Spätestens seit 1975 stritt die Bundespolitik um eine Entbürokratisierung der Kriegsdienstverweigerung. Mit Urteil vom 13. April 1978 entschied das Bundesverfassungsgericht gegen die sogenannte Postkartennovelle.
Dass der Bundesgesetzgeber, wie man früher gelegentlich sagte, eine Sache wie einen Schuss von hinten durchs Knie ins Auge regelt, also auf unnötig komplizierten Umwegen und dann auch noch im Widerspruch zu früheren, bisher nahezu heiligen Grundsätzen der Beteiligten, ist keine Erfindung der jüngeren Zeit.
Denn das bekam der Gesetzgeber auch schon in den 1970er und 1980er Jahren hin, die heute vielen politischen Nostalgikern als Hort einer rittmeisterlichen, staatsmännischen Vernunft gelten.
Ein besonders schönes Beispiel, geht es doch um vermeintliche Schicksalsfragen sowohl der Nation als auch des Individuums, bietet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13. April 1978 (Az. 2 BvF 1, 2, 4, 5/77) und seine Vorgeschichte – der politische Meinungskampf um die sogenannte Postkartennovelle.
Individualistischer Zeitgeist trifft auf Prüfungsausschüsse
Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland war mit einer Vorschrift bekanntlich seiner Zeit voraus: Während Artikel 4 Abs. 3 Grundgesetz (GG) bereits 1949 regelte, dass niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden dürfe, führte der verfassungsändernde Gesetzgeber die Wehrpflicht erst im Jahr 1956 wieder ein.
Seit 1957 gehörten den Streitkräften dann auch wieder Soldaten an, die auf dieser Ermächtigungsgrundlage zum Dienst genötigt wurden. Vom Grundrecht der Kriegs- bzw. Wehrdienstverweigerung machten einstweilen nur sehr wenige Männer Gebrauch. Bis im Jahr 1968 die damals Aufsehen erregende Zahl von 10.000 Antragstellern publik wurde, blieb es bei wenigen hundert, dann wenigen tausend Verweigerern.
Das Wehrpflichtgesetz (WPflG) vom 21. Juli 1956 regelte das rechtshistorisch ganz neuartige Institut in nur drei Paragraphen. § 25 WPflG erklärte zunächst:
"Wer sich aus Gewissensgründen der Beteiligung an jeder Waffenanwendung zwischen den Staaten widersetzt und deshalb den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, hat statt des Wehrdienstes einen zivilen Ersatzdienst außerhalb der Bundeswehr zu leisten. Er kann auf seinen Antrag zum waffenlosen Dienst in der Bundeswehr herangezogen werden."
Das Verfahren gab § 26 WPflG vor: Über die Berechtigung ungedienter Wehrpflichtiger, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, war auf Antrag durch besondere Prüfungsausschüsse zu entscheiden, die im Bezirk jedes Kreiswehrersatzamts zu bilden waren. Ihr Vorsitzender, mit beratender Stimme, wurde durch den damals noch so genannten Bundesminister "für" Verteidigung benannt, hinzu kamen drei ehrenamtliche Beisitzer, mindestens zwei davon waren aus dem Kreis der kommunalen Selbstverwaltung vorzuschlagen.
Mit der in den 1960er Jahren steigenden Zahl von Antragstellern wurde nicht nur die gesetzliche Aufgabe des Ausschusses nach § 26 Abs. 4 WPflG, sich von der "gesamten Persönlichkeit" des Antragstellers und seinem "sittlichen Verhalten" einen Eindruck zu verschaffen, zunehmend heikel. Weil sich mehr als die äußere Glaubwürdigkeit der behaupteten Gewissensentscheidung des Antragstellers kaum prüfen ließ, gerieten die jungen Männer regelmäßig in ein mehr oder weniger rigides Verhör. Berühmt, berüchtigt und vielfach an der Grenze zur Rechtswidrigkeit waren etwa Fragen danach, wie sie sich in nichtmilitärischen Nothilfe- oder Notstandssituationen verhalten würden.
Spätestens Anfang der 1970er Jahre geriet die Verwaltung mit diesem Verfahren unter Arbeitsstress. Bis 1971 war die Zahl der Antragsteller von rund 10.000 drei Jahre zuvor schon auf 27.000 gestiegen, im Jahr 1976 sollten es rund 41.000 werden.
Für eine gründliche Anhörung von rund einer Stunde Länge, samt gerichtsfester Vor- und Nachbereitung mangelte es an Personal, hinzu kam eine als "Prozessflut" wahrgenommene Klagefreudigkeit von Wehrpflichtigen, deren Antrag abschlägig beschieden worden war.
SPD- und FDP-Realpolitiker zwischen radikalem Zeitgeist und Sachzwang
Vor diesem Hintergrund wurden nicht nur in den teils linksradikalen Jugendverbänden von SPD und FDP oder erst recht in der linksextremen außerparlamentarischen Opposition Stimmen laut, die aus Gründen der Absurdität einer Gewissensprüfung schlechthin ihre Abschaffung oder fundamentale Reform des Verfahrens forderten.
Auch in Kreisen der CDU, damals noch eng auch mit der evangelischen Kirche vernetzt, wurde der Reformbedarf gesehen. Hinzu kam der juristische Sachverstand, beispielsweise in Gestalt des CDU-Rechtspolitikers und langjährigen rheinland-pfälzischen Verwaltungs- und Landesverfassungsrichters Gerhard Meyer-Hentschel (1911–2005).
In seiner Darstellung zur "Kriegsdienstverweigerung per Postkarte" (2005) zeichnete der Historiker Patrick Bernhard (1970–)jedoch ein hinreißendes Bild davon, wie trotz dieses allgemein bekannten Entbürokratisierungsbedarfs die amtliche Gewissensprüfung ins Gemenge bundespolitischer Inszenierungsinteressen geriet – ideale Voraussetzungen also für den sprichwörtlichen "Schuss von hinten durchs Knie ins Auge".
Sehr grob lässt sich Bernhards Untersuchung mit Blick auf dieses Interessengemenge wie folgt zusammenfassen: Einerseits bemühten sich die realpolitischen Kräfte in der von SPD und FDP getragenen Bundesregierung der Kanzler Brandt und Schmidt primär darum, nicht in den schlechten Ruf zu geraten, den Bedarf der Bundeswehr an Wehrpflichtigen nicht mehr decken zu wollen oder gar zu können.
Dabei stand Bundesverteidigungsminister Georg Leber (1920–2012) andererseits unter dem Druck der profilierungsbedürftigen jüngeren SPD- und FDP-Politiker, die teils mit der radikalen außerparlamentarischen Opposition vernetzt waren.
Nur widerwillig und mit Blick darauf, dass die geburtenstarken Jahrgänge ohnehin mehr Wehrpflichtige mit sich brachten, als die Bundeswehr gebrauchen konnte, legte Leber einen Entwurf vor, der für ungediente Wehrpflichtige vorsah, ohne größere Umstände auf Antrag über die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zu entscheiden.
Verfassungsrechtliche und bundespolitische Konflikte
Bei "durchs Knie ins Auge" war die politische Gemengelage damit natürlich noch längst nicht angekommen.
Ungeachtet des in der Union vorhandenen juristischen und verwaltungspraktischen Sachverstands trat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit ihrem meinungsstarken späteren Bundesverteidigungsminister und NATO-Generalsekretär Manfred Wörner (1934–1994) in fundamentale Opposition – es gelte durch die aufwendige Gewissensprüfung dem Vorrang des bewaffneten Dienstes weiter Geltung zu verschaffen, abzulehnen seien mit Blick auf den Personalbedarf der Bundeswehr jegliche, im Zweifel stets zu weit gehende Verfahrenserleichterungen.
1975 verweigerte Bundespräsident Walter Scheel (FDP, 1919–2016) ein erstes Gesetz auszufertigen, mit dem für ungediente Wehrpflichtige das Ausschussverfahren beendet werden sollte – die unionsgeführte Bundesratsmehrheit hielt es für zustimmungspflichtig, der Bundestag setzte sich darüber hinweg.
Gegen das nachgebesserte Gesetz, das die Mitwirkungsrechte des Bundesrats obsolet machen sollte und nun von Scheel nicht mehr aufgehalten wurde, klagten die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sowie die unionsgeführten Länder Bayern, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg vor dem Bundesverfassungsgericht.
Nach dem neuen § 25a WPflG sollte es für ungediente Wehrpflichtige, die noch nicht einberufen worden waren, künftig faktisch genügen, gegenüber dem Kreiswehrersatzamt ihre Kriegsdienstverweigerung zu erklären. Für den Fall, dass der Bundeswehr darüber die Rekruten ausgehen sollten, durfte die Bundesregierung durch Rechtsverordnung aber die noch nicht als Gewissensverweigerer anerkannten Wehrpflichtigen wieder dem Prüfungsverfahren unterwerfen.
Bundesverfassungsgericht erklärt "Postkartennovelle" für nichtig
Mit Urteil vom 13. April 1978 erklärte das Bundesverfassungsgericht diese Neuregelung für nichtig, nachdem es bereits am 7. Dezember 1977 auf dem Weg der einstweiligen Anordnung verfügt hatte, dass bis auf Weiteres das alte Verfahrensrecht anzuwenden sei.
Der formale Streitgrund, die Mitwirkungsrechte des Bundesrates bei der Neugestaltung des Anerkennungsverfahrens für Kriegsdienstverweigerer, trat in diesem Urteil deutlich in den Hintergrund – was seinerzeit Anlass zu scharfer Kritik am 2. Senat seitens linker und liberaler Verfassungsjuristen gab.
Vielfach war man bisher beispielsweise davon ausgegangen, dass das Grundrecht, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, nicht durch die Erwägung eingegrenzt werden könne, dass überhaupt erst der freiheitlich-demokratische Staat unter Waffen dieses Recht sichere. Aus der Absolutheit des Gewissens sollte, so die ältere Vorstellung, auch folgen, eben diesen Staat dem Risiko seines Untergangs aussetzen zu dürfen.
Das Gericht schlug in seinem Urteil einen deutlich anderen Ton an. Ernüchternd musste aus der Sicht jener, die aus der Absolutheit des Gewissens auf seine absolute Geltung schließen wollten, etwa der vierte Leitsatz wirken.
Hier erklärte das Bundesverfassungsgericht, dass Artikel 4 Abs. 3 GG zwar den Kriegsdienstverweigerer vor dem Zwang schütze, "in einer Kriegshandlung einen anderen töten zu müssen, wenn ihm sein Gewissen eine Tötung grundsätzlich und ausnahmslos zwingend" verbiete, der "Kernbereich des Grundrechts" jedoch nicht schlechthin vor der "Ableistung eines Wehrdienstes außerhalb dieser Zwangslage und ihres unmittelbaren Zusammenhangs", insbesondere vor der "Leistung von Wehrdienst in Friedenszeiten" schütze. Solange es nicht konkret ans Töten geht, bleibt dem Gesetzgeber also Spielraum.
Hatten linke, liberale, wohl auch christlich inspirierte Interpreten den aus der Kriegsdienstverweigerung resultierenden Status als alternativ und gleichrangig mit dem bewaffneten Wehrdienst sehen wollen, erklärte das Gericht den Dienst an der Waffe zum Regel-, den Verweigerungs- zum Ausnahmefall.
War bisher die Überlegung nicht abwegig gewesen, dass die sog. "Wehrgerechtigkeit" allein unter an der Waffe wehrpflichtig gestellten Männern mathematisch zu ermitteln sei, sodass anerkannte Kriegsdienstverweigerer nur gegen sich gelten lassen müssten, dass und in welcher Form andere Verweigerer auch zum Ersatzdienst herangezogen werden, war damit nunmehr die Gleiches-gleich-ungleiches-ungleich-Gesamtrechnung über alle bewaffnet Wehrdienst- und unbewaffnet Ersatzdienstleistenden zu ziehen.
Quod licet bovi, non licet Iovi – Kohl auf Schmidts Spuren
Nachdem Helmut Kohl (1930–2017), langjähriger Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, am 1. Oktober 1982 durch konstruktives Misstrauensvotum Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918–2015) im Amt abgelöst hatte, verlor seine Partei das Interesse daran, die inquisitorische Gewissensprüfung für Kriegsdienstverweigerer weiterhin mit großem rhetorischem Aufwand in Schutz zu nehmen – oder gar die Hilfe der roten Roben aus Karlsruhe zu suchen.
Noch vor der Bundestagswahl vom 6. März 1983 brachte die Parlamentsmehrheit von CDU/CSU und FDP ein Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz auf den Weg, das für die Masse der jungen Kriegsdienstverweigerer die leidige mündliche Gewissensprüfung durch ein Verfahren ersetzte, in dem eine schriftliche Begründung ihrer Verweigerung genügen sollte.
Hatte die Union gegen die "Verweigerung per Postkarte" noch polemisiert, trug sie nun selbst die Verantwortung für ein faktisch ebenso stark vereinfachtes Verfahren – denn die Masse der Kriegsdienstverweigerer, jedenfalls formal überdurchschnittlich gebildet, eher Gymnasiasten denn Haupt- und Realschüler, hatte keine Mühe, sich eine Gewissensbegründung aus vielfach kopierten Musterbriefen zusammenzustellen.
Sachzwangbearbeitung und ab und zu etwas Drama
Und die Lehre aus dieser Erzählung? – Kluge konservative Beobachter sahen bereits Anfang der 1970er Jahre, dass die politischen Parteien nicht länger über die einst sogenannten "großen Fragen der Nation" entschieden, sondern Politik sich auf parlamentarische Sachzwangbearbeitung beschränkte. Nur ab und zu werde, so wurde nostalgisch moniert, ein Konflikt künstlich dramatisiert, damit das Volk noch zarte Tendenzentscheidungen treffen könne.
Schon 1975 oder 1983 wurde offenbar nicht allzu ernsthaft über die Wehrverfassung einer Republik freier und gleicher Menschen (oder Männer) gestritten – obwohl die politische Philosophie der Neuzeit, nachzulesen etwa bei Niccolò Machiavelli (1469–1527), in ihr eine existenzielle Frage staatsbürgerlichen Selbstverständnisses sah.
Es blieb bereits damals bei Sachzwangbearbeitung mit inszenierten Erregungszuständen. Wenn man sich heute über solche Erregungen vielfach erregt, ist das doch etwas ermüdend.
Hinweis: Patrick Bernhards Aufsatz: Kriegsdienstverweigerung per Postkarte. Ein gescheitertes Reformprojekt der sozialliberalen Koalition 1969–1978, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1/2005, S. 109–139, ist ein sardonisch schönes Stück zur Sache.
Kriegsdienstverweigerung per Postkarte?: . In: Legal Tribune Online, 13.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56993 (abgerufen am: 25.04.2025 )
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