Verfolgung der Zeugen Jehovas durch das NS-Regime: Wenn es nach der Hin­rich­tung auf ein "nur" ankommt

von Martin Rath

20.04.2025

Im öffentlichen Ansehen rangieren sie heute harmlos in der Nähe von Freikirchen oder Scientology. Von der NS-Justiz wurden die Zeugen Jehovas scharf verfolgt, eine Entschädigung nach dem Krieg hing oft an einem seidenen Argumentationsfaden.

Bis in die 1950er, wenn nicht 1960er Jahre, als es in (West-) Deutschland endlich einen beachtlichen Wohlstand gab, der nicht nur durch den Sozialstaat umverteilt werden wollte, waren relativ arme Beamte keine Seltenheit.

Eine großzügige Alimentation und die konkurrenzlose Gestaltung der Arbeitszeiten sollten sich erst entwickeln.

Vielfach stritten namentlich Post- und Bahnbeamte, oft nach dem Vorwurf der Trunkenheit im Dienst, um Disziplinarsachen bis in die höchste Instanz – auch prozentual überschaubare Einkommenseinbußen schmerzten bei karger Besoldung deutlich.

Aus der Masse solcher Disziplinarverfahren sticht das Anliegen eines alten, bereits seit rund zwanzig Jahren dienstunfähigen Beamten heraus, der gegen eine schon länger zurückliegende Kürzung seiner Ruhestandsbezüge vorging. Mit Beschluss vom 20. April 1955 (Az. II D 25/55) entschied der Bundesdisziplinarhof zu seinen Gunsten – wenn auch mit der tückischen Partikel "nur" an kritischer Stelle.

Kürzung der Ruhestandsbezüge aus religiösen Gründen

Der Bahnbeamte, geboren im Jahr 1879, war aus gesundheitlichen Gründen bereits seit dem 1. Oktober 1931 im Ruhestand.

Durch Urteil des Sondergerichts Dortmund vom 14. Mai 1937 war er als Zeuge Jehovas, nach langer Untersuchungshaft, zu acht Monaten Gefängnis verurteilt worden. Im nachfolgenden Disziplinarverfahren wurde er im August 1938 wegen der Zugehörigkeit zu diesem religiösen Bekenntnis mit einer Kürzung seines Ruhegehalts um ein Fünftel auf die Dauer von fünf Jahren gemaßregelt.

Der Bundesdisziplinarhof entschied im Wiederaufnahmeverfahren entsprechend dem Antrag des Beamten und des Vorstands der Deutschen Bundesbahn, diese Disziplinarstrafe aufzuheben.

Grundlage für die straf- und die nachfolgende disziplinarrechtliche Verurteilung war 1937/38 § 4 Abs. 1 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933. Mit ihr sahen sich die obersten Landesbehörden ohne inhaltliche Einschränkungen zudem ermächtigt, weitere strafbewehrte Verordnungen zur "Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" zu erlassen.

Ludwig Gauert (1891–1964), der als promovierter Jurist zunächst Ministerialdirektor, dann Staatssekretär im preußischen Innenministerium der führende Kopf hinter der Reichstagsbrandverordnung gewesen war, unterzeichnete mit Datum vom 24. Juni 1933 für den Freistaat Preußen auch das auf sie gestützte Verbot der "Internationalen Bibelforscher-Vereinigung".

Zeugen Jehovas werden zu Kulturmarxisten erklärt

Vorgeworfen wurde den Zeugen Jehovas in der amtlichen Begründung der Verordnung, sie betrieben "in Wort und Schrift unter dem Deckmantel angeblich wissenschaftlicher Bibelforschung eine unverkennbare Hetze gegen die staatlichen und kirchlichen Einrichtungen. Indem sie beide als Organe des Satans bezeichnen, untergraben sie die Grundpfeiler des völkischen Gemeinschaftslebens."

Weiter wurde zur Begründung angeführt: "Ihre Kampfmethoden sind durch eine fanatische Beeinflussung ihrer Anhänger gekennzeichnet, durch nicht unerhebliche Geldmittel gewinnen sie an Stoßkraft bei ihrer kulturbolschewistischen Zersetzungsarbeit. Ihre Einflußnahme auf breite Volksschichten beruht zum Teil auf eigenartigen Zeremonien, die eine Fanatisierung der Anhänger und damit eine unmittelbare Störung des seelischen Gleichgewichts der betroffenen Volkskreise erzeugen." Im "christlich-nationalen Staat" Hitlers in seiner "kulturellen und sittlichen Struktur" sähen die Zeugen Jehovas einen "besonders markanten Gegner", "dem gegenüber sie die Methoden ihres Kampfes radikal verstärkt" hätten.

Zudem böte, so behauptete das preußische Innenministerium, die Organisation ehemaligen Kommunisten einen heimlichen Unterschlupf.

Mit diesen vorgeschobenen Vernunftgründen – ausgerechnet verschrobene Bibel-Interpreten als Kulturmarxisten zu verfolgen – setzte sich der Bundesdisziplinarhof in seinem Beschluss vom 20. April 1955 gar nicht weiter auseinander.

Er erklärte schlicht, dass die straf- und disziplinarrechtliche Verfolgung des Bahnbeamten "nur wegen seiner Betätigung als ernster Bibelforscher" erfolgt sei und "ausschließlich auf politischen Erwägungen" beruht habe, "nämlich auf der religiösen Unduldsamkeit, die ein Merkmal der nationalsozialistischen Staatsführung war. Da in einem freiheitlichen Staat eine Verfolgung aus religiösen Gründen grundgesetzlich unzulässig ist, war das Disziplinarurteil vom 18. August 1938 aufzuheben".

Am Beschluss des Bundesdisziplinarhofs beteiligt waren unter anderem die Bundesrichter Otto Barwinski, ehemaliger Reichsgerichtsrat am Reichskriegsgericht, und Dr. Ludwig Mannheimer, wegen jüdischer Herkunft seit 1938 mit Berufsverbot belegt und ins Ausland geflohen.

Hinrichtung aus Gewissensgründen muss keine Verfolgungsmaßnahme sein

Welches Gewicht die grammatische Partikel "nur" im juristischen Denken gewinnen kann, illustriert ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 14. November 1956 (Az. IV 147/56).

Klägerin war die Witwe des Landwirts Gustav Henke, der sich als Zeuge Jehovas erstmals im Jahr 1936 geweigert hatte, dem Gestellungsbefehl zur Einberufung in die Wehrmacht zu folgen, im Folgejahr vom Sondergericht Breslau wegen der bloßen Betätigung als "Ernster Bibelforscher". Die Gesamtstrafe von einem Jahr und vier Monaten wurde vollstreckt.

Nachdem sich Henke 1943 erneut weigerte, dem Befehl zu folgen, sich den Streitkräften der Wehrmacht anzuschließen, verurteilte ihn das Reichskriegsgericht wegen Zersetzung der Wehrkraft nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 Kriegssonderstrafrechtsverordnung zum Tode, er wurde am 11. Oktober 1943 in Halle an der Saale hingerichtet.

Marta Henke begehrte eine Erhöhung ihrer Witwenrente, eine Kapitalentschädigung sowie eine Haftentschädigung. Der "Wiedergutmachungssenat" des BGH erklärte zwar den Anspruch auf Haftentschädigung wegen der vom Sondergericht Breslau verhängten Gefängnisstrafe für berechtigt, hatte aber wegen der Todesstrafe wegen Kriegsdienstverweigerung keine durchgreifenden Bedenken.

Nicht aus den gesetzlich für einen Entschädigungsanspruch vorausgesetzten Gründen des Glaubens sei Gustav Henke hingerichtet worden, "sondern ausschließlich weil dieser sich der für alle deutschen Staatsangehörigen bestehenden Wehrpflicht entzogen" hatte.

Der BGH führte hierzu aus:

"Die Bestrafung eines Wehrpflichtigen, der den gesetzlich vorgeschriebenen Wehrdienst in einem Land verweigert, das die allgemeine Wehrpflicht ohne irgendeine Ausnahme kennt, kann im allgemeinen nicht als ein Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze angesehen werden. Nicht nur Deutschland und etwa nur zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft hat Wehrdienstverweigerer bestraft, sondern dies haben auch zahlreiche andere Länder wie Belgien, Frankreich, Italien und die Schweiz sowie osteuropäische Staaten und die Vereinigten Staaten von Nordamerika im ersten Weltkrieg getan. Die in diesen Ländern verhängten Strafen sind z.T. außerordentlich schwer gewesen; so sind während des ersten Weltkrieges in Rußland, Ungarn und den Vereinigten Staaten öfters auf Todesstrafen erkannt und zwar auch gegen solche Personen, die lediglich aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigert haben".

Ob das mit Blick etwa auf die zwar scheußlichen, aber nicht schlechthin tödlichen Folgen einer Kriegsdienstverweigerung in den USA zutreffend war, lässt sich zwar bezweifeln. Aber das tragende Argument war bereits damit gefunden, dass die deutsche Justiz während des Zweiten Weltkriegs nahezu jeden Kriegsdienstverweigerer töten ließ, die Verfolgung der Zeugen Jehovas insoweit "nur" auf diesem Akt beruhte. Oder in den Worten des BGH:

"Es läßt sich auch die Feststellung des Berufungsgerichts nicht beanstanden, daß das Reichskriegsgericht die Todesstrafe über den Ehemann der Klägerin nicht wegen seiner Eigenschaft als Zeuge Jehovas oder wegen seines Glaubens verhängt hat. Die Begründung des gegen den Ehemann der Klägerin ergangenen Urteils des Reichskriegsgerichts liegt zwar nicht vor, jedoch lassen in ähnlichen Fällen ergangene Entscheidungen […] einen der Klägerin günstigen Schluß nicht zu."

Und weiter:

"Nicht unbedenklich ist zwar die Bestätigung und Vollstreckung des Todesurteils, besonders im Hinblick darauf, daß ausschließlich religiöse Gründe den Ehemann der Klägerin veranlaßt haben, den Wehrdienst zu verweigern. Nach den tatsächlichen und daher das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts ist aber das Urteil nur wegen der Wehrdienstverweigerung und nicht etwa aus Gründen des Glaubens bestätigt und vollstreckt worden."

An der Entscheidung beteiligt waren unter anderem Bundesrichter Walther Ascher (1900–1980), der als Jurist jüdischer Herkunft die NS-Zeit im britischen Mandatsgebiet Palästina überstand, während sein Kollege Fritz von Werner (1892–1978) als Reserveoffizier in der Wehrmacht gedient hatte.

Moderne historische Würdigung der "Ernsten Bibelforscher"

Dem feinsinnigen juristischen "nur" schließt sich die historische Würdigung nicht an.

In einer maßgeblichen geschichtswissenschaftlichen Dissertation zum Widerstand der Zeugen Jehovas erklärte der Historiker Detlef Garbe, dass "die Aktivitäten von Bibelforschern in der Zeit des 'Dritten Reiches', obgleich diese nicht auf eine Änderung der politischen Verhältnisse zielten, keine lediglich partielle Infragestellung des Regimes manifestierten, sondern im wahrsten Sinne 'Fundamentalopposition' waren. Eine Reduktion von 'Widerstand' auf die bewußte, politisch motivierte Handlung würde in diesem Zusammenhang sicherlich verkennen, daß auch unpolitisch motivierte, anders begründete Auflehnung eine Störung – ja Gefährdung – des Herrschaftsvollzuges im NS-Staat herbeiführen konnte, also durchaus politisch wirkte. Wenn auch die Zeugen Jehovas für das Gewaltregime zu keinem Zeitpunkt eine ernsthafte Gefahr darstellten, so setzten sie doch dem Herrschaftsanspruch des Systems Grenzen, oder anders gesagt, waren sie Sand, nicht Öl im Getriebe der Kriegs- und Mordmaschine."

Während beispielsweise an die Predigten von Clemens August Graf von Galen (1878–1946), der als Bischof von Münster gegen die nationalsozialistischen Krankenmorde opponiert hatte, oder an das Martyrium des lutherischen Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) bis an die Schmerzgrenze des religiösen Kitschs und darüber hinaus erinnert wird, sind die wegen Kriegsdienstverweigerung getöteten oder in den Konzentrationslagern misshandelten und gestorbenen Zeugen Jehovas wenig präsent. Vielleicht gerade, weil ihr Handeln allzu fundamentalistisch war, wie Garbe festhielt:

"Die Zeugen Jehovas, die sich als einzige christliche Gruppe nahezu in ihrer Gesamtheit und weitgehend geschlossen den mannigfachen Nötigungen des Regimes widersetzten, handelten dabei um der eigenen Selbstbehauptung willen. Ihre Gegenwehr richtete sich zunächst gegen das Verbot ihrer Vereinigung und dagegen, daß ihnen die religiöse Betätigung und damit die Verkündigung der Botschaft vom nahe herbeigekommenen göttlichen Königreich untersagt wurde. Für sie bedeutete dies faktisch das Verbot ihres Glaubens; gegen diese massive Form staatlicher Fremdbestimmung setzten sie sich zur Wehr. Der Beschneidung der eigenen Wirkungsmöglichkeiten durch die Nationalsozialisten galt ihr 'Widerstand'. Dabei forderten sie vom 'Dritten Reich' nicht mehr, aber auch nicht weniger, als ihnen in der ihrer Überzeugung nach ohnehin vergehenden Welt einen 'bescheidenen' Freiraum für ihre eigene Glaubens- und Lebensweise zu belassen."

Hinweis: Detlef Garbe: Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im "Dritten Reich". 4. Auflage. München: Oldenbourg [1993] 1999 [online].

Zitiervorschlag

Verfolgung der Zeugen Jehovas durch das NS-Regime: . In: Legal Tribune Online, 20.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/57028 (abgerufen am: 22.05.2025 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen