In den USA entwickelt sich eine Art Sexualverwaltungsrecht. Diese Verschiebung vom Strafrecht in die Verwaltungspraxis ufert in bizarrer Weise aus, wie Martin Rath zeigt. Mittlerweile stößt das Phänomen dort auf erste juristische Kritik.
Am 6. April 2013 erhielten alle Universitätsangehörigen, also Studierende, akademische Lehrer und wer sich sonst noch angemeldet auf dem Campus bewegen mochte, eine E-Mail des Sicherheitsbüros der Hochschule. Diesem sei gemeldet worden, dass am Freitag davor, 5. April 2013, gegen 23.05 Uhr eine hochschulangehörige Person in unerwünschter Weise berührt worden sei. Verbunden wurde die Sicherheitswarnung mit dem Hinweis, dass "unwelcome or inappropriate touching and/or sexual conduct, even in a social setting including music" einen Verstoß gegen die Universitätsregeln und möglicherweise gegen das staatliche Strafrecht darstelle.
Pressemeldungen über Vorgänge wie diesen erreichen auch uns gelegentlich. Je nachdem, ob gerade Jan Fleischhauer oder Margarete Stokowski bei einem be-kannten Hamburger Medienunternehmen das Internet vollschreiben, dienen sie dann als warnend oder lobend zu erwähnendes Beispiel US-amerikanischen Trieb-Kontrollwesens. Eine rechtliche Bewertung ist selten zu finden.
Der Clery Act von 1990: Beginn des Sexualverwaltungsrechts
Die Harvard-Professoren Jacob Gersen und Jeannie Suk legten nun in der California Law Review (2016, Vol. 104, S. 881–948) unter dem Titel "The Sex Bureaucracy" eine umfangreiche Darstellung des neueren US-amerikanischen Sexualkontrollrechts vor. Diese versucht sich nicht nur an einer allein rechtlichen Einordnung, sondern auch an einer gesellschaftspolitischen Einschätzung.
Die eingangs zitierte dringende Warnmeldung, es sei ein unerwünschter, möglicherweise sexuell motivierter Kontakt zum Missfallen mindestens einer universitätsangehörigen Person geschehen, entsprach nach Auffassung der Hochschule ihrer Rechtspflicht: Der sogenannte Clery Act, ein Bundesgesetz aus dem Jahr 1990, verpflichtet alle Bildungseinrichtungen, die auf US-Bundesmittel zugreifen, jährliche Sicherheitsberichte und -statistiken zu veröffentlichen sowie ein öffentlich zugängliches, täglich aktualisiertes Sicherheits-Logbuch zu führen.
Kommt es zu einer Straftat, die "eine Bedrohung der Sicherheit von Studenten oder Beschäftigten" darstellt, hat die Bildungseinrichtung eine unverzügliche Meldung herauszugeben.
Das Gesetz, benannt nach der 1986 von einem Kommilitonen vergewaltigten und getöteten Jeanne Clery, sollte ursprünglich, so Jacob Gersen und Jeannie Suk, aber "nur" eine Rechtspflicht etablieren, vor gravierenden Gefahren für Leib und Leben zu warnen. So habe der Gesetzgeber des Jahres 1990 beispielsweise bewaffnete Überfälle auf dem Campus-Gelände vor Augen gehabt.
Freie Bahn für Sodomiten und Verwaltungsjuristen
Während das eigentliche Sexualstrafrecht in den USA eine gewisse Liberalisierung erlebt habe - zuletzt waren im Jahr 2003 die strafbewehrten Verbote einvernehmlicher, aber "sodomitischer" Sexualkontakte beseitigt worden (Lawrence v. Texas, 539 U.S. 558) - breitete sich nach Auffassung von Gersen und Suk ein durch Berichtsobliegenheiten und Pflichten zur Aufklärung, Prävention und Dokumentation geprägtes besonderes Verwaltungsrecht aus. Die beiden Harvard-Professoren sehen darin eine Tendenz, auch unverfängliche Sexualität umfassend einem bürokratischen Regime zu unterwerfen.
Hierzu sei die vorangegangene Entkriminalisierung von Sexualität eine notwendige Voraussetzung gewesen: Ist das Strafrecht von strikten Regeln geprägt, was Anhörungs- und Verteidigungsrechte von Beschuldigten betrifft, und sind hier Begriffe, die Strafe begründen sollen, traditionell klar und scharf zu definieren, erlauben die neueren Aufklärungs-, Dokumentation- und Präventionsroutinen der Verwaltung, die vor allem an staatlich kofinanzierten Bildungseinrichtungen unfröhliche Urständ feiern, rechtlich diffuse Begriffsbildungen und Maßnahmepflichten, die im Zweifel auch noch übervorsichtig angewendet werden, so die beiden Rechtswissenschaftler.
Einvernehmliche Sexualität: "The Foreplay Bureaucracy"
Das prominenteste Beispiel für die ausufernde Entwicklung gibt gewiss der Begriff des in Deutschland verwendeten einvernehmlichen Sexualkontakts. Das amerikanische Pendant, der "consent", wird nicht allein strafrechtlich dahingehend definiert, dass fehlendes Einvernehmen zur Nötigungsstrafbarkeit führt. Weit gefehlt: Im Rahmen der akademischen Aufklärungs- und Präventionspflichten – Gersen und Suk nennen bezeichnen sie hübsch als "The Foreplay Bureaucracy" – wird der Begriff des consent vielmehr stetig ausgeweitet.
So sieht sich jede Hochschulverwaltung ermächtigt, ihr normatives Konzept von "guter" Sexualität in den Konsensbegriff hineinzulegen. An der Georgia Southern University heißt es seit 2015 beispielsweise: "Consent is a voluntary, sober, imaginative, enthusiastic, creative, wanted, informed, mutual, honest, and verbal agreement."
Gersen und Suk bemerken sardonisch, dass ein durch Nicken oder Lächeln eingeleiteter Geschlechtsverkehr damit bereits im Verdacht stehe, nicht einvernehmlich zu sein.
Dass er zudem "honest" zu sein habe, öffne die Tür zu Unsicherheiten aller Art. Vom Seitensprung unter Kommilitonen über homosexuelle Kontakte bis zu unhöflichen, aber berührungsfreien Versuchen, erotische Begehrlichkeit auszudrücken oder beim Gegenüber zu wecken, könne hier vieles als nicht im "honest consent" erfolgt subsumiert werden. Tatsächlich führen die Unsicherheiten zum überdehnten Begriff bereits zu entsprechenden Meldungen im Uni-Berichtswesen bis hin zur Beseitigung von Studierenden aus dem Hochschulleben.
2/2: Team Gina-Lisa, bitte übernehmen Sie (nicht)
Die von Gersen und Suk vielfältig dargestellten Versuche, die rechtlich gebilligte Sexualität statt ex negativo im Strafrecht nunmehr in einem besonderen Verwaltungsrecht zu regeln, verdienen unsere Aufmerksamkeit nicht allein, weil auch hierzulande US-amerikanische Begriffe fleißig weitergereicht werden. Im Fall der "consent"-Konzepte sogar, ohne auf die nicht ganz unwesentliche Verlagerung vom Straf- ins Verwaltungsrecht zu achten.
Nein, denn vielmehr sind manche der von Gersen und Suk kritisierten juristischen Konzepte so bizarr, dass sie gut ins Team Gina-Lisa & Manuela Schwesig passen würden: Im Rahmen der gesetzlich vorgebebenen Aufklärungs- und Präventionsarbeit verweist das US-Recht zum Beispiel nicht zuletzt auf die Methodik des öffentlichen Gesundheits- und Seuchenkontrollwesens. Ebenso wie das Gesundheitsamt Armut und schlechte Wohnverhältnisse als Umfeld für erhöhte Infektionsrisiken zu identifizieren hat, sollen auch die Risikofaktoren für sexuelle Gewalt beziehungsweise Übergriffigkeit ermittelt werden. Gersen und Suk zitieren aus den Vorgaben der Seuchenkontrollbehörden für Sexualgefahren:
"Individual risk factors include alcohol use, early sexual initiation, coercive sexual fantasies, preferences for impersonal sex and sexual risktaking, exposure to sexually explicit media, adherence to traditional gender role norms, and hyper-masculinity." Zu den weiteren, über-individuellen "risk factors" zählen die US-Gesundheitsbehörden unter anderem Arbeitslosigkeit oder Vorstellungen patriarchaler Männlichkeit.
Da den staatlich finanzierten Bildungseinrichtungen obliegt, Risikoanalysen für ihren jeweiligen Betrieb zu erstellen und Personal wie Studierende aufzuklären, fragen Gersen und Suk, ob nun Studentinnen und Studenten vor schwarzen oder Latino-Männern zu warnen seien, um die bizarren Ausmaße ad absurdum zu führen.
Begriffs- und Statistik-Verwirrungen
In ihrem Beitrag stellen Jacob Gersen und Jeannie Suk auch dar, was in einer Rechtsordnung geschieht, die darauf verzichtet, in den sprachlich strikten Formen des Strafrechts zu formulieren und in den fairen Abläufen des Strafprozesses zu sanktionieren, was der Gesellschaft an Sexualität missfällt.
Die Verschiebung vom Strafrecht in die Verwaltungspraxis führt zu bizarren Begriffsverschiebungen, die hierzulande teils auch noch bejubelt werden.
So subsumiert manche Hochschule, wenn auch nur mit der harmlosen Konsequenz der öffentlichen Bloßstellung, des Tadels oder des Ausschlusses vom Lehrbetrieb, abfällige Äußerungen über körperliche Eigenschaften eines anderen Menschen in der gleichen Rubrik sexueller Übergriffigkeit wie sie es vor zehn, zwanzig Jahren mit gewaltsamer Penetration getan hätte.
Entsprechend entstehen dabei Statistiken zur sexuellen Gewalt, die vermutlich selbst einem Reiner Wendt, der zartesten Seele unter Deutschlands Polizeigewerkschaftsführern, zu unseriös wären.
Der "consent": Neoliberale Ehe auf Zeit?
Zu guter Letzt besteht die Gefahr, dass selbst die akademisch formulierte Kritik an diesen bürokratischen Routinen von den Hochschul-Bürokratien als Ausdruck sexuellen Übergriffs gebrandmarkt wird. Auch dazu ist es in den USA schon gekommen.
Gersen und Suk haben, soweit erkennbar, bisher aber eher freundliche Kritik erfahren. Die "Reflections on the Sex Bureaucracy" von Melissa Murray und Karen Tani beispielsweise, zwei Jura-Professorinnen in Berkeley, können hier zwar nicht mehr referiert werden. Ein erfrischender Gedanke soll aber nicht vorenthalten bleiben: Die ausgeuferten Anforderungen an den consent könnten, folgt man Murray und Tani, gleichsam als Ersatz für jene klassische Eheschließung betrachtet werden, die nach hergebrachtem Common Law die förmliche Voraussetzung für jede legale sexuelle Aktivität gewesen sei.
Mit dem consent folge das Recht zudem einer neoliberalen Wertschätzung von Verträgen. Den etwas faden Scherz vom Notar, der noch vor der flüchtigsten Beiwohnung zu konsultieren sei, las man hierzulande im Verlauf der jüngsten Maas'schen Sexualstrafrechtsreform häufiger.
Diese Perspektive war den Harvard-Professoren Jacob Gersen und Jeannie Suk vermutlich verbaut. Sie sind miteinander verheiratet.
Wer die genannten Aufsätze selbst lesen möchte:
>> Jacob Gersen & Jeannie Suk <<
>> Melissa Murray & Karen Tani <<
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Entwicklung im US-Recht: Sex unter öffentlicher Kontrolle . In: Legal Tribune Online, 11.12.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21415/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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