Gestört oder unangenehm, verletzend oder schrullig zu sein, genügt nicht mehr – "toxisch" sind heute angeblich unzählige soziale Phänomene. Der juristische Sprachgebrauch ist glücklicherweise stabil konservativ. Darauf kann man Gift nehmen.
Für die alte Frau war es jeden Abend ein Horror, von den Pflegekräften ins Bett gebracht zu werden. Es bedurfte einiger Überzeugungskraft, bis sie ihre Medikamente einnahm – Substanzen, deren Herkunft sie dem Teufel zuschrieb und für Gift hielt. Ein wenig eitel – vor allem auf ihre sehr langen grauen Haare sorgfältig bedacht – ließ sie sich aber am Ende doch vom jungen Zivildienstleistenden bezirzen, die starken Psychopharmaka einzunehmen.
Fünf Jahrzehnte hatte Frau K. damals, Anfang der 1990er Jahre, in der Psychiatrie überlebt. Sie war nicht, wie viele ihrer Leidensgenossen, in der Gaskammer der Landesheilanstalt Hadamar ermordet worden, der Staat hatte sie in der NS-Zeit nicht vorsätzlich verhungern lassen.
Im Alter jenseits der 80 war unter den wahnhaften Ideen von Frau K. diese eine noch allabendlich präsent: die Furcht, vergiftet zu werden. Im Rahmen einer sog. paranoiden Schizophrenie ist der Vergiftungswahn nicht selten. Von Medizinern wird er als "inhaltliche Denkstörung" kategorisiert, als eine psychopathische Veränderung des Denkens. Auch Juristen sollten dieses Symptom kennen, es kann ihnen im Beruf begegnen.
+++ Wenn Sie unter einer akuten psychischen Krise leiden, finden Sie Hinweise auf Hilfeangebote hier. +++
Die Konjunktur des "Toxischen" in Feuilleton, Sozial- und Kulturwissenschaften
Gemessen daran, dass es nicht wenige Menschen gibt, die wahnhafte Angst vor Vergiftungen haben, ohne sich anders als therapeutisch davor schützen zu können, zeugt die Konjunktur des "Toxischen" in der Gegenwartssprache von seltsam unsensiblem Denken.
Aus einem kulturwissenschaftlichen Werk aus 2021 mit dem Titel "Rechte Angriffe – toxische Effekte" erfahren wir beispielsweise: "Lookismus ist ein Diskriminierungskonzept und bezeichnet einen toxischen Habitus, der den (Selbst-) Wert einer Person stark mit dem äußeren Erscheinungsbild verknüpft." Dieser "toxische Habitus" vergifte die vom "Lookismus" betroffenen Personen, indem sie sich selbst herabwürdigten oder dies durch andere erlitten.
Eine ähnlich Betrachtung des Weltgetriebes referiert auch die Spiegel-Journalistin Elisa von Hof: Eine "hegemoniale Männlichkeit", so teilt sie in der Rezension eines Werks ihrer Kollegin Carolin Wiedemann mit, "unterdrückt fast alle, auch und sogar Männer", wobei sie das "Leistungsethos, die Verweigerung von Hilfe, die Härte gegen sich selbst und gegen andere" unter "toxische Männlichkeit" fasst, weil es sich hier um "Meriten" handele, "die gemeinhin als besonders männlich gelten".
Veronika Kracher, bei der Amadeu-Antonio-Stiftung für das "Monitoring" von "Gewalt und Hetze im Netz" zuständig, fände es "sehr begrüßenswert", dass sich Mädchen und Frauen in der Online-Kommunikation radikalisierten, wenn sie sich dabei nicht auch noch "selbst als depressiv und toxisch" beschreiben und mitunter psychische Erkrankungen glorifizieren würden. FAZ-Autorin Silke Weber moniert, dass die damit umschriebenen "Femcels", also unfreiwillig zölibatär lebende junge Frauen, sich "mehr für die Ästhetik toxischer Traurigkeit" interessierten "als für die ursprüngliche Bedeutung unfreiwilliger Keuschheit".
Wer diesem negativen Denken etwas entgegensetzen möchte, kommt mit Nils Warketin vom Regen in die Traufe. In der "Karrierebibel", einer Art Online-Lexikon für die frischesten Phrasen und Schrullen der Human-Resources-Welt, erklärt Warketin, dass auch "Optimismus und eine grundsätzlich positive Denkweise" in eine "toxische Positivität" übergehen könnten.
Reibekuchen in Maschinenöl und andere "echte" Gifte im juristischen Fallmaterial
Auch wenn eine Entscheidungssammlung – schon wegen der geringen Veröffentlichungsquote – nur bedingt Aufschluss über den juristischen Sprachgebrauch geben kann, darf man hier immerhin vorläufig Entwarnung geben: Wo es für Juristen toxisch wird, sind augenscheinlich noch echte Vergiftungen im Spiel – und damit natürlich Scheußlichkeiten aller Art.
Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) lassen sich etwa Details zur schadensrechtlichen Würdigung einer denkbaren toxisch-infektiösen Knie-Entzündung entnehmen (Urt. v. 01.03.1951, Az. III ZR 9/50) oder zu den arzthaftungsrechtlichen Fragen einer ausgesprochen widerlichen medizinischen Dienstleistung: In der Mangelwirtschaft des Jahres 1947 sollte ein achtjähriges Mädchen mittels Oleum chenopodii von seinem Spulwurm-Befall befreit werden. Unter dem Gift litten indes nicht allein die Spulwürmer – das zuvor lebhafte und aufgeweckte Kind wurde "in stärkerem Maße schwachsinnig" (Urt. v. 07.02.1956, Az. VI ZR 302/54.
Dem Bundessozialgericht begegneten u. a. die toxischen Wirkungen von in Maschinenöl gebratenen Reibekuchen bei der U-Boot-Flotte der Kriegsmarine des damals letzten großen Krieges (Urt. v. 18.01.1963, Az. 11 RV 1548/60), dem 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts toxische Geschwüre, verursacht durch die Verwendung von Reizstoffen beim Giftgas-Training der Bundeswehr (Urt. v. 09.05.1984).
Wenn in der Rechtsprechung doch einmal ein "Verhalten toxisch beeinflusst" wird, liegt dem kein Unwerturteil über eine "toxische" Persönlichkeit, Männlichkeit, Traurigkeit oder lärmende Fröhlichkeit zugrunde, sondern gelegentlich eine Gallen- und Lebererkrankung, die sich giftig via Nervensystem auch auf die Geschäftsfähigkeit ausgewirkt haben mag (BGH, Urt. v. 24.11.1956, Az. V ZR 106/55).
Gift macht Grenzen juristischer Zurechenbarkeit deutlich
Trotz der im juristischen Fallgut handfesten Giftstoffe hat auch das Recht ein Problem damit, dass sich die Behauptung einer toxischen Wirkungsmacht seit Jahrzehnten ins kaum unmittelbar Greifbare verdünnt.
So machte der Berliner Professor Detlef Krauß (1934–2010) in seiner ausgesprochen schönen Abschiedsvorlesung im Jahr 1999 darauf aufmerksam, wie sehr sich das strafrechtliche Leitbild vom gefährlichen Umgang mit Giften gewandelt hat.
Wo einst die "klassische Giftmischerin", sofern kein schlimmerer Schaden eingetreten war, halbherzig nach § 367 Ziffer 3 Strafgesetzbuch (StGB) verfolgt wurde und § 324 StGB die dämonische Vorstellung vom vorsätzlichen Brunnenvergifter nährte, bleibt in der heutigen Norm etwa nur ein diffuses "Verunreinigen eines Gewässers".
Einerseits sind wirksame Gifte erfolgreich weggeschlossen, was meist Sache des Verwaltungsrechts geworden ist. Die weit verbreitete Vorstellung, dass die Welt durch Gifte oder ionisierende Strahlen beeinträchtigt werde, wurde andererseits zeitgleich, strafrechtlich schlecht greifbar, zur Grenzwertfrage. Nach dieser Beobachtung von Krauß ist es eigentlich nur noch ein kleiner Schritt zu dem heutigen Jargon, der beispielsweise das seit biblischen Zeiten nicht enden wollende Missgeschick zwischen Männern und Frauen als "toxisch" bezeichnet. Es gilt ein gefühlter Grenzwert.
"Gewöhnlich sterben sowohl Ankläger als auch Angeklagter sofort."
Der gerichtsförmliche Umgang mit toxischen Substanzen gehört auch zu den gründlich verdrängten magischen Wurzeln von Recht und Gerechtigkeit. Ein Hinweis darauf ist noch in der Redewendung enthalten: "Darauf kannst du Gift nehmen." Diese Phrase war – und ist in einigen Regionen der Welt bis heute – durchaus ernst gemeint, und zwar als Vorstellung, dass dem Einnehmen oder Verabreichen von Giftstoffen eine Beweiskraft zukommt, die im weitesten Sinn rechtliche Bedeutung habe.
Es sammelte etwa der Bremer Jurist Albert Hermann Post (1839–1895) eine Vielzahl von Belegen für meist afrikanische "Giftordale" – nach seinem europäischen Verständnis "Gottesurteile" durch toxische Substanzen. Bei Post, der als Mitgründer der Rechtsethnologie in Deutschland gilt, finden sich etwa folgende Beispiele [Absätze ergänzt, M.R.]:
"In Aschanti wird bei dem Giftordal die Rinde des sogenannten Schicksalsbaums verwandt, welche man mit einem Kürbis voll Wasser ziehen läßt. Dieses Mittel wirkt als heftiges Brech- und Purgiermittel [= Abführmittel, M.R.].
Bei den Kru und Grebo wird das Rotholzordal angewendet zur Reinigung vom Verdachte der Zauberei, des Ehebruchs der Frau und bei häuslichen Streitigkeiten; das Gift wird vom Dhrhiu (Priester) verabreicht.
Am Rio Nunez belegt der Simo oder Zauberpriester die eines Verbrechens verdächtigen Personen je nach Befund mit einer Buße. Wer sich für unschuldig hält, kann dagegen auf ein Ordal provozieren, welches im Trinken eines Giftes besteht, das aus Baumrinde hergestellt wird und mit Wasser eine rote Farbe annimmt. Wirkt das Gift so kräftig purgierend, daß sogleich alles abgeht, so gilt dies als Zeichen der Unschuld. Ebenso gilt der Angeschuldigte für unschuldig, wenn bei ihm das Gift Erbrechen bewirkt. Gewöhnlich sterben sowohl Ankläger als auch Angeklagter, welche beide das Gift trinken müssen, sofort. Entschließt sich die Familie des Angeschuldigten die verlangte Buße zu zahlen, so hört man auf, denselben mehr Gift trinken zu lassen; man bringt ihn dann in ein warmes Bad und bewirkt dadurch, daß er das Gift wieder von sich giebt."
Und wer ist an der Modephrase vom "Toxischen" schuld?
Unter den liberalen, positivistisch-aufgeklärten Juristen des 19. Jahrhunderts waren solche Erkenntnisse natürlich meist ein Beleg für die eigene zivilisatorische Überlegenheit. Immerhin galt es, auch den deutschen Imperialismus zu rechtfertigen. Zugleich war man gebildet genug, die Verwandtschaft der afrikanischen Giftordale mit der "germanischen" Praxis des Gottesurteils im archaischen bis mittelalterlichen Europa zu sehen – schließlich hatte sich der akademisch studierte Mann bis circa 1914 oft selbst duelliert. Dieses Gottesurteil in Rechtsfragen der Ehre war damals noch bürgerliche deutsche Leitkultur.
Der Gedanke, dass die Giftordale in einer Dimension des Rechts, nämlich den sozialen Frieden wiederherzustellen, durchaus Sinn ergaben, verbietet sich heute. Denn nach wie vor werden etwa in Teilen Afrikas sog. Kinderhexen mit Gift gequält, verkrüppelt und ermordet.
In den segmentären Gesellschaften jedoch, in denen (vor-) staatliche Herrschaft nicht bestand, mochten Giftordale sinnvoll erschienen haben. Denn dort wurden Konflikte zwischen Einzelnen oft so ausgetragen, dass ganze Familienverbände mit den "Prozessparteien" ins Feld zogen. Das "Gottesurteil" durch Gift beendete solche Konflikte zügig, bevor sie weitere Ressourcen verschlangen. Man wendete die Gefahr der Eskalation ab, die in der Mobilisierung lokaler und regionaler Nachbarschaften lag. Dieses Recht brauchte noch keine naturwissenschaftlich orientierte Rationalität, um friedenstiftend zu funktionieren.
Die heutige Sprachmarotte, Menschen und soziale Verhältnisse als "toxisch" zu bezeichnen, obwohl gar kein Giftstoff im Spiel ist, dürften Betriebswirte verschuldet haben – und Juristen, die von ihnen angestiftet wurden: Ausgangspunkt für diese Mode waren wohl die "toxischen" Wertpapiere und Anlageformen ("toxic assets"), die dann den Sprachspieltrieb von Sozial- und Kulturwissenschaftlern anregten. Leider können Juristinnen und Juristen ihre Hände hier wohl nicht in Unschuld waschen.
Hinweise: Der zitierte Aufsatz von Albert Hermann Post erschien unter dem Titel "Zaubereiprozesse und Gottesurteile" in: "Deutsche Geographische Blätter", Band IX (1896), S. 300–320 (hier: S. 311 f.). Für eine neuere Einordnung: Heinz Sieburg: "Die Offenbarung im Geheimen? Mittelalterliche Gottesurteile", in: S. Conermann, H. Wolter-von dem Knesebeck & M. Quiering (Hg.): "Geheimnis und Verborgenes im Mittelalter", Berlin/Boston (de Gruyter) 2021, S. 27–43.
Gift, Magie und Sprachmarotte: . In: Legal Tribune Online, 08.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52868 (abgerufen am: 13.12.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag