Rechtswissenschaftliche Zeitschriftenschau: Von brauch­barer Ille­ga­lität und der Lebens­wir­k­lich­keit

von Martin Rath

29.10.2017

Kriminalität von Transplantationsärzten, kritische Rationalität und die Rechtswissenschaft, laienhafter Laizismus und zur Entspannung ein paar Keime in der Tätowierfarbe: Ein Blick in die bunte Welt rechtswissenschaftlicher Zeitschriften.

Wer heute von den sozialen Bedingungen spricht, unter denen Menschen straffällig werden, setzt sich schnell dem Vorwurf aus, den jeweiligen Fall moralisch relativieren zu wollen. Die juristische Auseinandersetzung gilt zunächst dem mutmaßlichen Einzeltäter, oft bleibt es auch bei ihm.
Ein wenig unerfreulich ist dies, wenn es einen Beitrag dazu leistet, dass ein soziales Umfeld, in dem Fehlverhalten begünstigt wird, im Anschluss an Aufsehen erregende Prozesse wieder in Vergessenheit gerät.

Im Juni 2017 bestätigte beispielsweise der Bundesgerichtshof (BGH) den Freispruch eines Mediziners, der die Vergabe von Organen in der Transplantationsmedizin manipuliert hatte, vom Vorwurf des versuchten Totschlags in elf Fällen.

Bereits vor diesem Urteil untersuchten der Heidelberger Soziologie-Professor Markus Pohlmann und die Wissenschaftliche Mitarbeiterin Kristina Höly unter dem Titel "Manipulationen in der Transplantationsmedizin. Ein Fall von organisationaler Devianz?" die Frage, ob es sich bei den Manipulationsfällen in der Transplantationsmedizin womöglich um Vorgänge einer "brauchbaren Illegalität" handelte:

"Der grundlegende Gedanke dahinter ist, dass jede Organisation auf die Abweichung von formalen Regeln angewiesen ist, um funktionieren zu können. Damit erscheint die Devianz als normale Begleiterscheinung von Organisation. Der Widerspruch zwischen formaler Ordnung und informaler Abweichung wird in die Normordnung der Organisation aufgenommen. Abweichung und Nichtabweichung sind dann zugleich gerechtfertigt."

Ein beunruhigender Befund von Pohlmann und Höly: Die Anreize, bei der Verteilung von Spenderorganen zu manipulieren, lagen nicht erkennbar in beispielsweise materiellen Vorteilen. Vielmehr sehen sich Ärzte durch die Vergaberichtlinien gehindert, beispielsweise bei Leber-Transplantationen Patienten zu bedienen, die aus ihrer Sicht erkennbar noch etwas davon hätten. Zum Regelbruch kommt es mitunter, weil man ein Organ nicht "verschwenden" wollte.

Wie kommt soziale Erkenntnis in das Recht?

Wenn Patienten ohne lebensrettende Organspende bleiben, weil oder obwohl Mediziner den objektivierenden Vergaberichtlinien nicht folgen möchten, die Gerichte aber nur die individuelle Vorwerfbarkeit bearbeiten können, dann sollten sich Gericht, Gesetzgeber und Rechtswissenschaft aufgerufen fühlen, über die "sozialen Folgen von rechtlichen Regelungen und Auslegungsvorschlägen" zu diskutieren.

Unter dem Titel "Der Kritische Rationalismus und die Rechtswissenschaft" befasst sich der in Heilbronn lehrende Rechtsprofessor mit der Aufnahme der von Karl Raimund Popper begründeten Schule der Erkenntnistheorie in der deutschen Rechtswissenschaft. Namentlich die Konstanzer Rechtsgelehrten Bernd Rüthers und Karl-Heinz Fezer hätten sich um eine je eigenständige Etablierung dieser an den Regelungsfolgen orientierten Sozialtechnologie verdient gemacht.

Birk bietet einen guten Überblick darüber, wie schwer es in der deutschen Rechtwissenschaft fiel, sich einer Perspektive zu öffnen, in der "die soziale Steuerungswirkung möglicher Rechtsnormen und ihrer Auslegungsvarianten" zu analysieren ist, und nicht allein ihre Auslegung in Kommentar, Gutachten und Urteil.

Mitten hinein ins empirische Handgemenge

Während Birk zutreffend festhält, dass sich das "(revolutionäre) Modell" des Kritischen Rationalismus in der deutschen Rechtswissenschaft nicht durchsetzen konnte und Juristen "zur empirischen Forschung auf die Mitarbeit von Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern angewiesen" blieben, finden wir Hanjo Hamann und Leonard Hoeft, Wissenschaftliche Mitarbeiter am Bonner Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, gleichsam mitten im rechtsempirischen Handgemenge.

Im ehrwürdigen, traditionell stark der Pflege der Dogmatik gewidmeten "Archiv für die civilistische Praxis" widmen sich Hamann und Hoeft unter dem Titel "Die empirische Herangehensweise im Zivilrecht. Lebensnähe und Methodenehrlichkeit für die juristische Analytik" im Wesentlichen einer von Alexander Stöhr vorgelegten Untersuchung zur Transparenzkontrolle arbeitsvertraglicher Klauseln.

Sich bei der Frage, ob etwa eine allgemeine Geschäftsbedingung allgemein verständlich ist, empirischer Methoden zu bedienen, statt sich primär im Zirkel der dogmen-, präjudiz- und kommentargestützten richterlichen Meinungsfindung zu bewegen, könnte der Zivilrechtswissenschaft neue Wege erschließen – beispielsweise, indem man sich des sozialwissenschaftlichen Instrumentariums der Befragung bedient.

Hamann und Hoeft formulieren in ihrer freundlichen Kritik an Stöhr noch einmal die methodischen Standards, die bei einer Ausweitung des juristischen Erkenntnisprozesses um empirische Mittel zu wünschen sind.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtswissenschaftliche Zeitschriftenschau: . In: Legal Tribune Online, 29.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25287 (abgerufen am: 02.10.2024 )

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