Noch zählt "E 605" zu den Prüfungsthemen angehender Rechtsmediziner, obwohl der strafrechtlich relevante Gebrauch von Pflanzenschutzmitteln rückläufig ist. Martin Rath zeigt auf, wo Vergangenheit und Gegenwart des "Schwiegermuttergifts" liegen.
Die Nummern sind unbeliebt. Ein E 300 kennzeichnet z.B. die Ascorbinsäure, die zahllosen industriell verarbeiteten Lebensmitteln Oxidationsverderbnis hemmt. Steht ein E 905 auf der Verpackung, verhütet mikrokristalliertes Wachs, dass beispielsweise Süßigkeiten im Beutel zusammenkleben. Dass dieses Produkt aus der Erdölindustrie unverdaut den Körper durchwandert, macht es vielen Menschen, die sich selbst als ernährungsbewusst verstehen, unsympathisch. Auch die Anonymität des E-Nummern-Systems weckt nicht eben Vertrauen.
Das berühmteste "E-Produkt", das Pflanzenschutzmittel E 605, hat selbstverständlich nichts mit den E-Nummern zu tun, die der europäischen Nahrungsmittelindustrie zur vereinfachten und einheitlichen Darstellung der Lebensmittelzusatzstoffe dienen. E 605 ist als Bezeichnung älter. Aber in der E-Nomenklatur blieb die Nummer 605 kaum zufällig unbesetzt und insbesondere im deutschsprachigen Raum wird das Pflanzenschutzmittel keinen kleinen Beitrag zur Unbeliebtheit der E-Nummern geleistet haben. Im Jahr 1944 vom deutschen Chemiker Gerhard Schrader entwickelt, war die Substanz lange Zeit als Gift in Mord und Suizid beliebt – im journalistischen Boulevard als "Schwiegermuttergift".
Gefahr durch stark gewürztes Omelett
Parathion, in Deutschland seit 1948 unter dem Handelsnamen E 605 auf dem Markt, tötet recht zuverlässig Insekten, daher ihre Beliebtheit in Gartenbau und Landwirtschaft, zudem Warmblüter, weshalb sie – die Verfügbarkeit für die gärtnerisch aktive Bevölkerung trug dazu bei – auch für Selbst- und Fremdtötungen, insbesondere im Familienkreis in Betracht kam. Das erste Delikt dieser Art wird auf das Jahr 1952 datiert. Ein vergleichsweise spätes Beispiel für einen Parathion-Mord, der zugleich gut die Effizienz des Mittels illustriert, gibt das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 23. Januar 1985 (Az. 3 StR 496/84).
Der Tatbestand, der zuvor Gegenstand der Verhandlung vor dem Landgericht Duisburg gewesen war, umfasste den Versuch einer Ehefrau, ihren Gatten zunächst zwischen September und dem 23. November 1982 mit einem Thallium-haltigen Rattengift zu töten. Das hochgiftige Metall war nach den Duisburger Feststellungen in dieser Zeit eine Zutat der täglichen Mahlzeiten ihres Mannes. Bei Rattengiften wird gemeinhin darauf Wert gelegt, dass sie möglichst zeitversetzt und langsam wirken, damit die klugen Tiere die Köder nicht meiden. Weil eine rechtsförmliche Scheidung der Ehe zu befürchten stand - der Herr wollte "seine russische Geliebte" heiraten -, beendete die Gattin ihre Ehe am 23. November 1982 vorzeitig, indem sie "sein Lieblingsgericht, ein Omelett mit Pilzen" mit dem Parathion-haltigen Pestizid vergiftete.
Dieses Gift bewirkte binnen weniger Stunden, irgendwann zwischen 18 und 20.50 Uhr, den Tod. Neben dem Beleg der Effizienz lässt das BGH-Urteil auch auf die allgemeinen Verhältnisse in der Küche von Täterin und Tatgeschädigtem schließen: Weil Parathion in reiner Form geschmack- und fast geruchlos ist, wurde es zu Handelszwecken mit einem stechenden, Knoblauch-artigen Aroma versehen, das im Omelett-Fall zu überdecken war. Stark gewürzte Nahrungsmittel, darf man schließen, begünstigten einst den Giftmord.
E 605 - ein Stoff aus mörderischer Tradition
Mit ihrem Einsatz in der häuslichen Mordwirtschaft war das Parathion in gewisser Weise der Geschichte ihrer Produktentwicklung gerecht geworden, die zunächst weniger im Zeichen des insektiziden Pflanzenschutzes stand, sondern durchaus das Interesse verfolgte, Warmblüter, namentlich Menschen, ums Leben zu bringen. Seit den 1930er-Jahren forschte der bei den Firmen Bayer beziehungsweise der berüchtigten IG Farben AG beschäftigte Chemiker Gerhard Schrader (1903-1990) zu organischen Phosphorsäureesthern. Ihm gelang 1937/38 die Entwicklung der extrem gefährlichen Nervengifte Tabun und Sarin, die alles in den Schatten stellten, wovon Militärs bis dahin geträumt hatten, wirken diese Substanzen doch bereits in winzigen Mengen tödlich, und waren so wesentlich effizienter als die eher grobschlächtigen Giftgase des Ersten Weltkriegs.
Dass diese Giftgase im Zweiten Weltkrieg nicht zum Einsatz kamen, erklären die britischen Historiker und Journalisten Robert Harris und Jeremy Paxman mit der Produktgeschichte eines anderen bedeutenden Insektizids: Rund um die Produktion der damals neuen Substanz DDT hatte die US-amerikanische Kriegswirtschaft eine dichte Spionageabwehr errichtet. DDT ist für Säugetiere eher ungefährlich. Die paranoide US-Geheimhaltung soll aber, so Harris/Paxman dem deutschen Militär die Idee eingegeben haben, die andere Seite verfüge auch über die deutschen Nervengifte. Erst 1945 wurden die Patente, die nicht beseitigten Zeugnisse von Gift-Experimenten am Menschen sowie die einschlägigen deutschen Chemiker und Chemie-Manager von alliierter, US-amerikanischer Seite in Beschlag genommen. Das betraf auch das von Schrader 1944 entwickelte, mit diesen Nervengiften eng verwandte Parathion.
2/2: Heuchelei hinter dem Pflaster
Diese unmittelbar tödlichen Gifte sind als Gegenstand der Strafrechtspraxis eher selten geworden. Seit 2001 ist „E 605“ in der Europäischen Union verboten. Auf diese harmlose Aussage ist später noch einmal kurz zurückzukommen, weil sie ein bisschen geheuchelt ist. Zur feinen Heuchelei dieses Verbots führt ein kleiner Umweg über das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21. Oktober 2010 (Az. Xa ZR 30/07).
Ein "Transdermales therapeutisches System zur Prophylaxe und zur Vorbehandlung einer Vergiftung durch hochtoxische phosphororganische Nervengifte" stand hier mit Blick auf seine Patentfähigkeit im angemeldeten Produkt- und Produktionsdetail zur richterlichen Entscheidung.
Unter den "hochtoxischen phosphororganischen Nervengiften", für die hier ein Gegenmittel zum letztlich nichtig erklärten Patent angemeldet worden war, taucht hier unter anderem unser seit 2001 aus Landwirtschaft und Familiengarten, aus Mörderinnenküche und Suizidentenplänen verbanntes "E 605" auf, das Parathion.
Erklärungsbedürftig ist wahrscheinlich der Begriff "transdermales therapeutisches System". Viele Menschen nutzen dieses System, um sich Capsaicin auf Hexenschuss oder Rheuma-Gelenk zu kleben, ohne Gefahr zu laufen, sich diesen schmerzstillenden, aber höllisch scharfen Wirkstoff der Chili-Früchte in Augen oder Schleimhäute zu applizieren. Bekanntestes Beispiel für ein „transdermales therapeutisches System“ ist das Wärmepflaster – ein Laminat, das auf einer Seite schützt, auf der anderen Seite Wirkstoffe durch die Haut sickern lässt.
Geht Arbeitsschutz nicht anders?
Man könnte meinen, dass Menschen, insbesondere Arbeitnehmer, die in einem Betrieb tätig sind, in dem mit "hochtoxischen phosphororganischen Nervengiften" gearbeitet wird, Notfallsets zur raschen intervenösen Applikation der Gegengifte in Reichweite haben. Für den Arbeitsschutz haben Gewerkschaften lange genug gestreikt, Überwachungsbeamte lange genug gearbeitet. Ein Pflaster ist für die schnelle Darreichung konzipiert: Eine "E 605"-Vergiftung braucht, wie oben gezeigt, rund zwei Stunden. Die mit dem Parathion verwandten Giftgase Tabun und Sarin wirken binnen weniger Minuten tödlich.
Wo wäre also das wirtschaftliche Bedürfnis zu sehen, Anti-Nervengift-Pflaster zu entwickeln, zu produzieren und zu vertreiben? Ehrenwert mag das insoweit sein, als diese Gifte völkerrechtswidrig im Krieg eingesetzt werden, zuletzt wohl 2013 Tabun im sogenannten Bürgerkrieg in Syrien. Hilfe tut hier not. Fraglich allerdings, ob derlei Pflaster nicht bloß dem Selbstschutz soldatischer Kriegsverbrecher dienen.
Über diese möglichen Motive in jener Produktentwicklung, deren Patentschutz im BGH-Urteil vom 21. Oktober 2010 zur Entscheidung stand, soll hier nicht weiter spekuliert werden. Neben der militärischen Verwendung von Gegengiften wäre auch ein ziviler Bedarf in Betracht gekommen, der durch den weiten Gebrauch dieser hochtoxischen Substanzen in Weltregionen entsteht, in die man sie nicht gern unbedacht geliefert sieht: Cornelius Courts, lehrberechtigter Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Rechtsmedizin an der Rheinischen Friedrich Wilhelms Universität Bonn, machte in seinem Blog "blooDNAcid" auf die weit verbreitete Verwendung der Pflanzenschutzmittel bei Selbsttötungen außerhalb der westlichen Länder aufmerksam, zum Beispiel:
"In Sri Lanka stieg die Suizidrate exakt mit der Einführung organischer Chlorine und Phosphate als Pestizide ab dem Jahr 1970 stark an. Einige Pestizide sind dabei so giftig, daß davon ein einziger Schluck, etwa 50 ml, bereits tödlich ist. So ein Tod ist übrigens keineswegs sanft und schmerzlos, sondern kann durch Krampfanfälle, Atemlähmung oder Organversagen eintreten."
E 605 & Co. – die sozialen Konsequenzen
Als Gegenmittel, jedenfalls gegen spontane, aus Verzweiflung geborene Selbsttötungen, werden in Sri Lanka verschließbare Boxen getestet, der Versuch läuft bis zum Jahr 2016. Wer dieser Tage über einem Beitrag des BGH-Richters Thomas Fischer für Die Zeit eine moralische Krise erlebt hat, mag das Posting von Cornelius Courts vielleicht als tröstenden Beleg dafür lesen, dass noch nicht alle Moral zum Teufel gegangen ist.
Für Europa ließe sich heute eine "Kriminalgeschichte des Parathions" möglicherweise schreiben, als die Geschichte eines Pflanzenschutzmittels, dessen Wirksamkeit am Menschen im sozialen Feld- und Selbstversuch ausgelotet wurde. Mehr als ein vager Beitrag zur E-Nummern-Phobie körnerliebender Kreise mag vom berüchtigten "E 605" nicht übrig geblieben sein.
Für eine weltweit abschließende Sozial- und Kriminalgeschichte der Substanz ist allerdings die Zeit nicht reif, u.a. wegen dieser gewohnheitsmäßigen kleinen Heuchelei: Als das Parathion 2001 für den europäischen Raum aus dem Geschäft genommen wurde, mischte der EU-Gesetzgeber gewohnheitsmäßig jenes Gran Bitterkeit bei, ohne das selbst kluge Entscheidungen nicht auskommen: Die Ausfuhr der Substanz über die EU-Außengrenzen betraf das Verbot seinerzeit nicht.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Giftrecht: Der Omelett-Fall und E605 . In: Legal Tribune Online, 24.05.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15640/ (abgerufen am: 06.06.2023 )
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