Die Ampel-Koalition hat im Vorjahr das Wahlrecht reformiert. Doch war das verfassungsgemäß? Am Dienstag verhandelte darüber das Bundesverfassungsgericht – mit viel politischer Prominenz. Christian Rath berichtet aus Karlsruhe.
Die Ampel-Koalition hat im März 2023 das Wahlrecht grundlegend geändert. Eine breite Front von Klägern will verhindern, dass dieses Wahlrecht bestehen bleibt und hat beim Bundesverfassungsgericht geklagt. Umstritten ist zum einen, dass ein Wahlkreis künftig ohne Direktmandat bleiben kann und zum anderen, dass die Grundmandateklausel abgeschafft wurde.
Für die mündliche Verhandlung wurden sieben Klagen in vier Gruppen ausgewählt, zum ersten eine Normenkontrolle von 195 Abgeordnete von CDU/CSU, zum zweiten eine Normenkontrolle des Lands Bayern und eine Organklage der CSU, zum dritten Organklagen der Linken als Partei und als Bundestagsfraktion sowie mit zweihundert Personen als Verfassungsbeschwerde, zum vierten der Verein "Mehr Demokratie", der eine Verfassungsbeschwerde von 4.200 Personen koordinierte.
Problem 1: Wahlkreissieger und trotzdem kein Mandat
Die Wahlrechtsreform wurde erforderlich, weil der Bundestag immer größer wurde. Statt der vorgesehenen 598 Abgeordneten hat er in der laufenden Wahlperiode 734 Sitze. Schuld sind Überhang- und Ausgleichsmandate. Die Überhangmandate entstanden, wenn eine Partei mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmen-Ergebnis Sitze zustehen. Damit das Wahlergebnis dadurch nicht verzerrt wird, erhielten die anderen Parteien seit 2013 Ausgleichsmandate. Überhang- und Ausgleichsmandate hat der Bundestag mit der Ampelmehrheit vor einem Jahr abgeschafft, um die Größe des Bundestags verlässlich auf 630 Sitze zu begrenzen. Jede Partei soll nur noch so viele Sitze bekommen, wie ihrem Zweitstimmen-Ergebnis entspricht. Die Wahlkreis-Sieger mit den niedrigsten Prozent-Anteilen gehen deshalb leer aus.
"Das Grundvertrauen in demokratische Wahlen ist massiv erschüttert, wenn die Wahl im Wahlkreis in vielen Fällen keine Entscheidung herbeiführt, keinen Gewinner hat", kritisierte der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt in der heutigen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht. "Mandate werden in diesem System nicht mehr gewonnen, sondern zugeteilt", ergänzte CDU-Chef Friedrich Merz. "Wenn man das Wahlergebnis von 2021 zugrundelegt, wären in Bayern 7 von 47 Wahlkreisen verwaist geblieben, hätten also keinen direkt gewählten Abgeordneten", rechnete Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) vor.
Für den Bundestag verteidigte der Berliner Rechtsprofessor Christoph Möllers die Reform. Der Bundestag habe bei der Ausgestaltung des Wahlrechts einen weiten Gestaltungsspielraum, "er hätte auch ein reines Verhältniswahlrecht ohne Wahlkreise einführen können", so Möllers, "die Wahlkreise wurden aber beibehalten, damit die Kandidaten dezentral aufgestellt werden und im Bundestag nicht nur Vertreter von zentralen Parteilisten sitzen".
Rechtlich rügt die Unions-Seite vor allem eine Verletzung des Demokratieprinzips. Die Integrationsfunktion von Wahlen werde verletzt, wenn Wahlkreise ohne direkt gewählten Abgeordneten bleiben. Sie unterstützte zwar grundsätzlich das Ziel, den Bundestag zu verkleinern, doch damit könne die Reform der Ampel-Koalition nicht gerechtfertigt werden. "Der Bundestag ist arbeitsfähig", betonte Friedrich Merz, "seine Funktionsfähigkeit ist nicht infrage gestellt."
Problem 2: Wegfall der Grundmandateklausel
Zweiter großer Streitpunkt ist die Streichung der Grundmandateklausel. Danach konnten Parteien, die die Fünfprozenthürde verfehlen, trotzdem ihrem Wahlergebnis entsprechend in den Bundestag einziehen, wenn sie mindestens drei Direktmandate geholt haben.
Zuletzt profitierte davon die Linke, die mit 4,9 Prozent der Stimmen dank dreier Direktmandate doch mit 39 Abgeordneten in den Bundestag einzog. Auch für die die CSU mit bundesweit zuletzt 5,2 Prozent der Stimmen war die Grundmandatsklausel eine Lebensversicherung. "Es kann nicht sein, dass die CSU möglicherweise in 47 Wahlkreisen gewinnt, aber keinen einzigen Abgeordneten stellen darf, weil sie bundesweit nur 4,9 Prozent holte", protestierte Dobrindt, "die bayerischen Wähler werden dafür bestraft, dass sie eine bayerische Partei gewählt haben."
Für die Linke drohte Gregor Gysi, der seit 1990 immer ein Direktmandat errang, er werde bei der nächsten Wahl als Unabhängiger antreten. Dann könne er das errungene Mandat einnehmen, das ihm das neue Wahlrecht verwehrt, wenn er für die Linke kandidiert und die Partei bundesweit unter 5 Prozent bleibt. "Diese Ungleichbehandlung ist nicht zu rechtfertigen", kritisierte Gysi. Falls das Bundesverfassungsgericht dies beanstandet, wären mehrere Lösungen möglich. So könnte die Grundmandateklausel beibehalten werden, aber vielleicht auf einem höheren Niveau. Die CDU/CSU hat im Gesetzgebungsverfahren die Anhebung auf fünf Grundmandate vorgeschlagen. "Dann bleiben sie drin und wir sind draußen", kritisierte Gysi, "das ist auch nicht moralisch."
Da es sich um eine verfassungsrechtlich gebotene Grundmandateklausel handeln würde, müsste die Zahl der Grundmandate aber noch deutlich höher liegen, vielleicht bei 15. Alternativ wird in Karlsruhe als Ausgleich auch über eine Absenkung der 5-Prozent-Hürde diskutiert. Der Verein "Mehr Demokratie" forderte dies explizit. Die Streichung der Grundmandateklausel müsse kompensiert werden, indem die Sperrklausel weniger restriktiv ausgestaltet wird. "Nach aktuellen Umfragen würden bei der kommenden Bundestagswahl 15,6 Prozent der Wähler im Parlament nicht vertreten, weil ihre Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Auch die CSU schlug eine Modifikation der Sperrklausel vor. Die Fünf-Prozent-Hürde solle nur noch auf Landesebene gelten.
Wechselstimmung in Karlsruhe
Schon weil sich niemand einen Bundestag ohne CSU-Abgeordnete vorstellen kann, bestand in Karlsruhe von Beginn an eine gewisse Erwartung, dass das Gesetz nicht unbeanstandet aus dem Verfahren hervorgehen wird. Friedrich Merz forderte das Bundesverfassungsgericht denn auch auf, "relativ schnell" zu entscheiden, damit der Bundestag noch rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl ein neues Gesetz beschließen kann. Gregor Gysi erinnerte daran, dass am 27. Juni eigentlich die Aufstellung von Wahlkreisbewerber:innen beginnen kann.
Auch den Richter:innen ist die Dringlichkeit der Lage bewusst. Senatspräsidentin Doris König sagte beim Jahrespresseempfang des Gerichts im März, der Zweite Senat widme sich derzeit mit ganzer Kraft den Wahlrechtsfragen. Federführend im Zweiten Senat ist Richterin Astrid Wallrabenstein. Sie hat bereits im Herbst 2023 mit der Bearbeitung der Klagen begonnen. Der eigentlich zuständige Richter Peter Müller hatte dies durch eine Überlastungsanzeige in seinen letzten Amtsmonaten ermöglicht. Bei der Neuregelung der Geschäftsordnung im Dezember übernahm Wallrabenstein dann auch ganz offiziell das Wahlrecht. Die Verhandlung soll am Mittwoch enden. LTO wird auch am Mittowch berichten. Das Urteil wird vermutlich in einigen Wochen verkündet.
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BVerfG verhandelt über das Wahlrecht: . In: Legal Tribune Online, 23.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54395 (abgerufen am: 08.10.2024 )
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