Zweifelhafte Rechtsprechung zur NS-Zeit in der frühen BRD: Rätsel um eine ver­schwun­dene Arm­banduhr

von Martin Rath

23.03.2025

Wer bis 1945 als Beamter tätig war, hatte seit 1951 gute Aussichten, wieder staatlich alimentiert zu werden. Eine Entscheidung aus dem Jahr 1955 ist dabei einigermaßen makaber – es ging um einen weit zurückliegenden "Kameradendiebstahl".

In den ersten anderthalb Jahrzehnten ihrer Existenz wurden in der Bundesrepublik Deutschland einige Gesetze in Kraft gesetzt, die für die Wirtschafts- und Sozialordnung des neu verfassten Staates gravierende Auswirkungen hatten – teils bis heute.

Zu den prominenten legislativen Vorhaben, die während der langen Kanzlerschaft von Konrad Adenauer (1876–1967) zwischen 1949 und 1963 angegangen wurden, zählte die heikle Rentenreform von 1957, mit der die Altersrente erheblich erhöht wurde, ohne allerdings allzu viele Gedanken darauf zu verschwenden, wie sich dieser einseitige "Generationenvertrag" auf die biologische Reproduktion der westdeutschen Gesellschaft auswirken würde. Dass sie dazu beitrug, ein Leben als abhängig Beschäftigter zum Regelmodell zu machen, war hingegen beabsichtigt – wer unternehmerisch handeln möchte, ist seither dem Verdacht ausgesetzt, unzulässige Risiken einzugehen.

Weniger geläufig ist, dass der Bundestag zu Bonn auch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) noch in der Ära Adenauer beschloss, es trägt stellvertretend die Unterschrift von Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard (1897–1977). Es trat im Jahr 1962 in Kraft – zufällig ein Jahr nachdem die DDR-Regierung mit dem Bau der Berliner Mauer und dem Ausbau der Grenzschutzanlagen eine Zuwanderung aus dem Osten weitgehend beendet hatte.

Weniger präsent in der öffentlichen Wahrnehmung dürften heute das LAstenausgleichsgesetz (LAG) von 1952 und das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen (131er-Gesetz) aus dem Jahr 1951 sein.

Auf Grundlage des LAG wurde eine Abgabe auf Unternehmens- und Immobiliarvermögen von 50 Prozent erhoben, die Mittel zum Ausgleich von Nachteilen verwendet, die durch Krieg und Vertreibung bzw. die Währungsreform von 1948 entstanden waren.

Das sogenannte 131er-Gesetz erfüllte den Auftrag aus Artikel 131 Grundgesetz (GG), die beamtenrechtliche Versorgung für Beamte und Richter zu regeln, die vor 1945 im Dienst gewesen waren, aber aus politischen Gründen oder weil ihre Behörden in Königsberg oder Danzig, Breslau oder Stettin aufgelöst worden waren, über kein alimentierungspflichtiges Amt verfügten. Die westdeutsche Bundesrepublik sicherte sich damit nicht bloß ihre Loyalität, sondern erlangte gegenüber der DDR auch einen ökonomischen Wettbewerbsvorteil – neue Funktionseliten mussten nicht so rasch ausgebildet werden.

Fortsetzung alter Disziplinarverfahren auch für "131er"-Beamte

Zu den Nebenwirkungen des 131er-Gesetzes zählte, dass insbesondere in armen Regionen Westdeutschlands – etwa in Schleswig-Holstein – ein starker Anreiz bestand, ehemalige Richter und Beamte wieder aktiv zu beschäftigen, denn zu zahlen hatten die Behörden im Rahmen eines Ausgleichsverfahrens für die Alimentation auch jener, die in ihrer Reserveposition, ohne dienstlichen Einsatz, auf eine Stelle warten mussten.

Aber auch in wirtschaftlich bessergestellten Ländern der Bundesrepublik hatte das Gesetz mitunter zur Folge, dass in Behörden und Gerichten nun mehr ehemalige NSDAP-Mitglieder zu finden waren als aktive "Parteigenossen" vor 1945.

Mit welcher Selbstverständlichkeit diese Neu- oder Wiederalimentation erfolgte, belegen insbesondere Disziplinarverfahren aus der NS-Zeit, mit denen sich die neuen Bundesdisziplinargerichte befassen mussten, weil ein seinerzeit aus dem Dienst entfernter Beamter nun wieder oder weiter in den Genuss einer beamtenrechtlichen Versorgung kommen wollte.

Ein etwas makabres Beispiel gibt ein Urteil des Bundesdisziplinarhofs aus dem Jahr 1955.

Bundesdisziplinarhof würdigt SS- und Polizei-Feldgericht

Durch Urteil der Dienststrafkammer Danzig vom 2. Juni 1943 war ein Polizeibeamter aus dem Dienst entfernt worden. Über seine Berufung entschied das Reichsverwaltungsgericht bis 1945 nicht mehr, weil der Mann als Wehrmachtssoldat im Fronteinsatz war.

Bis dahin hatte der Polizist eine damals nicht untypische Karriere gemacht: Nach der Volksschule und einer Lehre zum Bildhauer wurde er seit 1917 als Soldat eingesetzt, 1919 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen.

Nach einem Intermezzo im gelernten Beruf wurde er 1921 Hilfswachtmeister bei der Schutzpolizei der Freien Stadt Danzig, wo er es bis 1937 zum Kriminalassistenten bei der Kriminalpolizei brachte. Die inzwischen typische Ausbildung an einer Hochschule der öffentlichen Verwaltung gab es für Polizisten nicht, dieser Beruf war noch weitgehend am militärischen Vorbild ausgerichtet – ein Umstand, der heute gern außer Acht bleibt, wenn wegen historischer Kontinuitäten bei der Polizei polemisiert wird.

Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs und der Annexion der Freien Stadt Danzig durch das Deutsche Reich im September 1939 wurde der inzwischen 40-jährige Polizist nahtlos weiterbeschäftigt – Danzig war seit 1933, ungeachtet des völkerrechtlichen Sonderstatus, ohnehin faktisch im politischen Gleichschritt mit dem NS-Staat im "Reich" regiert und verwaltet worden.

Bis Ende September 1939 wurde der Beamte aus Danzig zu einem "polizeilichen Einsatzkommando" abkommandiert, das in der polnischen Stadt Płońsk stationiert war, rund 60 Kilometer nordwestlich von Warschau.

Dann wurde er zunächst vorläufig festgenommen, bis Dezember 1939 auf Befehl seiner SS-Einsatzgruppe in sog. Schutzhaft festgehalten, schließlich mangels Fluchtgefahr aus der Haft entlassen. Das zuständige SS- und Polizei-Feldgericht verurteilte ihn am 13. Februar 1940 wegen Kameradendiebstahls und fortgesetzter Plünderung nach §§ 138, 129 Militärstrafgesetzbuch (MStGB) zu neun Monaten Gefängnis, deren Vollstreckung bis zum Ende des Krieges ausgesetzt wurde.

Durch Urteil der Dienststrafkammer Danzig vom 2. Juni 1943 wurde auf Grundlage dieses Feldgerichtsurteils seine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis verfügt.

Mit erheblichen körperlichen Schäden überlebte er den Wehrdienst, gelangte schließlich ins Rheinland, wo er Versorgungsbezüge wegen seiner 80%igen Erwerbsunfähigkeit erhielt – das Disziplinarverfahren war, wie erwähnt, bis zum 8. Mai 1945 nicht rechtskräftig abgeschlossen worden.

Sollten ihm Leistungen nach dem 131er-Gesetz künftig verweigert werden können, müssten die Entscheidungen des SS- und Polizei-Feldgerichts sowie der Dienststrafkammer Danzig weiter Bestand haben.

Surreale Suche nach einer Armbanduhr

Grundsätzlich gingen die Disziplinargerichte der jungen Bundesrepublik davon aus, dass Entscheidungen, die ihre Vorgänger bis 1945 getroffen hatten, Bestand behielten, sofern nicht ausnahmsweise Anlass zu ihrer sachlichen Prüfung bestand.

In diesem Fall sah man sich dazu veranlasst, weil der beschuldigte Polizist vor dem Feldgericht womöglich durch die Verhörsituation stark bedrängt worden war, man auch die 1940 geforderte Anhörung von verfügbaren Zeugen unterlassen hatte.

Der Bundesdisziplinarhof beschloss, den Sachverhalt noch einmal aufzuklären, soweit dies aus dem Abstand von zwölf bis 16 Jahren möglich war.

Feldgericht und Dienststrafkammer Danzig hatten dem Beschuldigten 1940 bzw. 1943 nicht geglaubt, dass er einen – offenbar wertvollen – Wandteppich in Płońsk entgeltlich von einem jüdischen Straßenverkäufer erworben hatte. Dies hatte unter anderem den Vorwurf der Plünderung begründet.

Geradezu surreal in die Einzelheiten ging der Bundesdisziplinarhof 1955 auch beim anderen Vorwurf von 1939/40 bzw. 1943, den des Kameradendiebstahls.

Am Morgen nach einem "kameradschaftlichen" Besäufnis in dem polnischen Schulgebäude, in dem fast 20 abkommandierte Polizeibeamte in Płońsk einquartiert waren, wollte der beschuldigte Polizist aus Danzig aus Versehen seine Armbanduhr mit der eines Kollegen vertauscht und deshalb an sich genommen haben.

16 Jahre nach den Vorgängen wird aus der Akte und neuen Zeugenaussagen etwa rekonstruiert: "Beim Aufstehen herrschte große Unordnung. Der ebenfalls in der Stube untergebrachte Fritz K., der als etwas zerfahrener Mensch bekannt war, legte eine Armbanduhr, die der Uhr des Beschuldigten äußerlich glich, auf irgendeinen fremden Koffer, der neben dem Koffer des Beschuldigten lag. Als er vom Waschraum zurückkehrte, fand er seine Uhr nicht mehr an der alten Stelle liegen und äußerte hierüber seine Verwunderung. Der Beschuldigte sagte ihm, er habe die Uhr auf dem Koffer liegen sehen und werde ihm suchen helfen, sobald er fertig sei."

Wann die Armbanduhr im September 1939 wo lag und wie die damaligen Anwesenden die Sache sahen, legte der Bundesdisziplinarhof 1955 detailliert dar.

Erst im Nachhinein habe das SS- und Polizei-Feldgericht daraus, obwohl die Einsatzgruppen-Polizisten eine harmlose Verwechslung vermutet hätten, einen Kameradendiebstahl konstruiert.

Worüber man 1955 spricht und nicht mehr spricht

Der Bundesdisziplinarhof kam zu dem Ergebnis, dass der Vorwurf der Plünderung im Jahr 1939 nicht hinreichend aufgeklärt worden war und stellte, mit erheblichem Aufwand, auch fest, dass sich das SS- und Polizei-Feldgericht 1940 sowie die Dienststrafkammer Danzig 1943 beim Vorwurf des "Kameradendiebstahls" nicht an den Tatsachen orientiert hatten, an die sich die "Kameraden" nun 1955 erinnern wollten.

Keine weiteren Worte verlor das Gericht 1955 allerdings über einen weiteren Teil der Urteilsgründe vom 3. Juni 1943. 

Denn die Dienststrafkammer Danzig hatte die Entfernung des Polizisten aus dem Dienst auch damit begründet, dass er bei der Darstellung seiner dienstlichen Tätigkeiten in der besetzten polnischen Stadt Płońsk davon gesprochen hatte, seine Vorgesetzten hätten Anweisungen dazu gegeben, "Dummheiten gegenüber Juden" zu begehen. Nach Auffassung der Dienststrafkammer hatte er damit angeblich "dienstlich erforderliche Vergeltungsmaßnahmen" gegen die jüdischen Einwohner der Stadt in Frage gestellt. 

Indem er den Terror seiner Einheit gegen Juden überhaupt als zweifelhaft, dabei auch nicht als Teil der Normalität seiner Organisation, sondern als von den Vorgesetzten zu verantwortendes Handeln thematisiert hatte – beides verpänte Sprechakte  –, war er 1939/40 bzw. 1943 untragbar geworden.

Bis 1939 war das rund 10.000 Einwohner zählende Płońsk ein regionales Zentrum für die jüdische Bevölkerung gewesen. Juden stellten rund die Hälfte der Stadtgemeinde – im Königreich Polen war ihr rechtlicher Status schon im 17. Jahrhundert in vielfacher Hinsicht besser gewesen als im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Weniger kujoniert als dort, entfaltete sich ein vergleichsweise reiches wirtschaftliches und kulturelles Leben. David Ben-Gurion, erster Ministerpräsident von Israel, kam 1886 in der Stadt zur Welt. Die Shoah, den Holocaust, überlebten nur wenige Juden aus Płońsk.

Vor diesem Hintergrund ist nicht allein die ausführliche richterliche Auseinandersetzung mit der Frage, wo die Armbanduhr eines in die SS eingegliederten Polizisten im späten September 1939 nach einem "Kameradschaftsabend mit reichlichem Alkoholgenuss" gelegen haben mochte, reichlich surreal.

Erst recht, dass sich das Bundesdisziplinargericht nicht mit der Frage befasste, welche Motivation die "Kameraden" des Beschuldigten – der sich schon seinerzeit zu den "Dummheiten" des beginnenden Holocaust geäußert hatte – nun sahen, zu seinen Gunsten auszusagen, wirkt einigermaßen makaber.

Die beamtenrechtliche Versorgung des beschuldigten "Kameraden" im System des 131er-Gesetzes war nun jedenfalls gesichert: Der Bundesdisziplinarhof sprach ihn mit Urteil vom 16. Dezember 1955 dienstrechtlich vom Vorwurf des Kameradendiebstahls und der Plünderung frei (Az. BDH I D 7/55).

Zitiervorschlag

Zweifelhafte Rechtsprechung zur NS-Zeit in der frühen BRD: . In: Legal Tribune Online, 23.03.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56847 (abgerufen am: 19.04.2025 )

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