Privilegien für Täter mit Edelmut: Zucht­haus, Gefängnis oder Fes­tungs­haft?

von Martin Rath

02.02.2025

Bis 1970 kannte das deutsche Strafrecht neben der Zuchthaus- die Gefängnis- und Haftstrafe sowie die Festungshaft, ab 1953 als Einschließung bezeichnet. Erstaunlich lange blieb sie als Option für Gesinnungstäter in der Diskussion.

Sollte eine fundamentalistisch-evangelikale Christin, die im Großraum Stuttgart sämtliche "Harry Potter"-Bücher aus dutzenden Stadtbibliotheken stiehlt und dem Altpapier zuführt, um die Kinder davor zu schützen, dem Teufelsglauben anheimzufallen, eine besonders schonende Form von Haft genießen – gesetzt den Fall, dass ihr Handeln insgesamt zu einer Freiheitsstrafe genügt?

Hat ein junger Antifaschist, der im Dienst der Initiative "Volkswagen umbenennen" ein Werk des vormaligen "Kraft durch Freude"-Unternehmens in Wolfsburg in Schutt und Asche legt, um mit diesem früheren NS-Musterbetrieb viele Jahrzehnte nach Kriegsende aufzuräumen, ebenfalls Anspruch auf eine angenehmere, ehrenhafte Strafe?

Oder wie steht es um den tief ins Querdenken abgerutschten Hochschuldozenten, der einen der bekannten mRNA-Impfstoffforscher entführt, um dem Bundestag dazu zu nötigen, eine Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der COVID-19-Pandemie-Maßnahmen einzusetzen – unter Vorlage einer intellektuell brillanten Bekenntnisschrift, die den Beifall der Redaktionen von der "Süddeutschen" bis zum "Kontrafunk" findet?

Diese Beispiele werden je nach eigenem weltanschaulichem Standpunkt mehr oder weniger bizarr wirken. Man könnte meinen, sie seien damit einer seriösen strafrechtlichen Diskussion kaum zugänglich – höchstens geeignet, um Jurastudierende im Rahmen der akademischen Gutachtenstil-Didaktik zu quälen.

Warum auch sollte das Strafrecht besondere Vorkehrungen für Menschen treffen, die zwar ausgesprochen seltsame Dinge aus surrealen Motiven tun, dabei aber nicht nach §§ 20, 21 Strafgesetzbuch (StGB) jedenfalls vermindert schuldfähig sind?

Würde man mit ihrer Besserstellung nicht sogar Anreize schaffen, dass sich die Leute überhaupt erst in arg idiotische ideologische Vorstellungen verstricken?

Gustav Radbruch hatte eine Idee – 40 Jahre Diskussion folgten

Wo der angeblich gesunde Menschenverstand heutigen Zuschnitts nur eine akademisch weltfremde Idee oder sogar eine Einladung zum Terrorismus vermutet, sah die deutsche Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik über lange Zeit ein beachtliches Problem.

Seit Beginn der 1920er-Jahre wurde die Frage diskutiert, ob sogenannte Gesinnungsverbrecher eine besondere, und zwar privilegierte Behandlung durch die Justiz verdienten. Die Auseinandersetzung wurde bis zu den Strafrechtsreformen der frühen 1970er Jahre geführt, als man endlich davon Abstand nahm, sie im umgebauten Strafgesetzbuch zu berücksichtigen.

Eine prominente Formulierung zum Gesinnungsverbrecher enthielt § 71 des amtlichen Entwurfs zu einem Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1925:

"An die Stelle von Zuchthaus und Gefängnis tritt Einschließung von gleicher Dauer, wenn der ausschlaggebende Beweggrund des Täters darin bestand, daß er sich zu der Tat auf Grund seiner sittlichen, religiösen oder politischen Überzeugung für verpflichtet hielt."

Die Idee stammte im Wesentlichen vom sozialdemokratischen Rechtspolitiker, gelegentlichen Reichsjustizminister und akademischen Lehrer Gustav Radbruch (1878–1949), der sie allerdings in einem eigenen Reformentwurf noch konsequenter entwickelt hatte.

Beispielsweise wollte sich Radbruch bereits neben der Todes- auch von der Zuchthausstrafe verabschieden, die sich nicht nur durch sehr belastende Haftbedingungen auszeichnete, sondern auch das soziale Ansehen der Verurteilten in höchstem Maße beschädigte – fatal in einer Gesellschaft, in der Ehre noch unmittelbar in der bürgerlichen Lebenswelt etwas galt, nicht erst, sobald ein Medienanwalt beginnt, sie zu kommerzialisieren.

Von den Bedingungen her sollte die Einschließung nach der älteren Festungshaft modelliert sein, den Gefangenen also ohne Arbeitszwang und bei relativer Freiheit innerhalb der Hafträumlichkeiten nur in seinen äußeren, allgemeinen Freiheitsrechten beschneiden. Wie weit das gehen konnte, ist vielen durch den bekanntesten deutschen Festungshäftling Adolf Hitler geläufig.

Rechtstheoretische Begründung des Gesinnungsverbrecher-Privilegs

Solange es nicht um Fälle der Tötung von Tyrannen geht, wirkt die Idee heute eher seltsam, Täter zu privilegieren, die sich primär aus einer "sittlichen, religiösen oder politischen Überzeugung" zur Tat verpflichtet fühlten. Dieser Eindruck mag zum Teil darauf beruhen, dass seit den 1950er-Jahren die lebensweltliche Ordnung viel an verbindlicher, formalisierter Moral verloren hat.

Aber Radbruch berührte mit seinem Vorschlag auch eine fundamentale Frage der Beziehung zwischen der Staatsgewalt und dem ihr unterworfenen Bürger.

Dem modernen, säkularen Staat stehe es – so lässt sich Radbruchs Ausgangspunkt umschreiben – nicht zu, eine inhaltlich zu sehr ins Detail gehende moralische Norm zu sanktionieren, eine allzu gesättigte Wertordnung vorauszusetzen.

Während z. B. ein gewöhnlicher, aus materiellem Eigennutz handelnder Dieb durch die Strafhaft zur Besserung, zur Einsicht in seine Schuld, schließlich in die soziale Rehabilitation geführt werden soll, würde etwa die religiös motivierte "Harry Potter"-Diebin aus dem Beispielsfall durch die reguläre Freiheitsstrafe nicht nur nicht gebessert werden – es stehe dem Staat im Grunde auch gar nicht zu, ein sittliches Urteil über die von ihr in den höchsten Rang gesetzte – hier: religiöse – Idee zu treffen.

Radbruch sah im säkularen Staat jedoch allein den Hüter des positiven, formalen Rechts, der sich hier einem moralischen Urteil enthalten sollte. Der äußeren Sicherheit der Gesellschaft war zudem ja durch die Einschließung in entsprechendem zeitlichem Umfang gedient.  

Und ein typischer Gesinnungsverbrecher würde, um forensisch als solcher gewürdigt zu werden, seine innere Pflicht zum strafbaren Tun auch in irgendeiner Weise äußerlich erkennbar dokumentiert haben müssen – das Gericht hätte das jeweils positiv festzustellen. Dass Richter allzu sehr dazu neigten, darf bezweifelt werden.  

Einen Freifahrtschein in einen Strafvollzug ohne Arbeitspflicht und ohne sozialpädagogische bzw. psychologische Mahnungen, die eigene Schuld einzugestehen, wollte Radbruch also nicht ausstellen.

Breite Diskussion, rechtspolitische Wirklichkeit, objektive Wertordnung

Radbruch traf in der deutschen Strafrechtswissenschaft der 1920er-Jahre auf erheblichen Widerspruch. Immerhin, der Deutsche Juristentag verhandelte die Idee 1926 bei seiner Tagung in Köln.

Aus dem Chor der Gegenstimmen lässt sich etwa der Philosoph, Kirchen- und Strafrechtslehrer Erik Wolf (1902–1977) anführen, ein biografisch schwer zu würdigender, nicht untypischer deutscher Gelehrter seiner Generation. Wolf sah bei Radbruch einen gewissen inneren Widerspruch beim Begriff des "Überzeugungsverbrechers":

"Er glaubt …, das ethische Element bei der Begriffsbestimmung ausschalten zu müssen. Trotzdem spricht er vom Fehlen der 'sittlichen Überlegenheit des Staates über den Überzeugungsverbrecher' und erklärt mit Recht, daß jeder Strafzweck eine solche notwendig voraussetze. Damit nimmt er aber eine ethische Bewertung und nicht eine psychologische Feststellung des Überzeugungsverbrechers vor, den er als 'Andersdenkenden' dem Staat als 'Sodenkenden' gegenüberstellt."

Gegen den erwartbaren Einwand Radbruchs, der Richter urteile nicht schlechthin über den sittlichen Standpunkt des Überzeugungs- bzw. Gesinnungstäters, sondern darüber, ob dieser das ausschlaggebende Motiv zu seiner Tat gewesen sei – ein psychologisches Argument –, erklärte Wolf:  

"Dies aber ist ein Problem so differenzierter Art, daß man den zu seiner Lösung berufenen Richter sich gar nicht hoch genug befähigt vorstellen kann. Wie nun aber der Richter entscheiden soll, ob die in seiner psychologischen Wirkung festgestellte und durch Werturteil als solche anerkannte Überzeugung als Motiv ausschlaggebend gewesen sei, bleibt dunkel."

Im NS-Staat erübrigte sich nur sieben Jahre später die weitere Diskussion über Radbruchs Vorschlag, wie ein Pluralismus der sittlichen, religiösen, politischen Vorstellungen möglicherweise im positiven Strafrecht anzuerkennen sei – an die Stelle dieser Vielfalt traten ein irrationaler Führerwille und die Idee einer im Zweifel stets zu erzwingenden Konformität.

Diskussionen nach 1945 und ein "Federstrich des Gesetzgebers"

Einen Vorgeschmack darauf, wie heikel es nach den politisch motivierten Verbrechen der NS-Zeit sein würde, von Neuem über mögliche strafrechtliche Privilegierungen zu verhandeln, gab bereits 1947/48 ein kurzer Schlagabtausch zwischen dem Marburger Strafrechtslehrer Ulrich Stock (1896–1974) und dem SPD-Politiker Georg-August Zinn (1901–1976), seinerzeit hessischer Justizminister, später langjähriger Ministerpräsident seines Landes.

Stock hatte sich in einem Aufsatz mit dem noch neuen, erst 1941 verschärften Problem der Abgrenzung von Mord und Totschlag befasst. Galt bis 1941 eine vorsätzliche Tötung als Mord, wenn sie "mit Überlegung" ausgeführt worden war, hatte der NS-Gesetzgeber die bis heute geltende Sammlung von Begehungs- und Motivmerkmalen in den Mordtatbestand eingeführt. Bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes drohte dem Mörder zudem noch die Todesstrafe.

Irgendetwas musste man nun aber mit den undurchsichtigen "niedrigen Beweggründen" rechtsdogmatisch anfangen. Stock behauptete, bisher seien politische Motive eher in mildem Licht gesehen worden – auch wenn in jüngster Zeit politisch begründete Amnestien politisch motivierter Täter zur Verrohung der Gesellschaft beigetragen hätten:  

"Es ist daher sicherlich zu billigen, wenn in Zukunft das politische Motiv als Privilegierungsgrund bei der Tötung entschieden abgelehnt wird. Aber damit ist noch nicht gerechtfertigt, das politische Motiv als solches bei der Tötung zum Qualifizierungsgrund zu erheben und so den politischen Beweggrund dem niedrigen Beweggrund gleichzubehandeln. Man kann sehr wohl eine Privilegierung des politischen Motivs ablehnen, aber auch seine Verwertung zur Qualifizierung bedenklich halten. Liegen bei Tötungen aus einem politischen Motiv die Dinge nicht ebenso wie bei dem religiösen, daß die individuelle Verschuldung durch den übermächtigen Einfluß der politischen Idee eher als abgeschwächt erscheint?"

Zinn führte dagegen einen Gedanken des SPD- "Kronjuristen" Adolf Arndt (1904–1974) an:

"Mit Recht ist Arndt zu der Feststellung gelangt, daß die subjektive Verantwortlichkeit und die objektive Gefährlichkeit einer derartigen Tat" – die Rede ist von den NS-Krankenmorden – “verwerflicher und mehr strafwürdig ist als der gemeine Mord, insbesondere der Raubmord, Lustmord oder Rachemord. Solange es Aufgabe unserer Zeit ist, dem politischen Terror entgegenzutreten, wird das politische, religiöse oder rassische Motiv eine vorsätzliche Tötung mehr noch als Mord qualifizieren müssen als Mordlust, Habgier oder Befriedigung des Geschlechtstriebs. Eine Gesinnung, die in der Durchsetzung ihrer politischen Ziele das Menschenleben nicht achtet, wird grundsätzlich als eine niedrige zu brandmarken sein.”

Die 1924/25 begonnene rechtspolitische Diskussion um eine Gesinnungstätervorschrift im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches war mit einer derartigen, auf die Tötungsdelikte fokussierten Kontroverse aber noch nicht ganz erledigt.

Denn ab 1953 ersetzte zunächst die "Einschließung" die bisherige "Festungshaft" als Sanktionsform z. B. im Milderungsfall der Nötigung bzw.  des Auseinandertreibens von Gesetzgebungsorganen, § 105 Abs. 2 StGB, oder der fahrlässigen Vollstreckung gegen Unschuldige, § 345 Abs. 2 StGB.  

Bis der Gesetzgeber zum 1. April 1970 die einheitliche Freiheitsstrafe einführte, blieb damit ein Anlass zur rechtsdogmatischen und -politischen Diskussion über den Gesinnungstäter erhalten.

Ob die Idee Radbruchs unter Geltung des Grundgesetzes, dem manche eine ziemlich eindeutige Wertordnung entnehmen möchten, überhaupt noch – oder erst recht – zu diskutieren ist, steht auf einem anderen Blatt.

Hinweise: Dietrich Lang-Hinrichsen gibt einen guten Überblick zum Stand der Diskussion kurz vor ihrem Ende: "Der Überzeugungstäter in der deutschen Strafrechtsreform", Juristenzeitung 1966, S. 153–162. Gustav Radbruch: "Der Überzeugungstäter", Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 44 (1924), S. 34–38. Erik Wolf: "Das Tatmotiv der Pflichtüberzeugungen als Voraussetzung einer Sonderstrafe", ebd., Bd. 46 (1925), S. 203–218. Ulrich Stock: "Zur Abgrenzung von Mord und Totschlag", Süddeutsche Juristen-Zeitung 1947, Sp. 529–534. Georg-August Zinn: "Der politische Mord", ebd. 1948, Sp. 141–144. 

Zitiervorschlag

Privilegien für Täter mit Edelmut: . In: Legal Tribune Online, 02.02.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56489 (abgerufen am: 11.02.2025 )

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