jahre Grundgesetz – nicht ohne Grund
Das Grundgesetz verdient es an seinem 70. Geburtstag gerade auch deshalb gefeiert zu werden, weil es auch die Feinde der Freiheit nur mit rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft und auch ihre grundrechtlichen Freiheiten – in Grenzen – sichert, einschließlich des Rechts, die Verfassung selbst und ihre Werte abzulehnen.
Die Verfassung baut zwar auf der Erwartung auf, dass wir uns ihre Werte zu eigen machen, sie erzwingt aber diese Werteloyalität nicht. Sie gehört zu jenen Voraussetzungen, von denen der freiheitliche, säkulare Staat lebt, die er aber – nach Böckenfördes Diktum – nicht selbst durch Rechtszwang garantieren kann, weil er damit, wie Katharina Mangold erläutert, gerade jene "Unterscheidung von Rechts- und Gesinnungskontrolle menschlichen Handelns" unterlaufen würde, die "so zentral ist für die Verbürgung von Freiheit".
Die freiheitliche demokratische Verfassungsordnung kann deshalb zwar, will sie freiheitlich bleiben, die Voraussetzungen, von denen sie lebt, nicht selbst durch Rechtszwang garantieren – sie kann und darf sie allerdings durchaus fördern, wie auch Böckenförde selbst betont hat. So muss die Demokratie ihre eigenen Feinde nicht finanzieren (vgl. Art. 21 Abs. 3 GG) – und sie darf und sollte diejenigen (etwa auch steuerlich) begünstigen, die sich für die freiheitliche Verfassungsordnung einsetzen.
Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebote mögen zwar Amtsträger daran hindern, sich für oder gegen bestimmte Gruppierungen oder Versammlungen auszusprechen. Die Verfassung untersagt es ihnen aber nicht nur nicht, sondern die Treue zur Verfassung verlangt von ihnen geradezu, dass sie sich hinter die Verfassung und ihre Werte stellen, sie gegen Infragestellungen verteidigen (vgl. Art. 5 III 2, Art. 56 und Art. 64 II GG) – und den 70. Jahrestag des Grundgesetzes gerade auch dadurch gebührend begehen, dass sie dazu beitragen, den "Willen zur Verfassung" nach Kräften zu stärken.
Priv.-Doz. Dr. Mathias Hong nimmt derzeit die Entlastungsprofessur für Öffentliches Recht (Vertretungsprofessur) an der Goethe-Universität Frankfurt am Main wahr.
70 Jahre Grundgesetz - die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG: . In: Legal Tribune Online, 16.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35417 (abgerufen am: 06.10.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag