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22542

Regionale Umstrukturierung: Die Unf­reie Han­se­stadt Ham­burg

von Martin Rath

02.04.2017

Markierung der ehemaligen Grenze zwischen Hamburg und Altona, gepflastert im heutigen St. Pauli

(c) Wikimedia Commons, User: Freundlicher, Bildquelle, CC BY-SA 3.0, Zuschnitt und Skalierung durch LTO

Zum 1. April 1937 trat das Groß-Hamburg-Gesetz in Kraft, erst mit diesem Reichsgesetz erhielt die "Gemeinde Hamburg" in etwa ihre heutige Form. Es war eine wichtige Station in der langjährigen "Flurbereinigung" der Länder und Kommunen.

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Das Geschacher um Länder und Kommunen

Vor 80 Jahren trat mit dem sogenannten Groß-Hamburg-Gesetz eine weitreichende Neuregelung staatlicher und kommunaler Herrschaftssprengel in Kraft. Es war ein vorläufiger Höhepunkt in einer Politik sogenannter Gebietsbereinigungen kommunaler Gebietskörperschaften, die von zentraler Stelle angeordnet wurden. Die Idee solcher Zusammenlegungen war und ist, kleinere Flächen und verstreute Einheiten zusammenzufassen, um sie effektiver nutzen zu können.

Nach § 1 Absatz 1 Groß-Hamburg-Gesetz gingen aus den Hamburg umgebenden preußischen Regierungsbezirken unter anderem Altona, Wandsbek, Harburg-Wilhelmsburg, Altenwerder und Finkenwerder auf Hamburg über. Nach Absatz 2 verlor Hamburg unter dafür seine Exklaven Geesthacht und Cuxhaven.  Unterm Strich wuchs Hamburgs Fläche um rund 330 auf 745 Quadratkilometer.

"Hansestadt" – fast eine Beleidigung

Damit war nahezu der Gebietsstand erreicht, den die heutige Freie und Hansestadt Hamburg einnimmt.
Mit dem Verlust von Geesthacht und Cuxhaven sowie weiterer Gemeinden erübrigte sich auch die kommunalverfassungsrechtliche Untergliederung, wie sie heute etwa noch das kleine Bremen mit Bremerhaven kennt. Nach § 2 des Groß-Hamburg-Gesetzes wurden die von Preußen abgegebenen Gebiete zusammen mit den "beim Lande Hamburg verbleibenden Gemeinden zu einer Gemeinde zusammengeschlossen".

Heißen sollte das neue Gebilde nunmehr "Hansestadt Hamburg". Das war schwerlich eine Verbeugung vor der bürgerlichen Tradition Hamburgs.  So führte etwa Köln – die katholische Industriemetropole tief im Binnenland, die seit 1669 faktisch aus der Hanse ausgeschieden und seit 1794 nicht mehr eigenständig war – seit 1935 von Gnaden des NS-Staats die amtliche Bezeichnung "Hansestadt Köln".
Es liegt also nicht fern, die gesetzliche Bezeichnung "Hansestadt" hier mit der zwanghaften Folklore zusammenzubringen, mit der sich nach der im Jahr 1935 in Kraft getretenen Deutschen Gemeindeordnungen besondere Bezeichnungen etablierten, so etwa "Reichsmessestadt Leipzig" oder München als "Hauptstadt der Bewegung".

Ein Land geht unter: Lübeck

Dass es sich beim amtlichen Titel der Hansestadt Hamburg besten-falls um eine verlogene Anrufung historischer Tradition handeln konnte, erfuhr die seit Jahrhunderten überwiegend selbständige Freie Stadt Lübeck, die unter der Weimarer Reichsverfassung noch Land des Deutschen Reichs gewesen war.

Lübeck wurde entsprechend § 6 Groß-Hamburg-Gesetz im Wesentlichen der preußischen Provinz Schleswig zugeschlagen. Ein nach dem Zweiten Weltkrieg betriebener Versuch, vor dem Bundesverfassungsgericht die Eigenstaatlichkeit Lübecks zurück zu erstreiten, in dem das 1937 von der Reichsregierung – also auf Grundlage des Ermächtigungsgesetzes von 1933 beschlossene Groß-Hamburg-Gesetz – als NS-Unrecht angegriffen wurde, misslang (Urt. v. 5.12.1956, Az. 2 BvP 3/56).

Die mit dem Groß-Hamburg-Gesetz vom NS-Gesetzgeber betriebene und nach dem Krieg mit der Neuordnung der Länder unter den vier Besatzungsmächten umfassend vollzogene "Gebietsbereinigung" lässt sich als eine Art "Framing" verstehen. Also eine Kunst, in der sich die jüngere politische Rhetorik angeblich übt: Die Gebietsbereinigungen gaben die politische Mentalität vor, mit der über die territoriale Ordnung der Gemeinden in Deutschland verfügt werden sollte: Sie sollten von oben nach unten durchregiert werden können.

Gebietsbereinigung qua Befehl

Dieser mentale Umbruch lässt sich mit einem Blick zurück verstehen.

Bereits zu Zeiten des Kaiserreichs entsprachen die Gemeindegrenzen oftmals kaum noch den durch Industrialisierung und Bevölkerungswachstum entstandenen urbanen Räumen. Die Stadt Köln gemeindete beispielsweise 1888 die umliegenden Ortschaften Ehrenfeld und Nippes, 1910 das rechtsrheinische Kalk ein.

Unter der Oberfläche des angeblich rein obrigkeitshörigen Staatswesens ging es dabei in erstaunlich liberalem Vertragsdenken zu. Vor der Eingemeindung der einst reichen Industriestadt Mülheim am Rhein im Jahr 1914 ließ sich zum Beispiel der später unter Kölner Verwaltung stark heruntergewirtschaftete Stadtteil etwa den Bau einer Rheinbrücke oder den Fortbestand seines Amtsgerichts sowie einer eigenständigen Verwaltungsstelle zusichern. Zudem versprachen die Kölner dem "übernommenen" Bürgermeister von Mülheim eine prächtige Altersversorgung.

Die königlich-preußische Kommunalaufsicht ließ zwar erkennen, dass sie einem Zusammenschluss der Städte Köln und Mülheim nicht abgeneigt sei, verlegte sich aber  eher auf die Funktion eines Notars, der das Ergebnis der Vertragsverhandlungen beurkundete. Gewiss spielte dabei eine Rolle, dass das städtische Bürgertum in Zeiten des preußischen Dreiklassenwahlrechts – sortiert nach den Tertialen des Einkommen-, Grund- und Gewerbesteuerbeitrags – ihre Gemeinde gleichsam als Eigentum verstand.

Mit dem Ende des Dreiklassenwahlrechts im Jahr 1918/19 ging dieses Verständnis bürgerschaftlicher Verantwortung für die Gemeinde verloren. Die kommunale Neuordnung löste sich vom kontraktualistischen Verfahren.

Gebietszusammenlegungen bringen Vorteile – jedenfalls in der Theorie

2/2: Vor Groß-Hamburg kam Groß-Berlin

Im Kaiser- und preußischen Königreich lange diskutiert und doch stets gescheitert, nahm 1920 zunächst das sogenannte Groß-Berlin seine im Wesentlichen heutige Form an. Die verfassunggebende Preußische Landesversammlung schuf mit dem Groß-Berlin-Gesetz vom 27. April 1920 die neue Stadtgemeinde: Aus beschaulichen 66 Quadratkilometern Berlin wurden durch Eingemeindung des Umlands 878 Quadratkilometer.

Dieser für damalige Verhältnisse ungeheure Vorgang erfolgte nach rund 30 Jahren Reform-Diskussion – einer Debatte, in der Vorschläge zur Gebietsbereinigung gern im kontraktualistischen Framing dieser Epoche hängenblieben, um erst 1920 in Gesetzesform gebracht zu werden.

Große Flurbereinigung, vielleicht nur zur Unzeit

Eine erste Welle an Neusortierung von Gemeinden ging in den 1920er Jahren insbesondere durch die preußischen Provinzen, motiviert einerseits von wirtschaftlichen Erwägungen: Deutschland war nach dem Ersten Weltkrieg auf allen Ebenen der staatlichen Ordnungen mehr oder minder bankrott. Beispielsweise wurde die vergleichsweise vermögende rheinische Stadt Ohligs durch gesetzlichen Befehl aus Berlin im Jahr 1929 dem benachbarten Solingen zugeschlagen.

Andererseits ließ sich die Flurbereinigung  als Beweis politischer Tatkraft in der Hauptstadt und als Ausdruck besonderer Modernität verkaufen.

Unter diesem Stern stand insbesondere die zweite große Welle kommunaler Neuordnung in den 1960er und vor allem 1970er Jahre. In ihren Vorstellungen von einer "sozialtechnologischen Steuerung" der Gesellschaft verbanden Politiker und Verwaltungen alles, was sie um das Jahr 1970 herum für modern hielten: Steuerkraftberechnungen zu den zusammenzuführenden Gemeinden ließen kommunale Theater- und Opernhäuser finanzierbar erscheinen, städtische Eigenverantwortung schien antiquiert, sobald ein gewisser Anteil der Gemeindekinder fürs Abitur auf ein Gymnasium in der Nachbarstadt pendelte.

Auch die größten Errungenschaften des sozialkybernetischen Fortschritts - drei Meter hohe elektronische Datenverarbeitungseinrichtungen mit erbärmlicher Speicherkapazität, gemessen an dem Gerät, an dem dieser Artikel gerade gelesen wird – ließen sich nicht in jedem Dorf oder Weiler finanzieren.

Die südliche Bronx Düsseldorfs

So verloren zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1970er Jahre rund 16.000 Gemeinden in der Bundesrepublik ihre Selbständigkeit. In Nordrhein-Westfalen blieben beispielsweise von ursprünglich 57 Kreisen, 2.365 Gemeinden und 39 kreisfreien Städten nur 31 Kreise, 396 Gemeinden und 23 kreisfreie Städte übrig. Die Gerichte nahmen trotz zahlreicher Klagen nur selten Korrekturen vor.

Von den hunderten in Nordrhein-Westfalen beseitigter Gemeinden erhielten sich auf dem Klageweg nur Gladbeck, Meerbusch, Wesseling und Monheim die Selbständigkeit. Die letztgenannte Stadt machte in den 2010er Jahren mediale Furore, weil ihr ein beispielloser wirtschaftlicher Aufschwung gelang – kaum denkbar als südliche Bronx Düsseldorfs.

Stiefmütterlich behandelte Beute-Siedlungen

Natürlich sieht man vielen der durch gesetzlichen Befehl aus der jeweiligen Landeshauptstadt – im Fall der Hansestadt Hamburg aus der Reichshauptstadt – angeordneten zusammengeschlossenen Gebietskörperschaften immer noch an, dass sie vor 40, 80 oder sogar schon vor über 100 Jahren zusammengeschlossen oder von der großen Nachbarstadt gleichsam als steuerkräftige Beute ergriffen wurden.

Die augenfälligsten Kennzeichen sind dabei stillgelegte Rathäuser oder andere öffentliche Dienststellen. Gern fallen Fußgängerzonen und weitere Infrastruktur-Maßnahmen deutlich bescheidener aus als in der jeweiligen hegemonialen City.

Obwohl die Gebietsreformen oft mit zweifelhaften infrastrukturellen Vorzügen begründet wurden – etwa mit Skaleneffekten in der Planung von Schulangeboten, die inzwischen auch kleine Gemeinden schultern können, oder einer obsoleten kommunalen Groß-EDV-Ausstattung – und obwohl sich manche der neuen Verwaltungsgebilde als partiell handlungsunfähig herausgestellt haben: In einer bekannten Großstadt am Rhein erklärten sich trotz aller vom Zusammenschluss versprochenen Vorteile gleich drei kommunale Dienste flächendeckend dafür unzuständig, den Schnee von Straßenbahn-Haltestellen zu räumen, während der Stadtentwicklungsausschuss bevorzugt über Wappen auf kommunalen Gullideckeln verhandelte.

Es ist in Deutschland deshalb erstaunlich selten die Rede davon, die kommunale Gebietsreform einer Revision zu unterziehen. Nicht im Sinne einer völligen Neustrukturierung, sondern einer strikten Zuweisung von Aufgaben entsprechend dem sonst so oft gerühmten Subsidiaritätsprinzip.

Vorteilhafter als die ewiggleiche Forderung nach mehr direkter Demokratie, die raumlos in individueller Selbstherrlichkeit erschöpft, scheint die Wiederherstellung der politischen Gemeinde allemal.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.

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Martin Rath, Regionale Umstrukturierung: Die Unfreie Hansestadt Hamburg . In: Legal Tribune Online, 02.04.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22542/ (abgerufen am: 28.09.2023 )

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