Völkerrecht: Vom Recht, ein fremdes Land zu bet­reten

von Martin Rath

26.02.2017

2/2: Fremde abweisen? – Keine gar so fundamentale Kompetenz

Als Vermittler zwischen diesen Gegensätzen in der älteren Völkerrechtslehre und als – kraft unzureichender Rezeption – bis heute einflussreiche Größe benennt der Schweizer Völkerrechtsgelehrte Vincent Chetail seinen Landsmann Emer de Vattel (1714–1767). Dessen Lehrbuch des Völkerrechts, das im Jahr 1758 publiziert wurde, wird bis heute zitiert, im angelsächsischen Raum oft und gern – und, so Chetail, in unzulässiger Verkürzung.

Der Oberste Gerichtshof der USA zitierte de Vattel beispielsweise in einer seiner zahlreichen Entscheidungen des 19. Jahrhunderts, in denen die Verfassungsmäßigkeit zuwanderungsfeindlicher Gesetze gegen Chinesen, Japaner und sonstige "Fremdrassige" verhandelt wurde.

Seit der Entscheidung Nishimura Ekiu v. United States aus dem Jahr 1892 muss der preußisch-schweizerische Rechtsgelehrte aus Neuchâtel in der Urteilspraxis der angelsächsischen Welt immer wieder herhalten, wenn es darum geht, Fremde auch ohne sachlichen Grund abzuweisen. Der britische Supreme Court behauptete beispielsweise im Jahr 2004, dass die Kompetenz des Staates, Fremde zuzulassen, abzuweisen oder zu entfernen, "zu den ersten und am weitesten anerkannten Hoheitsrechten des souveränen Staates zählte".

Der Zugang liegt dann stets im allenfalls durch Selbstbindung reduzierten Ermessen und wird mit jener Fairness behandelt, durch die sich die englischsprachigen Völker weltweit einen Namen gemacht haben.

Mit Blick auf Emer de Vattel zeigt Chetail, dass derlei historisches Pathos auf unzureichender Kenntnis der alten Völkerrechtsliteratur beruht. Als Quelle für die staatliche Kompetenz, Fremde abzuweisen, werde de Vattel seit rund 130 Jahren selektiv zitiert. Unberücksichtigt blieben Lehren wie diese: "Wenn eine wirkliche Notwendigkeit besteht, das Gebiet eines fremden Staats zu betreten – beispielsweise, weil anders eine Flucht vor einer drohenden Gefahr nicht möglich ist oder weil es keinen anderen Weg gibt, sich seiner Lebensgrundlagen zu versichern oder einer anderen unaufhebbaren Pflicht zu genügen – mag man den Zugang erzwingen, wenn er ohne guten Grund verweigert wird."

Nicht nur auf Normativkraft des Faktischen verlassen

Der Anspruch des Staates, ohne Sachgrund und in einem von jeder Rechtfertigungspflicht entbundenen Ermessen über den Zugang und Aufenthalt fremder Menschen zu befinden, ist mit Blick auf die Ideengeschichte des Völkerrechts also weit weniger ehrwürdig, als es die Entscheidungen vieler Gerichte nahelegten. Das wird nicht dadurch besser, dass das Online-Kommentariat unserer Tage ihn als fast wahnhaft fixe Idee wiederholt und zudem noch alle völkerrechtlichen (Selbst-) Bindungen des souveränen Staates geflissentlich ignoriert oder jedenfalls das Zusammenleben mit anderen Menschen als bloßen Gnadenerweis gegenüber dem jeweils Fremden desavouiert.

Es mag zwar nicht sonderlich wichtig erscheinen, um die historische Entwicklung der Staatensouveränität und des Besuchsrechts zu wissen. Sollte beispielsweise der Klimawandel Europa oder die USA übel heimsuchen, würden wohl ohnedies erstaunlich viele Menschen ihr gottgegebenes Recht auf ein Häuschen in Kinshasa oder Ho-Chi-Minh-Stadt entdecken und in südlicher Richtung in die Boote steigen.

Aber zu den verstörenden Eigentschaften der Gegenwart zählt eben doch, dass uns zurzeit die juristischen Auffassungen des 19. Jahrhunderts als die Lösungen für die Probleme des 21. Jahrhunderts verkauft werden. Eine Ahnung davon zu haben, wie sehr man sich damals die Normen und die Geltungsansprüche zurechtgebogen hat, mag den heutigen Eifer zumindest ein bisschen abkühlen.

Hinweis: Der Aufsatz von Vincent Chetail (in englischer Sprache) ist online verfügbar.

Autor: Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Völkerrecht: Vom Recht, ein fremdes Land zu betreten . In: Legal Tribune Online, 26.02.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22207/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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