Von Staat und Kirchen wird der November dem Totengedenken gewidmet. Vermutlich, weil im Sommer niemand freiwillig auf den Friedhof käme. Was sich ein Jurist zum Nachleben der Toten ausgedacht hat: eine späte Erinnerung an Hanno Kühnert.
Wenn ein Rechtsanwalt aus dem südwestdeutschen Eck der Republik ein "Handbuch für Verstorbene" schreibt, sollte das eine natürliche Abwehrreaktion auslösen. Zugegeben, auch Normalsterbliche leiden unter Bedienungsanleitungen, Manuals, Handbüchern. Doch allein die zum Richteramt Befähigten haben, zumal in Deutschland, auf Handbüchern gleich eine ganze Wissenschaft gebaut.
Das reicht eigentlich fürs Leben. Ein Handbuch für Verstorbene setzt sich hingegen dem Verdacht aus, als Grabbeigabe für Juristen herausgebracht zu werden, die nicht mehr von dieser Welt sind.
Und zu Lebzeiten, nun ja: So verzweifelt, was den Mandantenstammt angeht, wird auch kein Rechtsanwalt sein wollen. Mandanten hat man zu haben. Diesen Satz hat man – so ählich jedenfalls – schon im ersten Semester gehört. Niemand möchte es bei der Mandantensuche den US-Republikanern aus den "Simpsons" nachtun, die ihre Klientel gelegentlich vom Friedhof holen (in "Sideshow Bob Roberts", Staffel 6, Folge 5).
Ein "Handbuch für Verstorbene", geschrieben von einem Anwalt aus Freiburg im Breisgau – das möchte man nicht einmal mit der Grabschaufel anfassen.
Einmal Trauerflor im Jahr muss sein
Doch gemach. Im vergangenen Jahr stellten wir an dieser Stelle die "Diktate über Sterben und Tod" vor. Ein deutlich unangenehmeres Werk: In den Monaten vor seinem Tod, bedingt durch Blasenkrebs, zeichnete der zu Lebzeiten sehr bekannte Strafrechtslehrer Peter Noll (1926–1982) seine Auseinandersetzung mit der Krankheit, dem Leben und dem Tod, nicht zuletzt mit dem juristischen Tagesbetrieb auf. Traurig, manchmal garstig, hellsichtig.
Und das ist nur die Fortsetzung, jedenfalls auf dem Zeitstrahl: Mit seinem "Handbuch für Verstorbene" legte Hanno Kühnert, der als Rechtsanwalt in Freiburg zugelassen war und durch seine "Karlsruhe"-Berichterstattung in der Süddeutschen Zeitung, später im Wochenblatt Die Zeit einige Aufmerksamkeit erregte, ein erzählerisches Werk der Reflexion vor: Gedanken über das Leben und den Tod und die Moral. 1991 wurde sein Werk publiziert, 25 Jahre später immer noch ein hübsches Stück Herbst-Literatur.
Gedanken vor dem Verschwundensein
Es ist ein braves Märchen. Jedenfalls angesichts der immer noch anhaltenden Konjunktur von "Zombie"-Filmen und -Serien, in denen die Untoten wie frisch aus der Düsseldorfer Altstadt oder dem ubiquitären Oktoberfest umher schlurfen: Nach seinem Herztod macht Heinrich Eder eine merkwürdige Entdeckung. Kühnerts Buchfigur löst sich von seinem Körper, stellt aber fest, dass etwas von ihm auf merkwürdige Art und Weise noch am Leben ist.
Wie es einem wahren Juristen angemessen ist, stellt Kühnert fest, dass es sich bei Eders Existenz um einen Restlebensanteil von einem Siebtel handelt – ein für die Lebenden, nicht aber für die anderen Untoten unsichtbares Wesen, eine Quote auf zwei Beinen, die sich auf den Weg zur Lebensinsolvenz macht. Eder muss essen, trinken, zur Toilette gehen - als "Siebtelexistenz" aber eben in wesentlich kleinerem Maße als zu Lebzeiten.
Auf seinen Wegen durch die Welt der Lebenden, der Vortödlichen, widerfahren Kühnerts Held etliche Unannehmlichkeiten, die auch auf die merkwürdige Existenzform zurückzuführen sind: von der Kälte in der Welt bis zum Ärgernis, dass die Ex-Gattin eine grausliche Todesanzeige voll alberner Formulierungen veröffentlicht hat.
2/2: Kollektives Arbeitsrecht für Gespenster?
Die Figur Heinrich Eder begegnet in seiner Welt weiteren Siebtelexistenzen. Er macht sich sogar Gedanken, sie gewerkschaftlich zu organisieren, verwirft diese Idee aber fast sogleich wieder.
Der schwäbische Jurist Kühnert hatte, nebenbei bemerkt, damit 1991 eine Idee, die in der Literatur erst 20 Jahre später wieder beim Phantastik-Schriftsteller China Miéville ("Kraken") auftaucht, seines Zeichens ein wackerer englischer Marxist. Man sieht: Der deutsche Anwalt Hanno Kühnert hatte früh hellsichtige Gedanken, wo sich die Parteien des kollektiven Arbeitsrechts dermaleinst nach arbeitskampfbereiten Wesen würden umschauen müssen.
In Köln bestiehlt Heinrich Eder eine Sparkasse, doch erkennt er schnell, dass er sich selbst kaum davon überzeugen kann, darin eine sinnvolle Kapitalismuskritik zu entdecken. Für solch außerschwäbische Gedanken lässt Kühnert seinen Geist sicherheitshalber durch Deutschland reisen.
Überhaupt ist dieses Gespenst ein Zauderer, ein nachdenkliches Wesen. Kaum kommt ihm der Gedanke, das Morsen zu lernen – den Lichtschalter kann Eder noch bedienen –, nimmt Kühnerts Figur auch schon wieder Abstand: Ein solches Phänomen müsste, zumal im deutschen Südwesten, allzu viele Esoteriker auf den Plan rufen. Statt dem Wunsch des Geistes zu dienen, mit den geliebten Vortödlichen in Kommunikation zu treten und die Einsamkeit zu überwinden, würde er mit dem solcherart geweckten Aufruhr unter den Okkultisten seinen Lieben doch nur Schaden bereiten.
Den Bundeskanzler möchte er heimsuchen, um ihn beim Schimpfen über die Parteifreunde zu ertappen, die Herren der Deutschen Bank bei ihren Geschäften – Heinrich Eder beschließt, ein politischer Geist zu werden. Doch aus seinem "Vollblüter"-Leben begleitet ihn der Charakterzug, in Dingen der Politik früh resigniert zu haben. Und so bleibt es bei seiner emotionalen Auseinandersetzung mit den Lieben und den Nahestehenden, es verblassen die großen Geschäfte, über die er sich zu Lebzeiten Gedanken gemacht hat, im Nachleben des Geistes bald wieder.
Keine Einladung zum Fachanwalt für Erbrecht
Bei all dem ist das "Handbuch für Verstorbene" nicht dazu angetan, auf dem Lehrplan von Juristinnen und Juristen zu erscheinen, die die besondere Berufsbezeichnung des "Fachanwalts für Erbrecht" anstreben. Schaden wird die Lektüre aber niemandem, der im Beruf oder sonst im Leben mit Fragen der letzten Dinge zu tun hat.
Überhaupt klammert Kühnert die Welt der Juristen als Gegenstand gespenstischer Beobachtungen weitgehend aus. Vermutlich wäre diesem engagierten liberalen Medien-Mann und Rechtsanwalt anderenfalls auch die Courage durchgegangen. Mit seinen journalistischen Texten zur Welt der juristischen Vollblüter eckte Kühnert an. Der Bericht über die peinliche BGH-Rechtsprechung zum Geständnis eines übermüdeten Inhaftierten im nächtlichen Verhör veranlasste seine Anwaltskammer beispielsweise zu einem Ehrengerichtsverfahren. Derlei kann eine kritische Seele schon in Aufruhr versetzen.
Eine derart enthüllende Gesellschaftskritik aus der Perspektive eines magisch agierenden Beobachters hat eine gewisse Tradition. Im Jahr 1707 sollen sich die Leser um die letzten Exemplare des Romans "Der hinkende Teufel" von Alain René Lesage (1668–1747) geschlagen haben: Ein Teufel lässt einen Studenten, selbst ungesehen, die Schattenseiten von Adel und Bürgertum beobachten. Eine skandalöse Weltsicht auf eine erstarrte Gesellschaft.
Kühnerts Erzählung folgt dem nach, ist aber doch deutlich freundlicher. Nicht auszudenken, was Kühnert einem heimlichen Geist, der durch die Kanzleien und andere Abgründe der Juristenwelt spukt, an Meinungen und Beobachtungen wohl hätte ein- und ihn ausflüstern lassen können. Möglicherweise war Kühnert ein richterliches Tagwerk wie das oben genannte schon gespenstisch genug.
Kühnert kann man nicht mehr fragen
Hanno Kühnert selbst starb am 16. Mai 2003. Seine immer noch frischen Texte zur Justiz sind teils online, teils in antiquarischer Papierform leicht zu greifen. Letzteres gilt auch für den hier vorgestellten Roman.
Gern würde man auch von Kühnerts Weltsicht als Gespenst erfahren, unzensiert, vielleicht in Gestalt eines schwäbischen Poltergeists mit der Lizenz zum Morsen.
Doch gemach. Die nicht nur in Südwestdeutschland, im esoterischen Narrenwinkel, reich vertretenen Geisterseher der Gegenwart möchte wohl kein verständiger Kopf dazu in Anspruch nehmen, darum ist die Schnittmenge zwischen Geistersehern und Juristen ja auch so klein. Zudem wäre es gewiss nicht im Sinne des Verfassers.
Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Belletristik: Ein Handbuch für Verstorbene . In: Legal Tribune Online, 13.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21130/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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