Merkel eine "dumme Schlampe", Habeck ein "Schwachkopf", Scholz ein "Volksschädling": § 188 StGB sieht einen besonderen Ehrschutz für Politiker vor. Ein aktuelles Urteil des BayObLG zeigt, wie schwer sich die Gerichte mit der Norm tun.
Politiker sind es gewohnt, ständig in der öffentlichen Kritik zu stehen – doch wann überschreitet solche Kritik die Grenze zur strafbaren Beleidigung? Eine Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG) hat das konkretisiert und hebt die Hürden für deren besonderen Ehrenschutz nach § 188 Strafgesetzbuch (StGB) an. Danach zählt nicht nur der Inhalt einer scharfen Bemerkung, sondern auch der Kontext und die Reichweite der Äußerung. Im konkreten Fall bleibt ein Demonstrant, der Bundeskanzler Olaf Scholz als "Volksschädling" bezeichnete, daher strafrechtlich unbelangt (Urt. v. 06.03.2025, Az. 206 StRR 433/24).
Der Sachverhalt ist nicht besonders kompliziert: Bei einer Demonstration in Ingolstadt im Frühjahr 2022, die sich gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung richtete, präsentierte ein Mann ein Plakat, das unter anderem den Bundeskanzler Olaf Scholz als "Volksschädling" bezeichnete. Neben Scholz fanden sich auch Abbildungen von Innenministerin Nancy Faeser und Wirtschaftsminister Robert Habeck auf dem Plakat wieder. Auch sie kritisierte das Pappschild scharf: So wurden darauf Faeser mit dem Untertitel "10-Punkte-Plan zur Volksvernichtung" und Habeck mit der Aussage "Vaterlandsliebe findet er zum Kotzen" bedacht.
Nach der Sicherstellung des Plakats durch die Polizei verzichtete das Bundeskanzleramt auf eine Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft erhob dennoch Anklage, allerdings wenig erfolgreich: In erster Instanz sprach das Amtsgericht (AG) Ingolstadt den Angeklagten frei. Dabei wollte es die Staatsanwaltschaft aber nicht belassen und legte Berufung ein. Doch auch das Landgericht (LG) Ingolstadt bestätigte den Freispruch. Das BayObLG, das über die Revision entscheiden musste, sah nun auch keine Strafbarkeit.
Im Mittelpunkt des Verfahrens vor dem BayObLG stand die Frage, ob die Bezeichnung "Volksschädling" eine strafbare Beleidigung gegen Personen des politischen Lebens nach § 188 Abs. 1 StGB darstellt, also den besonderen Ehrenschutz für Politiker verletzt.
Das Besondere an der "Politikerbeleidigung" nach § 188 StGB
Generell gilt: Wer einen anderen beleidigt, macht sich nach § 185 StGB (Beleidigung) strafbar. Das Strafrecht bewegt sich hier in einem juristischen Spannungsfeld, nämlich dem zwischen Meinungsfreiheit (Art. 5 Grundgesetz (GG)) und Ehrschutz (§ 185 StGB). Nicht jede scharfe Kritik oder polemische Äußerung ist danach strafbar, es kommt bei der Beleidigung auch auf die Gesamtumstände an. Entscheidend ist dabei etwa nicht nur die Wortwahl, sondern auch der Kontext: War eine Äußerung zum Beispiel Teil einer politischen Debatte oder ein gezielter persönlicher Angriff? Wie groß war die Reichweite des Gesagten? Hätte man die Äußerung auch anders interpretieren können? Diese und viele andere Faktoren – eben die Gesamtumstände – bestimmen, ob eine Aussage als zulässige Meinungsäußerung oder als strafbare Beleidigung gewertet wird.
Liegt eine Beleidigung nach § 185 StGB vor, kann das Besondere der "gegen Personen des politischen Lebens gerichtete Beleidigung" aus § 188 Abs. 1 StGB (umgangssprachlich besser bekannt als "Politikerbeleidigung") ins Spiel kommen. Danach genießen Personen des politischen Lebens einen besonderen Ehrenschutz, wenn eine Beleidigung geeignet ist, ihr "öffentliches Wirken erheblich zu erschweren". Auch dabei wurde bisher ausschließlich auf den Inhalt der Äußerung abgestellt. So hatte etwa das Oberlandesgericht Zweibrücken im Fall eines Facebook-Nutzers, der Ex-Kanzlerin Angela Merkel dort als "Dumme Schlampe" bezeichnet hatte, entschieden, dass es sich um "Politikerbeleidigung" handele, auch wenn der Facebook-Account mit wenigen Hundert Followern sehr klein war.
Anders entschieden hat nun das BayObLG im Fall von "Volksschädling" Scholz. Es war überzeugt, dass auch bei § 188 StGB die Gesamtumstände maßgeblich seien, so wie es bei der "normalen" Beleidigung nach § 185 StGB schon der Fall ist. Damit weicht das Gericht von anderen Gerichten ab und setzt eine höhere Hürde für die Strafbarkeit nach § 188 Abs. 1 StGB. So erfülle nicht jede drastische Äußerung gegen einen Politiker automatisch den Tatbestand der "Politikerbeleidigung". Vielmehr müsse konkret geprüft werden, ob eine Aussage tatsächlich abstrakt geeignet ist, die politische Arbeit des Betroffenen ernsthaft zu beeinträchtigen. So urteilte auch schon das LG Ingolstadt in der Vorinstanz.
Nur 100 Leute auf kleiner Corona-Demonstration
Das BayObLG ging dabei noch über das LG Ingolstadt hinaus. Letzteres hatte im "Volksschädling"-Plakat zwar keine "Politikerbeleidigung", wohl aber eine Beleidigung nach § 185 StGB gesehen. Da das BayObLG schon keine gewöhnliche Beleidigung sah, musste es auch eine "Politikerbeleidigung" verneinen.
Es ergänzte aber in seiner Entscheidung ausdrücklich, dass es auch keine "Politikerbeleidigung" gesehen hätte, selbst wenn es von einer gewöhnlichen Beleidigung ausgegangen wäre. Die Bezeichnung "Volksschädling" könne, so das BayObLG, das öffentliche Wirken des Bundeskanzlers nämlich gar nicht ernsthaft beeinträchtigen. Im Gegensatz zu falschen Tatsachenbehauptungen, die sich weiterverbreiten könnten, werde die Bezeichnung als "Volksschädling" vermutlich keine nennenswerten Auswirkungen haben und einfach verpuffen. Zudem hätten auf der kleinen Demonstration nur etwa 100 Personen von der Bemerkung Kenntnis nehmen können.
BayObLG verweist auf BGH- und BVerfG-Rechtsprechung
Bislang hatte der Bundesgerichtshof (BGH) zur Vorgängervorschrift der "Politikerbeleidigung" in § 188 StGB – dem früheren § 187a StGB – vertreten, dass allein der Inhalt einer Äußerung entscheidend sei, nicht aber deren Reichweite oder die Umstände der Verbreitung. Diese Sichtweise stützte der BGH auf den Wortlaut der alten Vorschrift und ihren Zweck: Der Schutz der politischen Persönlichkeiten solle unabhängig von der konkreten Verbreitung einer ehrverletzenden Aussage greifen.
Bereits damals gab es Kritik aus der Literatur an dieser Rechtsprechung, die insbesondere darauf verwies, dass der Wortlaut des Gesetzes ("ist die Tat geeignet …") Spielraum für eine umfassendere Betrachtung ließ. Nunmehr hat das BayObLG diese Kritik aufgegriffen und für die neue Fassung der "Politikerbeleidigung" in § 188 Abs. 1 StGB klargestellt: Es genüge nicht mehr, nur die Äußerung selbst zu betrachten – vielmehr müssten auch die Begleitumstände und Auswirkungen einbezogen werden.
Das Gericht stützt diese Auslegung auf den Gesetzeswortlaut: Der Begriff "Tat" werde im StGB nicht nur für die eigentliche Handlung verwendet, sondern umfasse regelmäßig auch deren Kontext. Eine solche Auslegung findet sich etwa bei der Strafzumessung oder der Vermögensabschöpfung, wo ebenfalls nicht allein die Handlung, sondern das gesamte Geschehen maßgeblich ist.
Darüber hinaus hebt das BayObLG hervor, dass sich die Deliktsstruktur von § 188 StGB Abs. 1 und Abs. 2 unterscheidet: Während sich Abs. 2 auf Tatsachenbehauptungen bezieht (die objektiv überprüfbar sind), betrifft Abs. 1 Werturteile. Gerade bei Werturteilen habe das Bundesverfassungsgericht längst klargestellt, dass für die Beleidigungsstrafbarkeit nach § 185 StGB stets die Gesamtumstände entscheidend seien. Es wäre laut BayObLG daher widersprüchlich, bei § 188 Abs. 1 StGB allein auf den Äußerungsinhalt abzustellen.
Ein weiteres Argument des BayObLG: Werturteile bärgern – anders als Tatsachenbehauptungen – nicht dasselbe Risiko der unkontrollierten Weiterverbreitung. Während falsche Tatsachenbehauptungen oft als objektiv wahr wahrgenommen und ungeprüft weitergetragen würden, blieben persönliche Meinungen in der Regel als subjektive Einschätzungen erkennbar. Dies rechtfertige eine differenzierte Betrachtung im Rahmen von § 188 Abs. 1 StGB.
Mit seinem Urteil gibt das BayObLG den Ehrschutz von Politikern damit nicht auf, tariert ihn aber weiter in Richtung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 GG aus.
Kritik an der "Politikerbeleidigung" ist ein Dauerbrenner
Das BayObLG ist mit seiner Kritik an einer zu engen Handhabe von § 188 StGB nicht allein. Bereits die Vorinstanz hatte Bedenken geäußert, dass die Einbeziehung der Beleidigung aus § 185 StGB in den Qualifikationstatbestand problematisch sei. Während bei übler Nachrede oder Verleumdung, die § 188 Abs. 2 StGB in die "Politikerbeleidigung" einbezieht, durchaus Fälle denkbar seien, in denen das öffentliche Wirken erheblich erschwert wird – etwa durch falsche Korruptionsvorwürfe –, sei dies bei bloßen Beleidigungen nur schwer vorstellbar.
Das BayObLG verweist in diesem Zusammenhang auf den Gesetzgebungsprozess: Die Erweiterung des § 188 StGB auf Beleidigungen sei nicht etwa aus einer umfassenden Analyse heraus getroffen, sondern auf Initiative des Bundesrates kurzerhand in das Gesetz aufgenommen worden – ohne weitergehende Prüfung oder Beteiligung der Praxis. Die kurzfristige Änderung im Gesetzgebungsprozess habe zu einer Norm geführt, die in der Praxis schwierig handhabbar sei.
Tatsächlich tun sich die Gerichte bisher schwer, sinnvolle Abgrenzungskriterien zu entwickeln. Auch das OLG Zweibrücken warnte im "Dumme Schlampe"-Fall bereits vor "kaum handhabbaren Abgrenzungsschwierigkeiten", wenn auch die Begleitumstände einer Äußerung zu berücksichtigen seien. Das ist aus Sicht des BayObLG zwar kein gutes Argument, doch bleibt das Grundproblem bestehen: Kann eine bloße Beleidigung – unabhängig von äußeren Umständen wie etwa ihrer Reichweite – wirklich "das öffentliche Wirken einer politischen Person erheblich erschweren"?
Ein umstrittenes Privileg für die Politik
Neben den Gerichten spart auch die Politik selbst nicht mit Kritik an der Norm. Bereits im Dezember 2024 forderte Stephan Brandner (AfD) die Abschaffung des Paragrafen, den er als "Sonderrecht" für Politiker kritisierte. Er warf der damaligen Regierung vor, sich durch die Einführung der Regelung vor Kritik zu schützen, anstatt sich mit dieser auseinanderzusetzen. Besonders damalige Minister wie Habeck hätten den Paragrafen missbraucht, um Tausende Strafanzeigen zu stellen. "Sie wehren sich nicht durch gute Politik, sondern durch drangsalierende Maßnahmen gegen die Bürger", sagte Brandner.
Dagegen argumentierte etwa Dunja Kreiser (SPD), die den Paragrafen als notwendig für den Schutz der Demokratie verteidigte. Ihrer Meinung nach geht es nicht darum, Kritik zu unterdrücken, sondern gezielt Hetze und Verleumdung zu verhindern. Carsten Müller (CDU/CSU) stimmte ihr zu und erinnerte an den Ursprung des Paragrafen: Der Mord am Landtagsabgeordneten Walter Lübcke habe gezeigt, dass ungebremsten Worten über kurz oder lang gravierende Taten folgten. Das entbinde Politiker natürlich nicht von ihrer Pflicht, sich mit Kritik an ihrer Arbeit auseinandersetzen zu müssen.
Katharina Willkomm (FDP) lehnte den Paragrafen ab mit dem Argument, dass Beleidigungen grundsätzlich strafbar sind, unabhängig davon, ob sie Politiker betreffen. Sie warnte davor, die Meinungsfreiheit und Diskussionskultur zu gefährden. Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) betonte, dass Beleidigungen der Anfang von Schlimmerem sein könnten.
BayObLG verneint "Politikerbeleidigung": . In: Legal Tribune Online, 25.03.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56791 (abgerufen am: 19.04.2025 )
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