Plebiszite: Schöf­fen­di­enst statt Volks­ab­stim­mung

24.09.2017

2/2: Argumente gegen Selbsterlösungshoffnungen

Es werden also im 19. Deutschen Bundestag bemerkenswert viele Abgeordnete sitzen, deren Parteien sich bisher mehr oder weniger explizit für die Einführung von Volksabstimmungen im Bund ausgesprochen haben. Das führt nicht zwangsläufig zu Ergebnissen, aber bekanntlich ist eine unbere-chenbare Eigendynamik dem Parlament nicht fremd.

Einwände mit Blick auf das Versagen des Weimarer Bürgersinns dürften heute nur noch blass wirken. Das Argument, dass wir uns in Sachen Gesetzgebung längst in einer europäischen Republik bewegten, würde letztlich den Verdacht nähren, den doch ziemlich metaphysischen Souveränitätsbegriff zu einer staatsrechtlichen Schrulle des 18. Jahrhunderts erklären zu wollen. Niemand möchte die einflussreiche Gewerkschaft der deutschen Staatsrechtslehrer zum Streik bewegen.

Umso wichtiger werden in den kommenden Jahren die beispielsweise von Wolfgang Merkel bereits 2011 unter der Frage "Entmachten Volksentscheide das Volk?" benannten "Paradoxa" sein: So sind Volksabstimmungen tendenziell noch elitärer als Parlamentswahlen, weil die unteren Schichten der Bevölkerung überproportional häufig nicht an ihnen teilnehmen.

Menschen, die sich nicht als kompetent sehen, bleiben ebenfalls von Abstimmungen fern. Die Initiatoren von Volksbegehren in der viel gerühmten Schweiz sind regelmäßig finanziell potente politische und ökonomische Lobby-Gruppen – also exakt jene Kreise, die von Plebiszit-Befürwortern oft als die leibhaftigen Teufel der parlamentarischen Demokratie betrachtet werden.

Zu guter Letzt tendieren Referenden zur Wahrung des Status quo, geben der Gesellschaft also schwerlich die Richtung vor – womöglich kein gutes Modell in Zeiten, in denen zügige politische Lösungen zwingend notwendig sind.

Mut, sich staatsrechtlicher Fantasie zu bedienen

Bemerkenswert selten wird ein Vorschlag diskutiert, der geeignet sein könnte, das Repräsentationsdefizit – der parlamentarischen wie der plebiszitären Demokratie – und die Sachzwänge legislativer Arbeit in der globalisierten Welt zu kompensieren: die Besetzung parlamentarischer Gremien durch das Los – aus der Grundgesamtheit der Bürgerschaft.

Man stelle sich hierzu grob skizziert ein parlamentarisches Gremium neben dem Bundestag vor. Die auf Zeit aus der Grundgesamtheit der Bevölkerung oder des Volks – darüber mögen sich Experten der Deutschenqualitäten ihr Blut in Wallung bringen – ausgelosten zwei-, dreihundert Legislativschöffen erhalten Anhörungs- und Gutachterbefugnisse und ihre Kammer verfügt insgesamt am Ende über ein aufschiebendes Veto, das vom Bundestag in begründeter Form überstimmt werden kann.

Auch der Losdemokratie wird eine konservative Tendenz zugesprochen. Das beruhigt die Nerven aller, denen es aktuell zu schnell geht. Im Gegensatz zum Plebiszit könnten in einer solchen Kammer aber der national gesinnte Konditormeister aus  Kötzschenbroda und die postmoderne Großstadtdiva aus Düsseldorf in ihrer Funktion als ausgeloste Legislativschöffen miteinander diskutieren, streiten und herauszufinden versuchen, was ihnen beispielsweise am neuen Freihandelsvertrag oder den Plänen für die Sexualstrafrechtsnovelle zusagt oder nicht.

Bevor sich jedenfalls der kommende 19. Deutsche Bundestag ins Abenteuer plebiszitärer Volksgesetzgebung stürzt, sollte er sich mit Losdemokratie befasst haben. Vielleicht hilft ihm ja eine Enquete weiter.

Und die Verlängerung der Wahlperiode?

Selbst wenn weder Plebiszite im Bund noch Methoden der  Losdemokratie als erwägenswerte Bypass-Lösungen für den arg bürokratisch arbeitenden Bundesgesetzgeber in Erwägung gezogen werden sollten, bliebe immer noch das Anliegen, die Wahlperiode des Bundestages von vier auf fünf Jahre zu verlängern.

Einstweilen möchte man darauf wetten, dass dieses Anliegen, ins Junktim mit der Parlamentsverkleinerung und/oder mit dem jahrzehntealten Bauchladenhüter "Plebiszit" gesetzt und damit tagespolitisch als möglich, aber nicht sinnvoll zu Grabe getragen wird.

Auch hier wäre es reizvoll, das Thema – wenn man den Gegenstand denn für ein lösungsbedürftiges Problem hält – mit etwas mehr staatsrechtlicher Fantasie anzugehen.

Beispielsweise werden die Mitglieder des US-Senats auf sechs Jahre gewählt, wobei alle zwei Jahre ein Drittel dieser Kammer zur Wahl steht. Ob sich diese Methode auf den Bundestag übertragen ließe, wäre zumindest zu diskutieren. Oft ist beispielsweise zu hören, nur im Wahlkreis legitimierte Abgeordnete kontrollierten die Regierung effektiv. Zu überlegen ist, ob hierzu ein Parlament, in dem sich ein Drittel aller Mitglieder alle zwei Jahre neu beweisen muss, nicht einen mindestens ebenso starken Antrieb entwickelt.

Kurz gesagt: In der 19. Wahlperiode des Deutschen Bundestages droht eine verkürzte Diskussion um plebiszitäre Demokratie auf der Ebene des Bundes.

Es wird in diesem Fall zu prüfen sein, ob wirklich "mehr Demokratie" realisiert werden kann und ob alternative Wege – etwa die Auswahl von Repräsentanten per Auslosung – nicht besser geeignet sind, Demokratiedefizite zu beheben. Vorausgesetzt natürlich, man ist der Überzeugung, dass ein solches Defizit überhaupt existiert und mehr ist als ein akkumuliertes und im Online-Zeitalter bloß sichtbar gewordenes Dauernörgeln.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Ohligs.

Zitiervorschlag

Plebiszite: Schöffendienst statt Volksabstimmung . In: Legal Tribune Online, 24.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24675/ (abgerufen am: 23.04.2024 )

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