Nach der reichhaltigen Atzung über die Weihnachtstage folgt, jedenfalls als virtuelle Strafe: die Diät. Virtuell bleibt sie, weil zwar viel darüber geschrieben wird, sie aber doch meist in frühen Stadien der Selbstkasteiung stehenbleibt. Weniger virtuell ist der juristische Umgang mit Verdauungsfragen. Martin Rath wagt sich an ein delikates Thema.
Was juristisch zur Verdauung zu schreiben ist, sollte zunächst abgegrenzt werden, damit es nicht unappetitlich wird. Im demütigen Abschnitt dieser Glosse werden unschöne Szenen aus der Welt des Rechts zwar nicht zu vermeiden sein, aber dabei soll es doch nicht um Verdauungsprodukte gehen. Kommunalabwasserrecht ist kein Thema, dem man sich während der Verdauung seiner Weihnachtssünden widmen möchte. Im Zweifel kommt es ja auch mit dem nächsten Gebührenbescheid von selbst ins Haus.
Auch die spezifisch juristische Problematik, dass Verdauungsprozesse zu erhöhter Milde im Strafprozess beitragen könnten soll hier ausgeklammert bleiben. Vor Mittagspausen werden Urteile härter, spät nachmittags wiederum sanfter. Ob dabei aber die Unterbrechung des Outputs von Angeklagten, Verteidigern und Staatsanwälten ausschlaggebend ist oder der Input aus der Gerichtskantine, mithin der Wechsel vom Straf- in den Verdauungsprozess, war der einschlägigen Studie zum Thema leider nicht recht zu entnehmen, weil sie leider doch nicht exakt der Frage nachging, in welcher Relation welches Frühstück des Richters zu welchem seiner Urteile stehen könnte ("Extraneous factors in judicial decisions", in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America).
Verdauungshilfen vor dem hohen Gericht
Darum soll es also nicht gehen. Worum dann? Nun, etwa um die Annäherung der Justiz an die Verdauung bzw. ihrer künstlichen Stärkung und Optimierung von einer okkulten Seite her.
Befremden erregt beispielsweise Weihrauch. In der katholischen Liturgie wird das Harz des Weihrauchbaums mitunter verschwenderisch verräuchert. Symbolisch steht der Stoff unter anderem für Reinigung und Gottesverehrung. Praktisch wird manchem Gemeindemitglied übel. Nicht bestätigt werden konnte der Befund, dass Weihrauch auch THC, den Cannabis-Wirkstoff enthalte, auch andere pharmakologische Mechanismen bleiben auf Vermutungen angewiesen.
Wer in diesen Tagen wegen eines schwer verräucherten Weihnachtsgottesdienstes Übelkeit oder auch Glücksgefühle empfand, der erhält möglicherweise sachdienliche Hinweise aus einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Saarlouis (v. 03.02.2006, Az. 3 R 7/05). Das prozessgegenständliche Weihrauchextrakt hätte nach einem Gutachten "aromatische Geschmackswirkung und rege zudem die Verdauung an". Weil es je nach Dosierung entzündungshemmende wie -stärkende Wirkungen entfalten könne, sei es nach dem schärferen Arzneimittel- statt nach dem freizügigeren Lebensmittelrecht zu behandeln.
Auf den Gedanken, eine Substanz, die man gemeinhin in einem sakralen Rahmen kennengelernt haben dürfte, zur Verdauungsförderung einzunehmen, muss man erst mal kommen. Ob die Verschiebung vom milderen Lebensmittel- ins striktere Arzneimittelrecht mit dem liturgischen Gebrauch des Weihrauchs zu tun hat? Weihrauch soll weihevoll vom Arzt oder Apotheker dargeboten werden, nicht würdelos im birkenstockbeschuhten Bioladen. Man wüsste zudem gern, ob die Saarlouiser Richter damals vor oder nach dem Mittagessen zu einem Urteil kamen.
Jurisprudenz der Verdauungshilfen
Wahre Wunder, nicht zuletzt auf dem Gebiet der Verdauung versprechen Mittel, die unter anderem Curcuma-Extrakte enthalten, also auf einem immer noch etwas exotischen Gewürz basieren – dafür aber einen Markennamen tragen, der spottlustige Beobachter an Abflussreiniger erinnern könnte: "DC Darmclean Duo" (Landgericht Itzehoe, Urt. v. 24.06.2014, Az. 10 O 158/13). Gleich zur Verhinderung von Heißhungerattacken, der Fettaufnahme sowie des Jo-Jo-Effekts sollte zur Jahrhundertwende einmal ein sogenanntes "Drachen-Gras-Pulver" dienen: Der damalige Importeur des Produkts hatte in "marktschreierischer" Weise für ein Produkt geworben, das eigentlich das Gegenteil einer guten Verdauung bewirken sollte, indem es beispielsweise Fettaufnahme zu verhindern versprach (Oberlandesgericht München, Urt. v. 25.04.2002, Az. 29 U 1871/02).
Dies ist ein Beispiel für die juristische Beschäftigung mit "Verdauung", die von Konjunkturen der Esoterik-Branche abzuhängen scheint: Mal schauen, was als nächstes, vorzugsweise asiatisches Verdauungswundermittel auf den Markt kommt. Besser erkennbar ist eine solche Konjunktur etwa bei der geschäftsträchtig aufgeworfenen Frage, wie Menschen durch eine Ernährungsumstellung die "Übersäuerung" ihres Körpers vermeiden könnten. Die pH-Werte in den verschiedenen Flüssigkeiten, die im Menschen wabern, bewegen sich in einem recht eindeutigen und kaum manipulierbaren Rahmen. Wer Produkte mit gegenteiligen Behauptungen anpreist, gegen den besteht ein Unterlassungsanspruch, wie ein Urteil des Landgerichts Hamburg vom 14. November 2003 zeigt (Az. 416 O 211/03).
Ist ein Rückfluss von Flüssigkeiten aus dem Magen in die Speiseröhre beispielsweise eine ernstzunehmende Funktionsstörung, ist eine allgemeine Bedrohung durch Säure vermutlich Unsinn. Derzeit sind laktosebefreite Milchprodukte sehr in Mode. Einigen Menschen werden diese Produkte zu Verdauungszwecken dienen. Andere kaufen derlei, weil es teuer und damit gut ist. Parallel geht der Gedanke um, Milch sei eine Art Universalgift. In den Zwischenräumen liegen die Vermarktungsfelder jener zweifelhaften Produkte, die unter arznei-, lebensmittel- oder wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten von der Justiz verdaut werden müssen.
2/2: Recht der Verdauung leitet zu Demut an
"Ein kauuntüchtiges Gebiß könne zwar zu einer Beeinträchtigung der Verdauung oder zu Magen-Darm-Erkrankungen führen", zitierte das Sozialgericht Hildesheim am 26. August 1970 ungerührt aus der älteren Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts. "Diese Möglichkeit allein genüge aber nicht, um die Notwendigkeit einer zahnärztlichen Behandlung zu bejahen", so das Bundessozialgericht am 12. Dezember 1972 (Az. 3 RK 67/70). Es verwarf die Revision eines Mannes, der Kostenerstattung für die Behandlung von vier verlorenen Zähnen forderte.
Haben Behörden und Gerichte heute häufig mit Übermaßproblemchen zu tun tun, ging es Anfang der 1970er-Jahre noch um das Gegenteil: Menschen, die gern physiologisch in der Lage wären, das Vorgesetzte zu verspeisen. Zugespitzt formuliert: Das Gebiss wurde hier als Eingang des Verdauungstrakts gesehen, nicht als Ort für kosmetische Inszenierungen, die heute mit zum Beispiel in Gestalt von Bleachings mit Rückstrahlwerten von Fahrrad-Katzenaugen oder allerlei Schmuckstein-Einbauten einen Trend ins Absurde haben.
Regelrecht zur Demut – ob nun in ihrer religiösen oder säkularen Geschmacksrichtung – leiten jene etwas unappetitlichen Entscheidungen an, die den Verlust menschlicher Handlungsfähigkeit im Bereich der Verdauung sowie das medizinische und sozialrechtliche Bemühen thematisieren, die Folgen dieses Verlusts aufzufangen: Mit Beschluss vom 30.Oktober 2008 musste das Landessozialgericht (LSG) Bayern beispielsweise Klarheit über den Anspruch einer "digitalen Enddarmausräumung" bei einer "77-jährigen vollständig immobilen, stark hinfälligen" Frau schaffen, bei der die Notwendigkeit "auf die natürliche Verdauung künstlich einzuwirken" an sich unstrittig war. Allein, die Krankenkasse hatte Sorge, dass der Pflegedienst das "Unvermögen zur natürlichen Stuhlentleerung" dazu nutzen könnte, der Patientin gehäuft per "digitaler Enddarmausleerung" auf den Leib zu rücken – was im Vergleich zu anderen Handhabungen stärker ins Geld geht.
Verdauung, wirklich ein Juristenproblem?
Der große Sozialtheoretiker und gelernte Verwaltungsjurist Niklas Luhmann (1927-1998) lehrte, dass die sozialen Teilsysteme Recht, Macht, Wirtschaft, Liebe, Wahrheit, Bildung, Kunst etc. als gleichsam geisterhafte Wesenheiten sich in Zeit und Raum fortschrieben. (Mitlesende Luhmannianer aus dem engsten Zirkel der Lehre mögen die Umschreibung verzeihen.)
Grundsätzlich ist der menschliche Körper für diese sozialen Teilsysteme ein Teil der biologischen Umwelt. Den eigenen Körper als "Umwelt" zu sehen, ist erst einmal unsympathisch (wenngleich es beim Verdauungstrakt ja naheliegt). Diese abstrahierende Perspektive erlaubt aber jedenfalls Richtern, sich bis zu einem gewissen Grad von Werturteilen etwa medizinischer Sachverständiger loszumachen. Beispielsweise wird die Frage, ob der Brechmitteleinsatz zu polizeilichen Ermittlungszwecken zulässig sein soll, neben Auskünften der medizinischen Wissenschaft auch von der körperlichen Selbstwahrnehmung der beteiligten Richterinnen und Richter abhängen.
Im Urteil des Landessozialgerichts Hessen vom 10. November 1976 (Az. L 3 U 587/75) ging es um einen Lufthansa-Kapitän, der auf dem Weg zwischen seinem Hotel und einem Restaurant von einem Auto angefahren worden war und daraufhin seinen Beruf aufgeben musste. An sich sollte man ein recht hohes Maß an Empathie unterstellen können, rangierten Lufthansa-Kapitäne damals vom sozialen Status her eher im Rang von Landgerichtsdirektoren mit der Lizenz, eine Boeing 747 zu fliegen denn im heutigen Rang von überbezahlten Lokomotivführern der Lüfte. Die LSG-Entscheidung lässt mit Händen greifen, dass dem Flugzeugführer daran gelegen war, die Restaurant-Hotel-Wege zu gehen, um am Abend zeitig zu essen, um dann gut schlafen zu können, im Ergebnis also gut erholt wieder ins Cockpit zu steigen.
Man stelle sich vor, die hessischen Sozialrichter hätten 1976 den Verdauungs- und Schlafbedürfnissen des Flugzeugführers, die Bundessozialrichter 1972 dem zahnverlustigen Kläger empathisch einen Höchstrang seiner Kau- und Verdauungswünsche eingeräumt – an wie vielen Stellen in juristischen Entscheidungsroutinen hätte das die Bewertungen dezent in andere Richtungen bewegt?
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Grenzgebiete der Jurisprudenz: Verdauung für Juristen (m/w) . In: Legal Tribune Online, 26.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14211/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag