Rezension: "Willige Vollstrecker oder standhafte Richter?": Wie natio­nal­so­zia­lis­tisch urteilten Richter in der NS-Zeit?

Gastbeitrag von Dr. Sebastian Felz

12.06.2021

Fünf Richter des OLG Frankfurt am Main haben tausende Entscheidungen gesichtet und rund 270 zivilrechtliche Urteile aus der NS-Zeit ausgewertet. Das Werk ist akribisch recherchiert und im Ergebnis überraschend, findet Sebastian Felz. 

Am 30. März 1933 eröffnete Roland Freisler das Sondergericht im Bezirk des Oberlandesgerichtes (OLG) Frankfurt am Main. Der spätere Präsident des berüchtigten Volksgerichtshofes Freisler, damals noch Ministerialdirektor im Preußischen Justizministerium, mahnte die Richter, die "jüdisch-marxistische Rechtsprechung" zu beenden (S. 967). Der politische Auftrag an die Richter der Sondergerichte war also klar.  

Sondergerichte wurden in allen 26 OLG-Bezirken des Deutschen Reiches eingerichtet. Sie dienten dazu, die Heimtücke-Verordnung vom März 1933, 1934 als "Gesetz" erlassen, durchzusetzen und politische Gegner des Regimes zu bekämpfen. Diese Verordnung stellte neben der unberechtigten Nutzung von Uniformen und Zeichen von NS-Verbänden in erster Linie das Aufstellen und Verbreiten von "unwahre[n] oder gröblich entstellte[n] Behauptung[en] tatsächlicher Art", die das "Wohl des Reiches" oder Reichsregierung gefährden, unter Strafe. Diese Vergehen wurden vor den Sondergerichten verhandelt. Hierbei handelte es sich um "politische Justiz" im Sinne Otto Kirchheimers: Es wurden die justizförmige Verfahren genutzt, um politische Machtverhältnisse zu stabilisieren. 

Aber welche Rolle spielt die nationalsozialistische Ideologie, wenn es um Schadensersatzansprüche aus Verkehrsunfällen oder Mietverträgen geht, wenn auf Scheidung geklagt wird, wenn Testamente oder Kaufverträge angefochten werden? Und was passiert, wenn eine der Parteien als "jüdisch" oder politisch missliebig gilt? Wie urteilen die Richter, wenn ein Beamter als "politisch unzuverlässig" zwangsweise aus dem Dienst entfernt wird und auf Ruhegeld klagt? Hat die Klage auf Unterhaltsrente Erfolg, wenn der Getötete SA- oder SS-Männern zum Opfer fiel? Kann ein jüdischer Makler von der SS abgepresstes Geld zurückerhalten? Kann die "arische" Inhaberin eines Hotels das antisemitische Hetzblatt "Stürmer" auf Widerruf und Schadensersatz verklagen, wenn in einem Artikel behauptet wird, die Hotelinhaberin besitze das "Vertrauen der jüdischen Rasse"?  

Die Mühen der Archivarbeit 

Zwischen 1933 und 1945 sind nach Erhebungen der Autoren Georg D. Falk, Ulrich Stump, Rudolf H. Hartleib, Klaus Schlitz und Jens-Daniel Braun über 4.600 zivilrechtliche Urteile am OLG Frankfurt am Main ergangen. Viele Urteile betrafen alltägliche Streitigkeiten (Verkehrsunfälle oder Ehescheidungsklagen), die keinerlei politische Auffälligkeiten zeigten. Analysiert haben die Autoren schließlich 245 Urteile und 25 Beschlüsse. Alle analysierten Entscheidungen sind chronologisch mit Aktenzeichen in einem Anhang aufgeführt. In den Fokus der Untersuchung gerieten also zehn Prozent aller streitigen Urteile, in denen sich politische, gesellschaftliche oder rechtliche Spuren der NS-Ideologie im Entscheidungsgegenstand oder im Sachvortrag der Parteien wiederfinden.  

Ebenfalls aus den Tiefen der Archive präsentieren die Autoren im vierten Kapitel 25 Biogramme jüdischer Rechtsanwälte und Notare, die, soweit sie nicht ausgewandert waren, ab dem 1. Dezember 1938 nur noch als "Konsulenten" für jüdische Mandanten auftreten durften. Ihre Anwaltszulassung war vom 30. November 1938 an "zurückzunehmen". Diese beschränkte Zulassung war in "deutlich erkennbarer Schrift" auf Briefköpfen oder Visitenkarten hervorzuheben.  

Im 23. Kapitel, finden sich 45 Biogramme der Richter des OLG in Zivilsachen. Aber auch alle anderen Personen, Kläger, Beklagte und Rechtsbeistände werden – soweit es die Aktenlage zulässt – detailliert biographisch vorgestellt. Dies macht die Sachverhalte und die Protagonisten plastisch.  

Eine Rechts- und Gesellschaftsgeschichte des "Dritten Reiches" in 23 Kapiteln 

Die einleitenden drei Kapitel setzen den Rahmen. In ihnen wird das Zivilrecht zu anderen Rechtsmaterien abgegrenzt, es werden die zivilprozessualen Voraussetzungen der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit des OLG Frankfurt geklärt sowie das archivalische Fundament der Untersuchung vorgestellt. 

In 15 Kapiteln geht es um einzelne Rechtsmaterien wie die Amtshaftung, das Deliktsrecht, das Presse- und Äußerungsrecht, das Ehe-, Unterhalts- und Kindschaftsrecht, das Erb-, Gesellschafts- oder das gewerbliche Miet- und Pachtrecht sowie das Zwangsvollstreckungsrecht. 

Schließlich widmet sich das 20. Kapitel dem letzten halben Jahr der rechtsprechenden Tätigkeit zwischen Oktober 1944 und März 1945 sowie der Wiederaufnahme der Spruchtätigkeit nach Kriegsende mit teilweise unerledigten Verfahren aus dem "Dritten Reich". Die letzten drei Kapitel beschäftigen sich mit der "Behandlung von im NS-Staat diskriminierten Prozessparteien" sowie den Antworten auf die Frage "Willige Vollstrecker oder standhafte Richter?", also den Ergebnissen der Studie.  

Wie nationalsozialistisch war die Zivilrechtsprechung? 

Die angesprochenen Fälle entlassener Beamter gingen zu deren Lasten aus. Häufig verneinten die Frankfurter Richter schon die Eröffnung des Rechtswegs, was ihnen das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" ermöglichte. Im Fall eines ehemaligen NSDAP-Mitglieds, das wegen einer Unterschlagung von SS- und SA-Männern totgeprügelt wurde, erkannte das OLG auf eine Amtspflichtverletzung des NS-Bürgermeisters als örtlicher Polizeibehörde. Damit wurde ein Urteil gegen die örtlichen Parteistellen gefällt. Allerdings zog das Reichsinnenministerium nach dem "Ausgleichsgesetz", das Schadensfälle aufgrund "politischer Vorgänge der nationalsozialistischen Erhebung" regelte, das Verfahren an sich und gewährte eine niedrige angesetzte "Ausgleichszahlung" anstatt Schadensersatz und Unterhalt.  

Der jüdische Makler, dem zunächst die SA und später die SS sein Geld abgepresst hatten, bekam es nicht zurück. Das OLG Frankfurt a. M. bestätigte das von den Parteistellen ausgeübte Faustrecht. Zur Begründung führte es an, dass SA und SS berechtigterweise davon ausgehen konnten, im Wege der "Nebenjustiz" mit der Einweisung in ein Konzentrationslager drohen und auch noch "Spesen" in Rechnung stellen zu dürfen.  

Im Fall der Hotelinhaberin, die sich gegen die wahrheitswidrigen Behauptungen im "Stürmer" wehrte, in ihrem Hotel hätten sich wiederholt eine "Nicht-Jüdin" und ein "Jude" getroffen, verlor ihren Prozess. Der Schriftleiter des "Stürmers" durfte nach dem OLG, die Falschmeldung verbreiten, denn er war "nicht gehindert, den Bericht so zu gestalten […], wie er es zur Erfüllung der besonderen Aufgabe, die der Stürmer sich gestellt hat, die Rassenschande in Deutschland auszumerzen, für richtig hielt". 

Über der Billigkeit steht die Rechtssicherheit? 

Von großem Interesse sind die Analysen der Rechtsprechung in Bezug auf den Umgang mit nationalsozialistischem Rechtsdenken, das sich etwa in den Aufsätzen von Freisler oder Carl Schmitt niederschlug. So zitierte das OLG Frankfurt a. M. zustimmend Schmitts Aufsatz "Staat, Bewegung, Volk", um den Ausschluss des Rechtswegs zu den Zivilgerichten zu begründen. Wenn ein Bürger sich gegen einen Aushang in einem "Stürmer"-Kasten wehrte, den ein SA-Mann angebracht hatte, dann betreffe das eine quasi-hoheitliche Handlung, der Rechtsweg sei nicht eröffnet. Dies gelte aber nicht – so die überraschende Wendung –, wenn der SA-Mann nicht in Erfüllung von "Parteipflichten", sondern nur bei Gelegenheit gehandelt habe (S. 220 ff.).  

Auch im Falle einer Restitutionsklage der Stadt Frankfurt wegen einer Vaterschaftsfeststellung zeigten sich die OLG-Richter resistent gegen die Argumentation mit NS-Größen. Das Landgericht hatte die Notfrist des § 586 ZPO von einem Monat als "einer Auslegung fähig" angesehen, da "heute die Feststellung im Staats- und Rechtsleben größte Bedeutung" habe. Mit Verweis auf Freislers Aufsatz "Richter und Gesetz" von 1935 müsste "jede Gesetzesauslegung, die ein dem Gebot der nationalsozialistischen deutschen Sittenordnung zuwiderlaufendes Ergebnis zeitigen würde", als "falsch" und "rechtswidrig" eingeschätzt werden. Das OLG blieb dagegen rechtsstaatlich und judizierte, dass "über der Billigkeit […] die Rechtssicherheit" stehe (S. 107 ff.). 

Handlungsspielräume durch Methodik? 

Von den 270 analysierten Urteilen konnte anhand von fast 50 Entscheidungen eine eindeutige Antwort auf die Frage des Bandes „Willige Vollstrecker oder mutige Richter?“ gegeben werden. Die Autoren bilden drei Kategorien: Erstens Unrechtsurteile, zweitens ambivalente Urteile mit Unrechtscharakter und drittens mutige Urteile. 24 Urteile fallen in die erste Kategorie und 22 Urteile in die dritte Kategorie. An knapp 20 weiteren Entscheidungen zeigt sich das Oszillieren zwischen Recht und Unrecht.  

Evidentes Unrecht kann durch die Anwendung von neu geschaffenen NS-Gesetzen vorliegen, etwa bei den entlassenen Beamten. Aber auch die Anwendung herkömmlicher Dogmatik kann wie im Falle des jüdischen Maklers zu Unrecht führen, wenn die Beauftragung der SS zur gewaltsamen Einziehung einer vermeintlichen Forderung nicht als Anstiftung zur Nötigung eingestuft wird. Ebenso willkürlich war das Urteil gegen die Hotelinhaberin und für den Schriftleiter des "Stürmers", in welchem der objektiv feststehende Sachverhalt in mehrfacher Hinsicht bösartig verdreht wurde.  

Als "ambivalent" stufen die Autoren Urteile ein, in denen die von den Parteien ausgespielte "antijüdische Karte" Eingang in die Entscheidungsgründe fand oder die Richter das hohe Lied des "Führerprinzips" anstimmten. Allerdings halten die Verfasser fest, dass in diesen Fällen häufig Ideologisches in die Urteile einfloss, aber die Ergebnisse der Rechtsprechung nur in wenigen Fällen auf NS-Ideologie beruhten (S. 988). 

Als "mutige Entscheidungen" rubrizieren die Verfasser zum Beispiel Wettbewerbssachen, in denen die Frankfurter trotz der massiven Kritik von NS-Ideologen der Rechtsprechung des Reichsgerichts folgten. Unrechtsurteile gegen "jüdische" Unternehmer ergingen aufgrund der so von nationalsozialistischen Autoren oft gescholtenen "judenschützenden" Lauterbarkeitsrechtsprechung nicht. Beispielsweise verurteilte der vierte Zivilsenat 1938 einen Unternehmer, der unter Hinweis auf frühere „jüdische“ Anteilseigner des Konkurrenzunternehmens versucht hatte, sich Marktvorteile zu verschaffen wegen unlauteren Verstoßes gegen die guten Sitten zum Schadensersatz.  

Gleiches kann für die Rechtsprechung im Rahmen von "Arisierungen" festgehalten werden. Das Gericht verurteilte „arische“ Unternehmer, Lebensversicherungsbeiträgen zu erstatten, welche die vormaligen „jüdischen“ Eigentümer für „jüdische“ Angestellte ersatzweise geleistet hatten. Die Senate schoben auch Versuche der Ariseure den Riegel vor, durch angebliche Wertminderungen von Gebäuden oder Maschinenparks die bereits emigrierten Voreigentümer im Kaufpreis noch weiter zu drücken. 

Analysiert man die Urteilskategorien im Vergleich zu den jeweiligen personellen Besetzungen der Senate, so lassen sich "mutige" oder "NS-willfährige" Rechtsprechungstendenzen nicht eindeutig zuordnen (S. 1011). Daher kann das Fazit der Autoren nicht überraschen, wonach die konträren Richterbilder der "willigen Vollstrecker" und der "standhaften Richter" nicht klar abgrenzbar sind. Soweit die Richter am überkommenen Rechtsverständnis festhielten, Privatautonomie und Vertragstreue hochhielten, wirkte dies gegen das "nationalsozialistische Rechtsverständnis" der "Entformalisierung" tendenziell "unrechtsabwehrend" (S. 1013). Wo NS-Recht exekutiert wurde oder der Rassismus und die Diskriminierung die rechtlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse tiefgreifend deformiert hatten, stabilisierten die Frankfurter Richter mit ihrer Rechtsprechung das NS-Unrecht.  

Ein wissenschaftliches Ereignis und perfektes Studienbuch 

Ende Januar 2021 hat die Bundesjustizministerin Christiane Lambrecht in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" eine verstärkte Auseinandersetzung in der Juristenausbildung mit dem NS-Unrecht gefordert. In Studium und Referendariat müsse anhand historischer Beispiele aus Wissenschaft und Rechtsprechung des "Dritten Reiches" die "Ideologieanfälligkeit und Manipulierbarkeit" der juristischen Methode erfahrbar werden.  

Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von (zivilrechtlicher) Rechtsprechung in einem Unrechtsregime zeigen die Autoren in ihrem mehr als tausend Seiten umfassenden Werk auf. Wenn es der Ministerin "um die Stärkung der Fähigkeit junger Juristinnen und Juristen zur kritischen Reflexion des Rechts" geht, so kann mit diesem quellengesättigten Werk die auf historischer Kenntnis beruhende Ertüchtigung "zur kritischen Reflexion" in Studium und Referendariat gelingen.  

Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Referent in einem Bundesministerium (Bonn) und Vorstandsmitglied des Vereins Forum Justizgeschichte. 

Das Buch: Georg D. Falk, Ulrich Stump, Rudolf H. Hartleib, Klaus Schlitz, Jens-Daniel Braun: Willige Vollstrecker oder standhafte Richter? Die Rechtsprechung des Oberlandesgericht Frankfurt am Main in Zivilsachen von 1933 bis 1945. XI und 1.123 S., 62 s/w Abb. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 90) Marburg 2020. ISBN 978-3-942225-49-6, 38,00 €

Zitiervorschlag

Rezension: "Willige Vollstrecker oder standhafte Richter?": Wie nationalsozialistisch urteilten Richter in der NS-Zeit? . In: Legal Tribune Online, 12.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45180/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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