Der 3. Oktober ist heute ein Volksfest in der Hauptstadt, kaum mehr. Man genießt die Freizeit. Von dem, was sich in der früheren DDR als Recht ausgab, ist wenig geblieben. Im Gedenken vieler Ex-SED-Untertanen verklärt sich der Blick, als habe man in Schweden gelebt, nur mit einer Mauer. Mit einem bösen Relikt aus dem Bücherschrank zeigt Martin Rath die finstere Seite des 1990 beendeten Staats.
Vielleicht sollte man einmal schlicht und – im Wortsinn – ergreifend mit dem Papier anfangen. Denn das Papier war 1951, zwei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, nicht selbstverständlich. Keinesfalls in der DDR, aber auch nicht im freien Teil Deutschlands. Wer einmal die "Juristenzeitung" oder die "Neue Juristische Wochenschrift" im Original jener Jahre zur Hand nimmt, aber auch manch schöngeistiges Werk dieser Zeit, hält bröseliges und raues Papier in den Händen, faserig und verblichen – jede Tageszeitung wird heute hochwertiger gedruckt.
Ein Relikt aus den frühen Jahren der DDR hat dagegen etwas von der Ästhetik jenes Bösen, das ja gerne in schönen Formen daherkommt. Es ist handwerklich gut gemacht. Ein solider Kartondeckel, Leinenrücken, gut gebunden.
Es handelt sich um die deutsche Ausgabe der "Gerichtsreden" von Andrei Januarjewitsch Wyschinski (1883-1954), damals Vertreter der Sowjetunion bei den Vereinten Nationen, vormals Generalstaatsanwalt der UdSSR. Transkribiert wird sein Name heute manchmal als Andrej Januarievič Vyšinskij. Öfter genannt wird er im Zusammenhang mit Roland Freisler (1893-1945), dem NS-Justizpolitiker und Präsidenten des Volksgerichtshofs, der sich sein bestialisches Auftreten bei Gericht von eben jenem Wyschinski abgeschaut haben soll.
Schrecken steckt schon in der Papierqualität
In den druckhandwerklichen Vorzügen der "Gerichtsreden" liegt nicht allein wegen ihres Inhalts, auf den gleich zu kommen sein wird, eine Ästhetik des Bösen. Denn die Gründe, aus denen das Werk 1951 im Ostteil Berlins in dieser durchaus nicht selbstverständlichen Qualität gedruckt wurde, liegen auch in der nackten Gewalt dieser Zeit. Ein Druckerei-Mitarbeiter, der das Unglück hatte, in einem anderen Druckerzeugnis versehentlich die Bleisatzlettern "r" und "u" im ersten Wort der beliebten Phrase von der "fruchtbaren Herrschaft der Arbeiterklasse" zu vertauschen, bekam es seinerzeit beispielsweise mit dem Geheimdienst, wenn nicht mit Lagerhaft zu tun – und das konnte heißen: Zehn Jahre Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern Sibiriens.
Ein Werk mit den "Gerichtsreden" des bekanntesten sowjetischen Juristen, der sich seinen deutschen Kollegen als Lehrmeister "sozialistischer Gesetzlichkeit" empfahl –, an einem solchen Werk durfte schon von der äußeren, drucktechnischen, buchhandwerklichen Qualität kein Makel haften, wollten nicht die Verlagsmitarbeiter ihre Freiheit oder ihr Leben riskieren.
Einen rechtswissenschaftlichen Wert hatte dieses Machwerk, das mit einer Erstauflage von 15.000 Stück über die DDR-Juristen kam, jedenfalls kaum. Das hinderte nicht daran, die DDR-Juristen bereits 1952 mit der zweiten Auflage zu versorgen.
Verurteilt zum höchsten Strafmaß
Am Ende der "Gerichtsreden" findet sich jeweils das Strafmaß der von Wyschinski angeklagten Personen, sehr oft lautet es: "Tod durch Erschießen". Bei den justizförmigen Umständen, die zu solchen Urteilen führten, kannte die stalinistische Justiz durchaus unterschiedliche Formen. Wassili Wassiljewitsch Ulrich (1889-1951), der in der Funktion des obersten Militärrichters der UdSSR zu den Kollegen Wyschinskis zählte, gilt als Ausbund perverser Prozessökonomie: Für jeden Angeklagten nahm er sich maximal 20 Minuten Zeit, die er gern abkürzte, wollte eine arme Seele auf die Folterung durch den KGB verweisen. Am Ende stand regelmäßig "Tod durch Erschießen".
Wyschinski, der unter anderem von der SED-Justizpolitikerin und -Richterin Hilde Benjamin (1902-1989) als Koryphäe der "Sozialistischen Gesetzlichkeit" dem DDR-Justizapparat zur Anbetung anempfohlen wurde, eignete sich eher dazu, den blutigen Karneval einer stalinistischen Rechtswissenschaft zu inszenieren, als der staatsterroristische Minimalist Ulrich. Denn seine "Gerichtsreden" sind schier endlos mäandernde Texte, eine Mischung aus persönlicher Herabwürdigung der Angeklagten, prozessual verdrehtem Irrsinn – den Justizopfern wird gelegentlich vorgeworfen, nach über 30-stündigem Verhör immer noch nicht das gestanden zu haben, was man von ihnen hören wollte – und Lobreden auf die Sowjetunion und ihre Herren, den "geliebten Führer unserer Partei und unserer Heimat" Stalin samt Genossen.
Der Justiznachwuchs in der jungen DDR durfte sich durch Überschriften wie die folgende gut orientiert fühlen: "Die tollwütigen Hunde müssen allesamt erschossen werden". Was dann im Fall des solcherart endenden ‚Plädoyers‘ mit allen Angeklagten einer wohl frei erfundenen "trotzkistischen Verschwörung" auch geschah.
2/2: Staatsterroristische Übungen
In der Frühzeit der DDR, geprägt von nachkriegsbedingter wie selbstgemachter Mangelwirtschaft, machten einen Gutteil des politischen Strafrechts Prozesse wegen vorgeblicher Verschwendung "sozialistischen Eigentums" aus. . Hier konnte Wyschinski tatsächlich als Lehrmeister dienen, auch wenn man – hart an der noch halbwegs offenen Grenze zum freien Teil Deutschlands – weniger oft zum "Tod durch Erschießen" greifen konnte.
Vor seiner Berufung zum Generalstaatsanwalt hatte sich Wyschinski nämlich in der Anklage kleinerer Wirtschaftsdelikte geübt, die politisch umso größer theatralisiert wurden: Der Direktor einer Mähdrescherfabrik hatte – für die sowjetische Staatswirtschaft keinesfalls untypische – Fertigungsprobleme zu verantworten? Man macht ihm den Prozess, einem Hochverräter gleich. Zeitgleich verhungerten in der Ukraine mehrere Millionen Menschen – das Europäische Parlament betrachtet dieses staatlich verordnete Aushungern, den "Holodomor", heute als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Derweil dient ein dramatischer Mähdrescher-Prozess dazu, angeblich Verantwortliche vorzuführen.
Sein Meisterstück, das ihm die Berufung zum Generalstaatsanwalt sicherte, lieferte Wyschinski – von Haus aus im Übrigen ein unter der Stalinistischen Führung selten anzutreffender humanistisch gebildeter Jurist – 1930 mit dem sogenannten Industrieprozess. Arkadi Waksberg (1933-2011), ein regimekritischer Jurist und Journalist, in den 1980er-Jahren Biograph Wyschinskis, gibt an, dass dieses Verfahren die Weltöffentlichkeit in Erstaunen versetzte: Erstmals gestanden alle Angeklagten den Vorwurf, sie hätten als Wissenschaftler eine militärische Intervention des Auslands vorbereitet. Der Kronzeuge der Anklage, der prominente Ingenieur Leonid Konstantinowitsch Ramsin (1887-1948), so belegten in den Gorbatschow-Jahren zugängliche Akten, stand bei dieser völlig absurden Verschwörungstheorie im Dienst der Anklagebehörde, wurde zwar ebenfalls zum "Tod durch Erschießen" verurteilt, dann aber begnadigt und später in höchste staatliche Ehren eingesetzt.
Statt "Ach Europa" bald: "Ach DDR"?
Der berühmte Hans Magnus Enzensberger (1929–) veröffentlichte 1987 ein kleines Buch mit politischen Reiseberichten aus allerlei europäischen Ländern, "Ach Europa" war der aufseufzende Titel. Aufsehen erregte damals sein Porträt der schwedischen Verhältnisse, die er als wohlmeinend autoritär beschrieb: Eine größere Anzahl Stockholmer Jugendlicher beispielsweise, die sich dank einer kostenlosen Telefonschaltung für ein unpolitisches Treffen in einem Stadtpark zusammenfand, wurde dort von der Polizei empfangen, auseinandergetrieben und anschließend von Sozialarbeitern und Psychologen in die Mangel genommen, die wissen wollten, warum sich die schwedische Jugend nicht in den schönen sozialdemokratisch verwalteten Jugendheimen treffen mochte.
Menschen neigen dazu, mit zunehmendem Alter die biografische Vergangenheit zu verklären. Man möchte nicht wissen, wie viele frühere Untertanen des SED-Staats heute ein Bild von der DDR im Kopf haben, das dem von Enzensberger 1987 beschriebenen Schweden gleicht: autoritär, aber fürsorglich.
Aus der Erinnerung an die DDR-Wissenschaft ergeben sich sogar kleine Heldengeschichten, die ein solches Selbstbild stützten könnten. Beispielsweise konnte sich die biologische Forschung im SED-Staat den Lehren des sowjetischen Scharlatans Trofim Denissowitsch Lyssenko (1898-1976) entziehen, der gegen jede naturwissenschaftliche Vernunft, aber mit dem Segen und der brutalstmöglichen Förderung Stalins behauptete, Lebewesen könnten erworbene Eigenschaften vererben.
Ein Blick in die verbrecherischen Werke der frühen DDR-Rechtswissenschaft mit ihrer ungehemmten Liebe zum sowjetischen Lehrer "sozialistischer Gesetzlichkeit" mag vor allzu rosigen Selbstbildern bewahren.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Zum Tag der Deutschen Einheit: Verbrecherlehrbuch . In: Legal Tribune Online, 03.10.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13390/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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