In einer Rechtsredaktion landet übers Jahr so einiges, was rezensiert werden möchte. Manches davon haben wir gelesen oder lesen lassen. Darunter: ein Anwalts-Thriller, ein Justizroman und das Entenhausener Gesetzbuch.
1/7: Rechtsstaat, populärwissenschaftlich: Jens Gnisas "Das Ende der Gerechtigkeit"
Sollte man ein Buch lesen, dessen Titel "Das Ende der Gerechtigkeit" lautet? Viele Menschen scheinen diese Frage positiv beantwortet zu haben, denn das Werk schaffte es – trotz oder wegen seines reißerischen Titels - auf die Spiegel-Bestseller-Liste. Und der Richter, der laut seinem Untertitel "Alarm schlägt", ist immerhin der Vorsitzende des Deutschen Richterbunds (DRB).
Mit dessen Gremien sei das Buch, das in der Richterschaft nicht durchgängig auf Begeisterung stieß, zwar nicht abgesprochen, so Jens Gnisa im Interview mit LTO kurz vor Erscheinen. Aber es greife auch viele Forderungen des DRB auf.
Dabei scheut Gnisa vor Schlagworten nicht zurück, passagenweise liest er sich eher wie ein Kommunalpolitiker als wie der Jurist, der der Direktor des Amtsgerichts Bielefeld ist. Man müsse die Worte verwenden, die auch die Menschen verwenden, sagte er im LTO-Interview. So erklärt er - fast mehr Politisches als Justizielles - mit einer Einfachheit, die an manchen Stellen naiv anmutet. Innenpolitisches wie den Umgang mit Flüchtlingen (erhebliche Vollzugsdefizite bei Abschiebungen), Terror (den Rechtsstaat nicht abbauen) oder Kinderehen (regelmäßig akzeptieren) bricht er so herunter, dass er der Verständlichkeit Komplexität opfert, die es zum Verständnis bräuchte. Und doch gelingt es Gnisa auch, juristische Wertungen zu vermitteln, die ohne juristische Vorbildung eigentlich schwer verständlich sind.
Sein "Faktencheck Strafjustiz" beschäftigt sich in einer Art und Weise mit Stammtischparolen, die man als populistisch empfinden kann. Zwingend ist das nicht. Man kann die Zahlen und Fakten, die er gefühlten Wahrheiten zu Straftaten, Strafzwecken oder Strukturen von Kriminalität entgegensetzen will, auch als Ausdruck der Bereitschaft verstehen, sich mit Ängsten zu beschäftigen, deren jahrelange Ignoranz sich als politisch fatal erwiesen hat.
Gnisa will sein Werk als "Debattenbuch" verstanden wissen. Das Recht habe in der Politik nicht genug Fürsprecher, kritisiert er deutlich. Überhaupt sieht er die Ursachen von Übeln stets eher in der Politik als in der Justiz. Laufen bei den Gerichten Dinge schief, führt er das eher auf Personalmangel (also Fehlentscheidungen der Politik) zurück als auf eine mögliche Fehlbarkeit der Menschen, die dort Recht sprechen. Gnisa endet mit Lösungsvorschlägen. Sie reichen von Ideen zur Umsetzung des Brexit über die Positionierung der deutschen Justiz bis zur Entrümpelung des Strafrechts. Ob, wenn sie nicht berücksichtigt werden, das Ende der Gerechtigkeit naht, sagt er nicht.
Jens Gnisa, Das Ende der Gerechtigkeit - Ein Richter schlägt Alarm, Herder Verlag, ISBN 978-3-451-37729-7
2/7: Fakten vom Experten: Holger Schmidts "Wie sicher sind wir? Terrorabwehr in Deutschland"
Wenn irgendwer in Deutschland über Terrorismusabwehr schreiben sollte, dann Holger Schmidt. Der gelernte Jurist und Mitglied der Justizpressekonferenz leitet die Redaktion "Datenjournalismus und Reporter" in Baden-Baden, der breiten Mehrheit ist er aber wohl eher bekannt als der "Terrorismus-Experte" der ARD.
Unter diesem Label könnte man sein Werk "Wie sicher sind wir? Terrorabwehr in Deutschland – Eine kritische Bilanz" fast auch ungelesen empfehlen. Im Jahr nach dem Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz und lange vor der finalen Aufklärung seines Zustandekommens gibt Schmidt Einblicke in das föderale deutsche Sicherheitssystem, seine Stärken und Schwächen, seine Siege und Niederlagen.
Schmidt zeigt auch, was nicht geschehen ist. Er berichtet von vereitelten Anschlägen, von Fahndungserfolgen und verhinderten Tragödien. Er macht deutlich, was die Binsenweisheit, dass man nachher immer schlauer ist, für Ermittler bedeutet. Er erzählt vom Islamismus in Deutschland, dem heutigen Gesicht des Terrors, und erinnert an Höhen und Tiefen im Kampf der Sicherheitsbehörden gegen die RAF.
Schmidt erklärt mehr, als er erzählt. Er erklärt die Struktur der deutschen Sicherheitsarchitektur, Aufgaben, Zuständigkeiten, Erfolge und Scheitern der Polizei, der Bundesanwaltschaft, des Verfassungsschutzes und der Nachrichtendienste. Er erklärt die "intergalaktische", von der Öffentlichkeit gern unterschätzte Rolle des mächtigen Bundeskanzleramts und fragt, wem die GSG 9 gehört.
Nicht nur für Juristen wird es aber besonders spannend, wenn Schmidt nicht nur erklärt, sondern erzählt. So lernt der Leser, wie der Generalbundesanwalt arbeitet, wann er Fälle an sich zieht, auf welche Ressourcen der aktuelle Amtsinhaber Peter Frank zurückgreifen kann und wie man in Karlsruhe bei der "kleinsten, aber vielleicht mächtigsten Bundesbehörde in der deutschen Terrorbekämpfung" mit den Ermittlungsrichtern des Bundesgerichtshofs zusammenarbeitet.
Der Sicherheits-Experte gibt Einblicke: in Karrierewege, die traditionellen Strukturen und das besondere Selbstverständnis einer Behörde, die ihr herausgehobenes Image fern der Berliner Politik mit Hingabe pflegt. Zuletzt hatten sich in der Affäre Netzpolitik.org, in deren Rahmen Generalbundesanwalt Range zurücktrat und dafür von seinen Karlsruher Kollegen frenetisch gefeiert wurde, die fundamentalen Unterschiede zwischen den Mentalitäten des aufgeregten Hauptstadt-Politbetriebs und der dort gern so bezeichneten "Besserwisser aus Karlsruhe" gezeigt.
Es sind diese Einblicke eines Insiders, die Schmidts Buch zu mehr machen als der Ansammlung unglaublich vieler Informationen, die es bietet. Das Werk, das ohne Anhänge mit vernünftigen 245 Seite auskommt, leidet an einigen Stellen unter zu viel Wissen. Was der Journalist voraussetzt, entspricht nicht immer dem Horizont des durchschnittlichen Zeitungslesers; die Konsequenzen, die er zieht, erschließen sich nicht stets auf den ersten Blick. Schmidt ist weniger Geschichtenerzähler als Datenjournalist, und in der Sache muss man auch nicht all seine Vorschläge gutheißen. Und doch sei sein Werk jedem, der in künftigen Sicherheitsdebatten mitreden möchte, dringend ans Herz gelegt.
Holger Schmidt, Wie sicher sind wir? Terrorabwehr in Deutschland: Eine kritische Bilanz, Orell Füssli, ISBN 978-3280056530
3/7: Besser schreiben für Besserwisser: Tonio Walters "Kleine Stilkunde für Juristen"
Tonio Walter hat nach sieben Jahren seine Kleine Stilkunde neu aufgelegt. Nun ist er nicht der Einzige, der sich um stilsicheres Deutsch bemüht. Aber der Hochschullehrer aus Regensburg ist eben einer der wenigen, die das speziell für Juristen tun. Und das ist, wenn ich das aus der Sicht einer Schlussredakteurin von Texten von und für Juristen mal in aller Deutlichkeit sagen darf, bitter nötig.
Die dritte Auflage hat der Strafrechtler erweitert um die Fragen des Genderns (lehnt er kategorisch ab, u.a. als Diskriminierung von Intersexuellen), das Englische im Deutschen (hält er für mehr Last als Gewinn) und einen neuen Abschnitt zu "Deutsch als Sprache der Rechtwissenschaft" (will er wegen der Einheit von Sprache und Recht unbedingt treu bleiben).
Walters recht ausschweifende Überlegungen zu Sprache und Stil kann, wer gute Sprache lernen will, getrost überspringen. Für den Anfang völlig ausreichend wäre es, seine Stilregeln zu beachten.
Wer nur die Hälfte dessen weg lässt, was Walter als überflüssig darstellt, wäre schon bei einem vernünftigen Text angekommen. Kurz und knapp zeigt er, wieso man auf die "gegebene" Sachlage getrost verzichten kann, sich sogenannte Vorreiter wie "Die Tatsache, dass" fast immer schenken und dass einsilbige Wörter die besten sind.
Nach drei Sekunden löscht das menschliche Kurzzeitgedächtnis den Speicher, gibt Walter die Erkenntnis von Stilpapst Wolf Schneider weiter. Und leitet daraus ab, wie man auf Schachtelsätze verzichtet, das Trennen und Klammern verhindert und bessere Verben verwendet.
Walter geht es um weit mehr als nur genaue Fachbegriffe. Verben sind die besseren Nomen, das Passiv heißt nicht umsonst Leideform und eine doppelte Verneinung ist doppelt so schwer zu verstehen wie die bejahende Aussage. Er präsentiert den richtigen Gebrauch des Konjunktivs, lehrt den Unterschied zwischen Haupt- und Nebensätzen und erzählt vom Erzählen – all das mit Beispielen aus der Juristerei, deren vertraute Diktion dem Leser ihre Absurditäten, die über fachsprachlich Nötiges weit hinausgehen, schnell offenbart.
Ein Kapitel widmet Walter, der 2005 einen Roman veröffentlicht hat, dem Gutachten- und Urteilsstil. Er zeigt dabei, dass der Schreibende – auch wenn er Jurist ist – stets im Auge haben muss, wen er mit seinem Text ansprechen will. Der Strafrechtler warnt vor Anführungszeichen als Merkmale allzu verzagten Schreibens und vor Bildern, die er als "verwackelt" bezeichnet. Die Überschriften so mancher juristischen Fachzeitschrift zeigen, wie nötig diese Lektion noch immer ist.
Walters Meinungen zu Stilmitteln und Stilfragen muss man nicht teilen, vorsichtig formuliert trifft der Rechtwissenschaftler, der sich u.a. gegen "feministische Kriminalpolitik" positioniert hat, mit vielem nicht gerade den Zeitgeist. Oft muten seine Ausführungen altklug, manchmal besserwisserisch an. Dennoch kann jeder Jurist vom Studienanfänger bis zum renommierten Fachautoren von ihm bessere Sprache lernen. Und nicht nur Besserwisser, sondern alle, die Sprache lieben und Recht verstehen, können mit der Neuauflage seines Werks genau das haben, was Walter seinen Lesern am Ende des Vorworts wünscht: viel Freude beim Lesen.
Tonio Walter, Kleine Stilkunde für Juristen, 3. Auflage, C.H. Beck, ISBN 978-3-406-69876-5
4/7: Die Justiz und ihre Menschen: Petra Morsbachs "Justizpalast"
Petra Morsbachs Roman "Justizpalast" hat einer für LTO rezensiert, der selbst genau dort als Proberichter angefangen hat. Der Roman über das Münchner Gebäude, das neben dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz auch die meisten Zivilkammern des Landgerichts der Landeshauptstadt beherbergt, erzählt die Geschichte einer Richterin.
Für Rezensent Lorenz Leitmeier ist die Polonaise der Staatsjuristen, welche die preisgekrönte Autorin dabei auflaufen lässt, "interessant, phasenweise amüsant, phasenweise erschreckend". Der promovierte Richter schreibt: "Sie sind praktisch alle da: Souveräne Entscheider, bürokratische Bedenkenträger, einfühlsame Wahrheitssucher, opportunistische Karrieristen, bedenkenlose Urkundenfälscher, brilliante Rechtsdogmatiker, frustrierte Karriereverhinderte, prinzipientreue Arbeiter, juristische Alles-Checker, neurotische Soziophobiker, Freizeit-Richter. Das alles ist dramatisch überzeichnet, und damit recht nah an der Wirklichkeit, die ja auch oft übertrieben ist."
Leitmeier hat sich, auch wenn die Parallelen zur Realität ihn, den Richter, erschrecken, als Leser vom Fach prächtig amüsiert. Die kalte Sprache des Rechts, gegenübergestellt Zitaten aus Wallenstein; Seitenhiebe auf Juristen-Humor: "Auf Seite 263 hat sie, die ewige Junggesellin, endlich einen Gesichtsausdruck, als würde sie 'gerade ein Votum fürs Bundesverfassungsgericht entwerfen' – Ekstase unter Juristen, nun ja."
Das mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnete Werk der Schriftstellerin Morsbach, die neun Jahre lang im juristischen Umfeld recherchiert hat, kommt auf 480 Seiten. Leitmeier findet bei den zahlreichen erzählten Fällen auch Längen – und billigt auch ihnen doch eine Einsicht zu: Beim Lesen komme an, wie mühsam die Arbeit in der "Gerechtigkeitsfabrik" ist. Trotz allem macht Morsbach juristische Fehler, wenn die Justiz Gesetze erfindet und Normen anwendet, die es noch gar nicht gab, als die Geschichte spielte.
Aber der Roman stelle vor allem die großen Fragen: "Was macht das System mit einem, der unten hineingeht und oben herauskommt? Muss es nicht auch korrumpieren, um zu funktionieren? Braucht es nicht die Illusion der Unterworfenen, dass es funktioniere? Wenn Recht Macht ist – schützt es nicht immer die ohnehin schon Mächtigen und ist damit ungerecht? Und wie geht man damit um, wenn man Fälle falsch entschieden hat und das weiß? Wiegt die Rechtssicherheit den Fehler auf? Morsbach werfe die großen Fragen eher auf, als dass es sie beantworte, schließt Leitmeier, "aber wer wollte das von einem Roman erwarten?".
Petra Morsbach, Justizpalast, Knaus, ISBN 978-3-8135-0373-9
5/7: Ein Muss für Fans der Lustigen Taschenbücher: "Das Entenhausener Gesetzbuch"
"Das Standardwerk zum Thema Recht und Gesetz in Entenhausen" hat Tobias Lutzi für LTO gelesen. Und qualifizierte es eher als zaghaften Systematisierungsversuch denn als umfassende Kodifizierung der komplexen Rechtswirklichkeit der Metropole an der Gumpe.
Seines Erachtens haben die Herausgeber des EGB, dessen Cover sich in bestens getroffener dtv/Beck-Anmutung präsentiert, weder Kosten noch Mühen gescheut: Die elf für den Band ausgewählten Geschichten aus Entenhausen werden ergänzt durch ein mehrseitiges Vorwort und zahlreiche Anmerkungen. Und doch seien den Machern bei ihrer Darstellung der wichtigsten Präzedenzfälle und des Justizsystems in Entenhausen auch schwere Fehler unterlaufen, meint Lutzi.
So bezweifele das EGB zu Unrecht das Augenmaß der Entenhausener Justiz, der Dagobert, Donald und der Rest der Familie ebenso unterworfen sind wie die berüchtigten Panzerknacker. Auch die Rechte der Arbeitnehmer seien keineswegs so unterentwickelt, wie das Entenhausener Gesetzbuch suggeriere – dort heißt es nämlich, in Entenhausen würden grundsätzlich keine Arbeitsverträge geschlossen; "da auch keine Gewerkschaften existieren, müssen viele Arbeitnehmer jede noch so undankbare Aufgabe annehmen".
Die Industriespionage an der Gumpe hingegen, zeigte Lutzi sich erschüttert, nehme auch das EGB weiterhin zu sehr auf die leichte Schulter. Und das, obwohl es von sich behaupte, dass die Gerichte an der Gumpe sich viel mit dem Thema Urheberrecht beschäftigen müssten, wegen all der kreativen Köpfe im Ort. Dafür liefert es die Antwort auf die Frage, weshalb alle Richter vor Ort Eulen sind.
Auch wenn Lutzi das EGB für "ein allenfalls bruchstückhaft überliefertes Fallrecht angelsächsischer Prägung" hält, "dessen Zeit für eine umfassende Kodifizierung möglicherweise schlicht noch nicht gekommen ist": Für juristisch vorgebildete Liebhaber der anthropomorphen Enten ist es ein Muss unter dem Weihnachtsbaum.
EGB – Entenhausener Gesetzbuch, Egmont Verlag, ISBN 978-3770439652
6/7: Thriller für die Feiertage: Ingo Botts "Das Recht zu strafen"
Ingo Bott ist im wahren Leben Anwalt bei Wessing und Partner. Und damit "in einer Kanzlei, die sehr anders ist als die in diesem Buch beschriebene", betont die Autorenbeschreibung zu "Das Recht zu strafen". Man ahnt, dass der noch recht junge Autor diese Distanzierung schaffen wollte, vielleicht auch sollte.
Bott ist Jahrgang 1983 und so liest sich auch sein Erstlingswerk. Mittdreißiger in der Großstadt und ihre alltäglichen Sorgen irgendwo zwischen zu viel promiskuitivem und beliebigem (männlicher Protagonist, Strafverteidiger mit entsprechendem Ego) und zu wenig (weibliche Protagonistin mit Latina-Hintergrund, von der hauptstädtischen Boulevardpresse als "Berlins heißeste Staatsanwältin" beschrieben, sich ihrer Vorzüge aber kaum bewusst) Sex bilden die Kulisse dafür. Das Buch arbeitet mit diesen Stereotypen, die es schon auf dem Umschlagtext bewirbt. Sie ziehen sich durch das Werk. Aber sie entwickeln sich nicht und gehen zunehmend unter in einer Handlung, die mit ihnen nichts zu tun hat und die sie auch nicht bräuchte.
Dennoch ist das Buch des promovierten Strafrechtlers, der in Steuer- und Wirtschaftsstrafsachen berät und verteidigt, eine gute Geschichte, sehr spannend* und bestens geeignet, um sich über die Weihnachtsfeiertage ein paar Stunden zurückzuziehen: Ein Thriller, dessen Charaktere trotz ihrer holzschnittartigen Einführung über die Seiten zumindest dem geneigten - will sagen: urbanen, akademischen, bindungsunfähigen Workaholic – Leser ans Herz wachsen dürften. Den man trotz schleppenden Beginns mit zunehmender Spannung liest, ungern aus der Hand legt und dessen Auflösung man erfahren will. Ein etwas strafferes Lektorat hätte den über 400 Seiten allerdings gut getan.
Aber der Thriller ist schnell gelesen. Die Mordserie wird zwar bald zu den "Philosophenmorden" erklärt, aber die Informationen über die Denker, ihr Leben, Wirken und - nicht zuletzt - Sterben bleiben so spärlich gesät, dass man nicht befürchten muss, allzu viel Bildung abzubekommen. Und wer wegen Titel, Autor und der ersten Szenen darauf spekuliert hätte, etwas über Strafzwecktheorien zu erfahren, wird spätestens mit der etwas holprigen Auflösung darüber belehrt, dass es bloß um Rache ging.
Überhaupt erhebt das Buch keinen Anspruch darauf, seine Leser allzu sehr an der juristischen Welt teilhaben zu lassen, in der seine Handlung stattfindet. So muss die junge Staatsanwältin sich zwar in den eher grauen Amtsstuben gegenüber der rein männlichen Kripo-Truppe behaupten, die sie leiten soll. Und der Strafverteidiger, der über einen Mentor den Weg zu den großen Mandaten gefunden hat, wird von einer Verkehrskontrolle vor seinem Wohnhaus daran gehindert, pünktlich zur Vernehmung seines Mandanten zu erscheinen.
Aber selbst - einem alten Haudegen von Staatsanwalt zugeschriebene - Ausführungen zur Aufgabe der Staatsanwaltschaft (Hüterin des Rechts, die auch zugunsten des Angeklagten ermittelt) bleiben blass und vermitteln keinen Zugang zu dem Umfeld, das immerhin in Teilen auch das des Autors selbst ist. Es hätte keines Juristen bedurft, um dieses Buch zu schreiben. Oder vielleicht hat ebendieser Jurist sich auch nur sehr bemüht, keine Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass nicht nur seine Kanzlei, sondern seine ganze Welt "sehr anders ist" als die in seinem trotz mancher struktureller Schwächen gelungenen Debütroman*.
Ingo Bott, Das Recht zu strafen, Grafit Verlag, ISBN 978-3-89425-495-7
*Geringfügige Änderungen am 22. Dezember, 9:45 Uhr
7/7: Katzenkönig auch für Nichtjuristen: Alexander Stevens‘ "9 ½ perfekte Morde"
Auch zu den "9 ½ perfekten Morden" von Alexanders Stevens würde, wer nicht täglich Boulevardmedien konsumiert, wohl schon wegen ihres Untertitels im Bücherregal eher nicht greifen. Aber der in ebendiesem zitierte Strafverteidiger (deckt auf, wie Schuldige davonkommen!) ist ein medial präsenter Münchner Anwalt, der uns explizit darauf hinwies, dass er sich bei der Erstellung des Werks, das es auf die Spiegel-Bestseller-Liste schaffte, auch ernsthaft juristische Gedanken gemacht habe.
Und tatsächlich kann man, auch als Jurist, speziell als Studierender der Rechtswissenschaften, Stevens Buch gemütlich an einem Sonntagnachmittag durchlesen, ohne seine Zeit zu verschwenden. Es erzählt exakt das, was der Titel verspricht: Geschichten von Menschen, die mit der Tötung Anderer straflos davongekommen sind.
Wer nichts gegen einfache Wahrheiten sowie eine jederzeit Partei ergreifende Sprache hat und sich nicht weiter daran stört, dass Stevens Hang zur Identifikation mit den männlichen Protagonisten seiner Geschichten auch vor den Tätern nicht Halt macht, kann in den Kurzgeschichten Wissenswertes erfahren. Nicht zuletzt, wie sich Recht für Nichtjuristen manchmal anfühlen muss.
Zwar wirkt Stevens, der seine Werke selbst regelmäßig auf Kreuzfahrten verfasst, glaubwürdiger und weit fundierter, wenn er von dem Mann erzählt, der seine Frau von Bord eines Luxusliners befördert hat, als wenn er sich auf das unsichere Terrain nicht geklärter Möglicherweise-Mafia-Morde begibt. Aber der – auch juristisch vorgebildete - Leser staunt nicht schlecht, wenn er erfährt, wie wenige Todesfälle pathologisch untersucht oder überhaupt erst als nicht natürlicher Art gekennzeichnet werden. Oder auch, dass die juristische Bewertung eines tödlichen Sexunfalls in der Regel glimpflicher abläuft als die eines anders gearteten, aber ebenfalls tödlich endenden Unfalls – weil der Täter wegen seines gesteigerten Lustempfindens und der eingeschränkten kognitiven Wahrnehmungsfähigkeit im Verlauf des Liebesspiels möglicherweise die Gefahr der Tötung nicht erkannt habe.
Natürlich muss der geneigte juristische Leser etwas nachsichtig sein mit Begrifflichkeiten, die juristisch anders besetzt sind. So könnte man trefflich darüber streiten, ob in allen erzählten Geschichten ein Mordmerkmal erfüllt ist. Aber auch hier rettet Stevens seine vom reißerischen Titel besudelte Ehre gleich selbst: Der promovierte Strafrechtler erklärt seinen Lesern nicht nur, was Mordmerkmale sind, sondern macht auch deutlich, wie komplex ihre Annahme oder Ablehnung zeitweise ist. Überhaupt verdeutlicht er mit seiner bildhaften, einfachen Sprache nichtjuristischen Leser, wie kompliziert Recht sein kann.
Nach der Lektüre kann auch ein Nichtjurist verstehen, warum man einen Mann, der in Chatforen junge Mädchen beim Suizid "begleitet", in Deutschland nicht zur Verantwortung ziehen kann. Oder warum die Figur des Täters hinter dem Täter entwickelt wurde – ja, Stevens stellt auch den Katzenkönig-Fall vor. Wer also als Jurist, speziell Student der Zunft schon länger verzweifelt versucht, seinen nicht-juristischen Verwandten oder Freunden klar zu machen, womit er sich eigentlich so beschäftigt, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt. Es liefert genug Stoff für lange Debatten-Abende; und ein Jurastudium braucht es für sein Verständnis beileibe nicht.
Alexander Stevens, 9 ½ perfekte Morde, Piper Verlag, ISBN 978-3-492-31144-1
Pia Lorenz, Last-Minute-Weihnachtsgeschenke: Sieben Bücher von und für Juristen . In: Legal Tribune Online, 21.12.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26153/ (abgerufen am: 01.10.2023 )
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