Rechtswissenschaftliche Zeitschriftenschau: Von brauch­barer Ille­ga­lität und der Lebens­wir­k­lich­keit

von Martin Rath

29.10.2017

2/2: Was meint der Laie, wenn er von "laïcité" spricht?

Zu erfahren, worauf man sich eigentlich verpflichtet, ist derweil nicht allein ein Problem einer empirisch aufgeschlossenen Zivilrechtswissenschaft. Als Beutegut politischer Polemik dienen auch juristisch gesetzte Begriffe nicht selten der Frage, worauf der auch demokratisch verfasste Staat verpflichtet sei.
Mitunter wäre es hier schon wünschenswert, ganz konventionelle Studien zu rechtlichen Begriffen und Konzepten fänden ein breiteres Publikum, damit die Leute besser wüssten, wovon sie überhaupt reden.

Vor dem Hintergrund nicht enden wollender öffentlicher Tiraden über "den" Islam – geführt von Menschen, die in ihrer überwiegenden Zahl den Sinn etwa des jetzt anstehenden Allerheiligenfests wohl nicht zu erklären wüssten – entweder sehr bedrückend oder sehr erfrischend zu lesen ist Rudolf Steinbergs Aufsatz: "Religiöse Symbole im säkularen Staat. Kann das multireligiöse Deutschland von der französischen Laïcité lernen?"

Der emeritierte Frankfurter Professor für öffentliches Recht beschreibt ausführlich, welche Verständnisse an das 1905 in Frankreich gesetzlich etablierten Prinzip der Laïcité herangetragen wurden.

Bemerkenswert ist etwa, dass sich die Trennung von Kirche und Staat 1905 sowohl gegen katholische Konservative richtete, die den Staat in den Dienst ihrer Heilsorganisation gestellt sehen wollten, als auch gegen militante Atheisten, die die staatliche Gewalt als Vollstreckungsmittel ihrer Weltanschauung verstanden. Der Respekt vor den Gläubigen, die der öffentlich-rechtlichen Form ihrer Organisation beraubt worden waren, ging so weit, dass die seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Staatseigentum stehenden Kirchengebäude weiterhin kostenlos genutzt werden konnten.

Auch die Laizisten des Jahres 1905 fanden nichts dabei, die Seelsorge in der Armee, in Gefängnissen, Krankenhäusern oder Schulen zu organisieren. Steinberg zeichnet hier ein Bild, in dem die Zulassung von privaten Ersatzschulen konfessioneller Träger und der steuerlichen Behandlung von Spenden an Religionsgesellschaften, viele Ähnlichkeiten zum hergebracht kirchenfreundlicheren Deutschland aufscheinen.

In jüngerer Zeit werde Laizismus aber verstärkt als  "laïcité identitaire" verstanden, als eine von Staats wegen zu exekutierende Zivilreligion einer verabsolutierten negativen Bekenntnisfreiheit. Kurzum: Schon Franzosen wissen oft nicht, was sie meinen, wenn sie von "laïcité" sprechen. Anleihen aus dem vermeintlichen Herzland der atheistisch-agnostischen Aufklärung sind also mit Vorsicht zu genießen.

Das Letzte kommt zum Schluss

Wem sowohl die kirchliche Bedeutung von Allerheiligen und Reformationstag fremd ist als auch die Schicklichkeit davon abhält, an Gruselpartys zu Halloween teilzunehmen, mag sich am Brückenmontag den Artikel "Forensische Bedeutung von Körpermodifikationen" von Benjamin Ondruschka, Frank Ramsthaler und Christoph Birngruber beschaffen.

Dieser Beitrag aus der – wohl einmalig im juristischen Schrifttum – bebilderten Zeitschrift berichtet zur Häufigkeit und Gestalt von "Körpermodifikationen im Selektionsgut", also den Leichenöffnungen am Institut für Rechtsmedizin der Justus-Liebig-Universität Gießen der Jahre 2015 und 2016.
Neben vergleichsweise gängigen Körperverletzungen wie Ohrlöchern und Tätowierungen benennen Ondruschka, Ramsthaler und Birngruber als "weitere Formen der Körpermodifikation … z.B. Formveränderung von Zähnen ('teeth modification') oder das Spalten der Zunge ('tonguesplitting')", die allerdings ebenso wenig im "Selektionsgut" auftauchten wie die "Extremform" der Körpermodifikation, das "amputating" – "eine Amputation von in ihrer Funktion nicht geminderten Körperteilen".

So problematisch selbst weit verbreitete Körpermodifikationen sind – auch professionell hergestellte Tätowierfarben scheinen bemerkenswert oft Keime zu enthalten – so nützlich sind sie für die rechtswissenschaftliche Hilfsdisziplin der Rechtsmedizin potenziell. Bereits heute finden sich etwa im untersuchten "Selektionsgut" 8,4 Prozent weibliche und 21,2 Prozent männliche Leichname mit Tätowierungen: Sie könnten bei ungeklärten Leichenfunden künftig häufiger zur Identifizierung beitragen, insbesondere angesichts der sozialmedialen Zurschaustellung jedenfalls teilweise kreativer Motive.


Fundstellen:


Axel Birk: Der kritische Rationalismus und die Rechtswissenschaft, in: Rechtstheorie 48 (2017), S. 43–75.
Hanjo Hamann und Leonard Hoeft: Die empirische Herangehensweise im Zivilrecht, in: Archiv für civilistische Praxis (AcP) 217 (2017), S. 311–336.
Benjamin Ondruschka, Frank Ramsthaler und Christoph Birngruber: Forensische Bedeutung von Körpermodifikationen, in: Rechtsmedizin 2017, S. 443–451.
Markus Pohlmann und Kristina Höly: Manipulationen in der Transplantationsmedizin. Ein Fall von organisationaler Devianz? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS) 69 (2017), S. 181–207.
Rudolf Steinberg: Religiöse Symbole im säkularen Staat, in: Der Staat 56 (2017), S. 157–192.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtswissenschaftliche Zeitschriftenschau: Von brauchbarer Illegalität und der Lebenswirklichkeit . In: Legal Tribune Online, 29.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25287/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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