Zwischenruf von Gisela Friedrichsen: O.u. - Offensichtlich unbegründet

Gisela Friedrichsen

12.05.2010

Die Erfolgsquote von Verfassungsbeschwerden ist mindestens doppelt so hoch wie die der erhobenen Verfahrensrügen vor dem BGH. Verteidiger kritisieren vor allem den 1. Strafsenat und beklagen die faktische Abwesenheit einer Revisionsinstanz. Ein Kommentar von Gisela Friedrichsen zum Verschwinden absoluter Revisionsgründe.

Bayern im Jahr 2008: Nachdem sie fünf Jahre lang von einer einschlägigen Beratungsstelle intensiv betreut worden war, zeigt eine mittlerweile 20 Jahre alte Frau ihren Stiefvater an, sie als Dreizehnjährige sexuell missbraucht zu haben. Der Mann wird festgenommen und verbringt bis zur Hauptverhandlung vor einer Strafkammer eines bayerischen Landgerichts ein Jahr in U-Haft.

Vor Gericht wird er nach zwei Stunden Verhandlung zu einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt. Die Feststellungen fußen nicht auf den Angaben der vermeintlich Geschädigten vor Gericht, denn auf ihr Erscheinen war verzichtet worden. Sie fußen auch nicht auf detaillierten Angaben des Angeklagten. Sie beruhen allein auf der 20 Minuten dauernden Vernehmung einer Kriminalbeamtin, die die angeblich Geschädigte vernommen hatte, sowie auf einer knappen Erklärung des Verteidigers, die vorgeworfenen Taten seien zutreffend, was der Angeklagte abnickt. Das reicht der Kammer zur "Beweiswürdigung" und zur Verurteilung des Angeklagten.

Der Mann aber hatte von Anbeginn der Beschuldigungen an bestritten, seiner Stieftochter je zu nahe gekommen zu sein. Sogar nach dem Abnicken des "Geständnisses" bekräftigt er nochmals gegenüber seinem Verteidiger: "Aber Sie wissen, dass das alles nicht stimmt!"

Beweismittel sonstiger Art oder Indizien, die für seine Täterschaft sprachen, gab es nicht. Folgerichtig hatte die Staatsanwaltschaft eine Psychologin mit der Erstellung eines Gutachtens zur Frage der Glaubhaftigkeit der Angaben der mutmaßlich Geschädigten beauftragt. Ergebnis: Mit hoher Wahrscheinlichkeit seien die Angaben erlebnisbezogen.

Gericht befasst sich nicht mit entgegengesetztem Gutachten

Da der Mandant weiterhin bestritt, ließ die Verteidigung das Gutachten der Psychologin von einem - fast möchte man sagen: unabhängigen, weil nicht regelmäßig von der Staatsanwaltschaft beauftragten - Fachkollegen überprüfen. Sein Resultat: Die Psychologin habe in der Exploration die Zeugin derart massiv suggestiv beeinflusst, dass nicht nur dringend davon abzuraten sei, ihrer überdies mit weiteren erheblichen methodischen Mängeln behafteten Analyse zu folgen, sondern auch Zweifel an der Ergebnisoffenheit der Gutachterin bestünden.

Ungeachtet dessen stellt das Gericht, das sich offensichtlich mit den diametral entgegengesetzten Gutachten nicht zu befassen gedenkt, vor der Hauptverhandlung nach einem Gespräch mit Staatsanwalt und Verteidiger in Aussicht, bei geständiger Einlassung eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als viereinhalb Jahren zu verhängen. Außerdem würde in diesem Fall der Haftbefehl aufgehoben.

Der Verteidiger spricht von 9.23 Uhr bis 9.28 Uhr, also fünf Minuten, mit dem Angeklagten und rät ihm händeringend, dieses Angebot anzunehmen. Die "Karten" stünden nämlich schlecht. Der Vorsitzende habe durchblicken lassen, dass er dem Mädchen glaube. Wenn der Angeklagte nicht einwillige, sei mit einer deutlich höheren Freiheitsstrafe zu rechnen und insbesondere sei nicht zu erwarten, dass der Haftbefehl aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt werde.

Der Mann war zu dieser Zeit körperlich und seelisch am Ende. Er war im Gefängnis zusammengeschlagen und vergewaltigt worden, hatte 17 Kilo an Gewicht verloren, litt unter Magengeschwüren sowie starkem Asthma und war suizidgefährdet. Seine Werbeagentur stand vor dem Ruin. Die Ehefrau und die drei gemeinsamen Kinder wussten nicht mehr, wie sie mit der Situation fertig werden sollten.

Anwälte drängen Mandanten zur Einwilligung in "Deal"

Sein ursprünglich mit der Sache befasster Verteidiger hatte das Mandat rasch niedergelegt, weil das von ihm geforderte Honorar nicht so schnell wie gewünscht zu beschaffen war. Ein zweiter Pflichtverteidiger zog sich ebenfalls zurück, nicht ohne jedoch wie sein Kollege zuvor dem Angeklagten zu einem "Deal" geraten zu haben. Auch eine Anwältin, die ihm von einem Freund empfohlen worden war, bedrängte den Mann, es sei klüger, auf einen "Deal" einzugehen, da dann "wenigstens eine Perspektive" bestünde. Denn vom zuständigen Staatsanwalt hatte sie erfahren, dass bei "weiterem Leugnen" von mindestens sieben Jahren Freiheitsstrafe auszugehen sei. Selbst die Ehefrau, die sich um den desolaten Zustand ihres Mannes sorgte, wirkte darauf hin, dass er sich auf einen "Deal" einlasse - obwohl er immer wieder sagte, er habe dem Mädchen nie etwas getan.

Der Angeklagte erklärte sich mit dem vorgeschlagenen Deal einverstanden. Er hatte keine Kraft mehr. Er glaubte den Anwälten, die es wissen müssen – und die seine Chancen, ein Revisionsverfahren anzustrengen, gegen null einschätzten.

Mittlerweile verbüßt der Mann seine Strafe im geschlossenen Vollzug. Da er noch immer nicht geständig ist und sich nicht reuevoll zeigt, gilt er als nicht therapierbar. Lockerungen werden nicht gewährt, weil er als Sexualstraftäter ein zu hohes Risiko für die Allgemeinheit darstelle.

Wie hätten Sie sich als Angeklagter entschieden? Oder was hätten Sie als Strafverteidiger dem Mann geraten? Sämtliche Anwälte, mit denen der Mann bis zur Verurteilung zu tun hatte, rieten mangels Erfolgsaussicht davon ab, Revision einzulegen. Denn man befand sich in Bayern und damit im Herrschaftsbereich des 1. Strafsenats, des "Kahn-Senats". Der Titan, der alles hält.

"Strafzumessungsrevision braucht man gar nicht mehr zu machen"

Gern heißt es, es gebe doch auch andere Senate als nur den berüchtigten ersten, dessen Vorsitzender einmal ein liberaler, die Rechte eines Beschuldigten hochhaltender Mann war. Doch was hilft dies dem Bürger in Süddeutschland? "Eine Strafzumessungsrevision braucht man gar nicht mehr zu machen", winken Münchener Revisionsspezialisten ab. Aus Karlsruhe bekomme man selbst angesichts extremer verfahrensrechtlicher Verstöße nur zu hören: "Warum lassen Sie ‘s denn nicht endlich sein? Warum probieren Sie es immer wieder?"

Gunter Widmaier, der 38 Jahre BGH-Revisionsrechtsprechung überblickt, hat unlängst auf dem 13. Strafverteidiger-Frühjahrssymposium in Karlsruhe den Abgesang auf dieses Rechtsmittel intoniert. Norbert Gatzweiler hält es inzwischen für eine Fata Morgana und versucht "um jeden Preis", schon in der Instanz zu einem vernünftigen Ergebnis zu gelangen - was meist dauert. Bayerische Strafverteidiger murren immer lauter über die auch andere BGH-Senate ansteckende revisionsverhindernde Spruchpraxis des 1. Strafsenats: "Wenn es für den Bürger, der zufällig mal das Pech hat, vor ein Landgericht zu geraten, keine nächste Instanz mehr gibt, die sich kritisch mit dem Urteil auseinandersetzt, dann ist doch der Rechtsstaat so gut wie abgeschafft."

Natürlich gibt es schlechte Verteidiger, die rügen, was nicht zu rügen ist und mit ihrem Dilettantismus die Bundesrichter nerven. Doch warum wurden früher Verfahrensrügen in Karlsruhe ernst genommen und heute so gut wie gar nicht mehr? Wer erinnert sich noch an die letzte erfolgreiche Besetzungsrüge? Mir, der Beobachterin, fällt auf, wie unbesorgt inzwischen Gerichte die Öffentlichkeit ausschließen, weil es anscheinend nicht mehr darauf ankommt, wie der Ausschluss begründet wird, ja, ob er überhaupt begründet wird. Dieser "absolute Revisionsgrund" - er war einmal.

Mir fällt auch auf, wie ungeniert Richter mittlerweile der Verteidigung Fristen setzen zur Stellung von Beweisanträgen, wie sie Druck ausüben. War das nicht einmal anders? Ertönt nur das Wort "Verschleppungsabsicht", das auch von den Medien mit Wonne aufgenommen wird - so mancher Verteidiger knickt eingeschüchtert ein. Warum wird nicht rebelliert? Was ist mit den Standesorganisationen? Hat, wer aufmuckt, schon von vornherein verloren?

Verteidiger fühlen sich diszipliniert und an die Leine gelegt. Sie erleben immer öfter, wie offensichtliche Rechtsfehler mit einem Einzeiler und dem unseligen "o.u." - offensichtlich unbegründet - erledigt werden, wenn sich der Senat nur einig ist. Sie erleben, wie Angeklagte in abstruse Absprachen hineingezwungen werden, zu denen es keine Alternative mehr gibt, weil die Hoffnung auf eine Revision des Urteils weggeschmolzen ist wie Schnee von gestern. Soll das die Zukunft sein?

Zitiervorschlag

Zwischenruf von Gisela Friedrichsen: . In: Legal Tribune Online, 12.05.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/518 (abgerufen am: 14.10.2024 )

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