Aktuell erreicht die Drama-Serie "Gestern waren wir noch Kinder" im ZDF ein Millionenpublikum. Es geht um den unbegreiflichen Mord in einer scheinbar perfekten Familie. Die Serie ist ein Lehrstück übers Täterwerden, meint Katharina Reisch.
Am 30. Dezember 2022 veröffentlichte das ZDF in seiner Mediathek die siebenteilige Dramaserie "Gestern waren wir noch Kinder" nach dem Drehbuch von Natalie Scharf. Inzwischen wurde sie über 14 Millionen Mal angesehen – ein "Mega-Erfolg" für das öffentlich-rechtliche Fernsehen.
Im Mittelpunkt der fiktiven Serie steht mit Peter Klettmann ein angesehener Rechtsanwalt, der mit seiner Frau Anna und den drei gemeinsamen Kindern in einem Münchner Vorort eine harmonische Familienidylle lebt. Doch die heile Welt implodiert an Annas 44. Geburtstag. Die Feier beginnt mit einem riesigen Kuchen, mit ausgepusteten Kerzen und dem familieninternen Friedenszeichen; wenige Stunden später findet sie mit einem Anruf bei der Polizei ihr unbegreifliches Ende: "Mein Name ist Peter Klettmann. Ich habe gerade meine Frau getötet. Sie liegt in der Küche".
Während Peter in der merkwürdigen Zwischenwelt jener letzten Minuten vor seiner Festnahme mit Tochter Emmi bedächtig auf der Schaukel im Garten hin und herschwingt, legt sich eine Gewissheit wie ein dunkler Schleier über das Geschehen: Ab jetzt wird es immer ein Davor und ein Danach geben.
"Die schmutzigen Familien sind immer die anderen"
Als kurz darauf ein hastiger Mitarbeiter der Spurensicherung entgegen aller kriminalistischen Sorgfalt einen Blumenkübel vom Treppenabsatz reißt, bleibt nur eine Frage: Warum? Oder, um es mit den Worten der 18-jährigen Tochter Vivien zu sagen: "Ich versteh‘ nicht, wie er ihr so was antun konnte. Was hat sie denn getan? […] Er hat immer zu uns gesagt: Gewalt ist keine Lösung."
Es ist diese eklatante Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, dieser Abgrund mitten unter uns, der beim Zuschauen bis ins Mark erschüttert. "Die schmutzigen Familien sind immer die anderen", ruft eine Nachbarin Anna Klettmann unfreiwillig zynisch kurz vor ihrem Tod über den Gartenzaun zu.
In atmosphärisch dichten Rückblenden kann zwar nichts entschuldigt, aber vieles erklärt werden. Kaum, dass ein Nachrichtensprecher diesen Femizid mit dem Label "Familientragödie" in euphemistische Watte gepackt hat, wirft uns eine Rückblende zurück in die 90er.
"Ich hab dich erst zu dem gemacht, was du heute bist"
Auf einmal begleiten wir Anna und Peter Klettmann zu ihrem Abiball, dem es wahrlich nicht an maximal-prätentiösem Pathos fehlt: Alphavilles "Forever Young" dröhnt sehnsüchtig durch den Saal, es fließen Tränen in rauen Mengen und plötzlich ist da diese Katastrophe. Der unglücklich verliebte Peter Klettmann stürmt aus der Halle und entkoppelt im Vollrausch den Anhänger eines LKWs. Am Ende kann er nur zusehen, wie seine Mitschülerin Helen und ihre Familie auf dem Heimweg vom Abiball tödlich verunglücken.
Vier Menschen verglühen in jener Nacht und mit ihnen erlischt die Unschuld. Was Peter bleibt, sind Schuld und ein Geheimnis, das größer ist als er. "Kein Geheimnis lässt sich für immer verbergen", prophezeit eine Stimme aus dem Off und beschwört die über mehrere Generationen mitgeschleppten Geister der Vergangenheit ein letztes Mal herauf: Vorhang auf für die dunklen Klänge von Depeche Mode: "If you try walking in my shoes, you'll stumble in my footsteps".
Die Rückblenden stoßen uns immer tiefer hinein in die Abgründe der Familie Klettmann und in die Gewalt, die sich wie ein roter Faden durch Peters Kindheit und Jugend zieht. Seine Schwester stirbt noch als Kind. Danach verliert sich Mutter Heide in einem grotesken Strudel von Wahn und Wirklichkeit, während Vater Hans zum Gürtel greift. Es sind diese traumatischen Gewalterfahrungen, die Peter Klettmann auch Jahrzehnte später nicht loslassen. Immer wieder katapultieren ihn Flashbacks zurück in die Hölle von gestern: Eben war er noch in der Kanzlei, plötzlich ist da wieder Vaters Griff zum Gürtel – ein Blinzeln im Hier und Jetzt – dann schlägt er zu. Als Hans Klettmann im Angesicht seines nahenden Todes Peter gegenüber zufrieden Bilanz zieht, hallt die bittere Wahrheit seiner Worte lange nach: "Ich hab dich erst zu dem gemacht, was du heute bist".
Gewaltverbrechen als "Schicksal"?
"Glauben Sie, dass man als Mörder geboren wird? Also, dass das in der DNA irgendwie drin ist?" – Wenn Peters Tochter Vivien nach der Tat Fragen wie diese an ihre Psychologin richtet, schüttelt die energisch den Kopf. Dass man das in der Kriminalbiologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ganz anders sah, zeigt nicht zuletzt der Blick auf die 1929 veröffentlichte Schrift des Kriminologen Johannes Lange mit dem Titel "Verbrechen als Schicksal".
Die heutige kriminologische Forschung kann aus empirischen Untersuchungen allerdings nur schwache Zusammenhänge zwischen Erbeinflüssen und kriminellem Handeln ableiten (m.w.N. Meier, Kriminologie, 6. Aufl., § 3 Rn. 26). Dass Kriminalität nur durch Erbfaktoren verursacht wird, gilt heute als unwahrscheinlich. Vielmehr geht man davon aus, dass eine Wechselwirkung aus Erb- und Umweltfaktoren für Kriminalität ursächlich wird (Schneider, Kriminologie, S. 369).
Doch auch, wenn es das in der Serie angesprochene "Mörder-Gen" nicht gibt, trägt die Tat eine große Frage an die Kriminologie heran: Wie sehr ist Peter Klettmann ein "Gefangener" seiner Vergangenheit? "Gestern waren wir noch Kinder" ist schließlich die Geschichte "von Verbrechen, für die noch die Enkelkinder büßen müssen"; Es ist die Geschichte eines Mannes, der die Gewalt seiner Kindheit in der nächsten Generation eskaliert. Damit ist die Serie ein Lehrstück übers Täter werden, ein Streifzug durch die Kriminologie transgenerationaler Gewalt und ein Schlaglicht auf die Täter hinter den Tätern.
Täter werden im "Kreislauf der Gewalt"
Angesprochen ist damit der "Kreislauf der Gewalt". Er gilt in der kriminologischen Forschung zu innerfamiliärer Gewalt als deren zentrale Ursache. Die empirisch vielfach bestätigte Annahme ist, dass Eltern Gewalterfahrungen aus ihrer Kindheit und Jugend an ihre eigenen Kinder weitergeben und so eine generationenübergreifende Gewaltspirale in Gang gesetzt wird (Bussmann, Verbot familialer Gewalt, S. 437f.). Eine gewaltorientierte Familie markiert in der Folge oft den Beginn einer Gewalttäterkarriere (Schneider, Kriminologie der Gewalt, S. 125).
Doch warum ist das so? Fragt man nach den Ursachen hinter den Ursachen, stößt man in der Kriminologie vor allem auf lerntheoretische Erklärungsansätze. Sie führen den Gedanken vom "Kreislauf der Gewalt" weiter, indem sie davon ausgehen, dass Gewalt von sozialen Vorbildern in der Familie gelernt wird. Wer als Kind erlebt, dass sich soziale Spannungen mit Gewalt lösen lassen, verinnerlicht Gewalt als wirkungsvolles Konfliktbewältigungsinstrument.
Die Verbindung zwischen Gewalterlebeben in der Herkunftsfamilie und späterer eigener Gewaltanwendung ist jedoch kein naturgesetzlicher Determinismus. Sie ist nur ein Faktor, der die Wahrscheinlichkeit einer Gewalttat erhöht. Gewaltverbrechen sind damit vieles, jedenfalls aber kein "Schicksal". (zum Ganzen Schneider, Kriminologie der Gewalt, S. 130).
Wege aus der Gewalt
Somit ist der innerfamiliäre "Kreislauf der Gewalt" zwar ein plausibler kriminologischer Erklärungsansatz. Klar ist aber auch, dass es sich bei dem Mord an Anna Klettmann um ein vielschichtiges Mehrebenen-Problem handelt. Die "eine" Ursache gibt es nicht. Monokausale Erklärungen verbieten sich daher. Ein alleiniges Abstellen auf die innerfamiliäre Gewaltspirale greift viel zu kurz. Sie ist nur ein Faktor von vielen, die Peter Klettmann zum Mord an seiner Frau bewegten.
Unterm Strich leistet das ZDF mit seiner jüngsten Produktion weit mehr als nur einen "Adrenalinkick auf der Couch", wie zuletzt etwa die True-Crime-Serie "Dahmer". Es rückt ein gesellschaftlich noch immer tabuisiertes Thema in die Mitte unserer Wohnzimmer. "Gestern waren wir noch Kinder" sensibilisiert dafür, dass innerfamiliäre Gewalt keine "Privatsache", sondern ein echtes Risiko für (schwere) Kriminalität ist. Sie zeigt auf, dass staatliche Strafen allein den Kreislauf der Gewalt nicht durchbrechen können.
Denn die "lebenslange" Inhaftierung des Täters Peter Klettmann hindert seine nun ebenfalls traumatisierten Kinder nicht, den Staffelstab der Gewalt eines Tages hinter die Schweigemauern ihrer eigenen Familien zu tragen. Auf der Metaebene reformuliert die Serie damit die zeitlose Formel Franz von Liszts: "Die beste Kriminalpolitik ist und bleibt eine gute Sozialpolitik". Sie fordert uns alle auf – zur gemeinsamen Sozialkontrolle, zum Hinsehen und couragierten Eingreifen – auch dort, wo wir es nicht erwarten. Denn die "schmutzigen Familien", das sind nicht nur die anderen.
Dipl. Jur. Katharina Reisch ist Doktorandin und wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Rechtssoziologie an der Universität Leipzig bei Prof. Dr. Katrin Höffler.
ZDF-Serie "Gestern waren wir noch Kinder": . In: Legal Tribune Online, 11.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51277 (abgerufen am: 10.12.2024 )
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