1956, Frankfurt: In "The Darkest Files" schließt man sich als junge Staatsanwältin dem Team von Fritz Bauer an, um NS-Unrecht zu sühnen. Die Fälle, die man bearbeitet, sind echt, düster und brutal – eine Simulation, die unter die Haut geht.
"Willkommen an der Front, Fräulein Katz." Martialisch begrüßt uns Generalstaatsanwalt Fritz Bauer an unserem ersten Tag im neuen Job. Bauers ist der einzige echte Name in diesem Spiel. Es handelt sich dabei um den 1968 verstorbenen Juristen, der, als Sohn jüdischer Eltern geboren, maßgeblich an der Aufarbeitung von NS-Verbrechen beteiligt war und sich so den Ruf als "Nazi-Jäger" erarbeitet hat.
Und "Fräulein Katz"? Das sind wir. Unser Vorname lautet Esther, Kosename "Essie", wie wir noch in leidvollen Telefonaten mit unseren Eltern erfahren werden. Doch jetzt heißt es erst einmal: Dienstantritt. So sitzen wir in seinem Büro vor Bauer, dessen zerfurchte Gesichtszüge das Spiel in seiner Comic-Grafik ziemlich gut einfängt.
Er erklärt uns, in was für einer Zeit wir uns befinden und worauf wir uns einlassen. 1956, also elf Jahre nach Kriegsende und fünf Jahre nach der Entnazifizierung und dem "131er-Gesetz", möchten viele Deutsche "endlich mit der Vergangenheit abschließen". Der "Schuldkult" als politischer Kampfbegriff gegen die deutsche Erinnerungskultur macht die Runde, viele Deutsche halten die Arbeit von Bauer und seinem Team für "Steuergeldverschwendung", wenn nicht sogar "Verrat".
Bauer warnt uns davor, dass wir bei unserer Arbeit als Staatsanwältin mit viel Gegenwind rechnen müssen, und fragt uns dann, ob wir auch wirklich bereit sind, in seinem Team zu arbeiten. Praktisch, dass das Dialog-Menü uns die Entscheidung abnimmt: Egal für welche Antwortoption wir uns entscheiden, am Ende antwortet Katz mit "Ja" und macht sich mit mulmigem Gefühl auf den Weg zu ihrem eigenen Schreibtisch im neuen Büro.
Passend dazu hört man Regen, der gegen die Fenster prasselt, dunkelblaue Farbtöne dominieren die grafische Aufmachung des Spiels. Alles ist von Anfang an bedrückend. Na, das kann ja heiter werden.
Exekutiert in einem Brauereikeller
Unser erster Fall ist der von Hans Naumann. Auch das ist ein fiktiver Name, die Fälle in dem Spiel beruhen laut dem Berliner Entwicklerstudio Paintbucket aber auf echten Gegebenheiten.
Am 28. April 1945, wenige Tage vor Deutschlands Kapitulation, nehmen zwei Mitglieder einer Münchner NSDAP-Ortsgruppe Naumann gewaltsam von zuhause mit. Sein Sohn Jan, der untergetaucht ist, soll eine Reichsflagge abgerissen und durch eine weiße Fahne ersetzt haben, als die Amerikaner anrückten – eine "hochverräterische Aktion", die mit Hinrichtung bestraft wird. Bis sich Sohn Jan stellt, soll Vater Hans in Haft genommen werden. Dessen Leiche findet die örtliche Polizei wenige Wochen nach Kriegsende verscharrt in einem Waldgebiet: In einem zum NSDAP-Büro umfunktionierten Brauereikeller ist Hans Naumann per Kopfschuss exekutiert worden.
Damit zu tun gehabt haben könnten laut dem Polizeibericht vier damalige NSDAP-Ortsgruppenmitglieder: Kreisleiter Herbert Schwarz, Gruppenleiter Alfred Faltmann sowie die zwei rangniedrigsten Gruppenmitglieder Karl Schickert und Hermann Kiebitz. Die Staatsanwaltschaft, die die Polizei damals eingeschaltet hatte, hatte das Verfahren schnell eingestellt: Die Ortsgruppenmitglieder hätten nach damals geltendem Recht gehandelt, Strafbarkeit damit (-).
An dieser Stelle geht es für Katz los. Aus ihrer Perspektive sollen wir den Fall über zehn Jahre später noch einmal aufrollen. Kreisleiter Schwarz ist zwischenzeitlich verstorben, was die Ermittlungen erschwert.
Zeugen, Dokumente, Verachtung und Hass
Im Spiel arbeiten wir mehrere Tage an dem Fall, schließlich müssen Zeugen eingeladen werden und anreisen. Wenn sie dann am Schreibtisch vor uns sitzen, entfaltet sich eine schöne Spielmechanik: Wie im mehrfach prämierten Sci-Fi-Streifen "Inception" verändert sich unsere Umgebung, das Büro wird zum düsteren Brauereikeller, in dem Naumann brutal erschossen wird. Die verbleibenden Zeugen Faltmann, Schickert und Kiebitz erzählen uns von den Vorkommnissen bis zum tödlichen Schuss – jeweils aus ihrer Perspektive. Dabei bewegen wir uns mit ihnen in ihren Erinnerungen und können in wichtigen Momenten nachhaken. Das gibt besonders viele Pluspunkte für unseren Ermittlungs-Score am Ende des Falls.
Natürlich widersprechen sich die Zeugenaussagen an entscheidenden Stellen. Wir haben aber Zugriff auf verschiedenste Dokumente, um die Vorkommnisse trotzdem rekonstruieren zu können: frühere Vernehmungsprotokolle, Polizeiberichte, Personalakten, Abbildungen zu Dienstzeichen und Hierarchie bei Schutzpolizei, Wehrmacht und NSDAP, dazu Fotos und Waffenregistereinträge, die wir realitätsgetreu erst beim Berlin Document Center anfordern müssen. Die Papiere sind zahlreich und kleinteilig, doch zum Glück sind die Rechtswissenschaften ein Lesestudium: viele verschiedene Quellen, die man sich zurechtpuzzeln muss – wer mal Jura gemacht hat, bewegt sich hier auf gewohntem Terrain.
Das Spiel bettet unsere Ermittlungsarbeit stets in den historischen Kontext ein. Schon wenige Tage, nachdem wir die Ermittlungen aufgenommen haben, schreibt ein Boulevardblatt einen abfälligen Artikel über uns. Besorgt ruft Mama Katz an, ob wir nicht nach Hause kommen wollten. Als junge Frau in diesem harten Beruf, ob das wirklich das Richtige sei, fragt sie. Außerdem haben doch die Müllers von nebenan so einen gut aussehenden Sohn, der noch eine Braut suche. Dann müssten wir auch nicht mehr arbeiten und könnten uns stattdessen aufs Kinderkriegen fokussieren. "Denk darüber nach, Essie", bittet Mama Katz.
Papa Katz dagegen ist aufrichtig stolz auf uns. Er sähe uns aber lieber in der namhaften Familienrechtskanzlei eines Freundes arbeiten als unter Bauer, der als unbeliebte Person des öffentlichen Lebens seine Mitarbeiter automatisch mit zur gesellschaftlichen Zielscheibe mache. Passend dazu spuckt uns zum Feierabend ein Passant an, als er uns aus dem Büro kommen sieht. Am nächsten Morgen liegt ein Drohbrief in unserem Postfach, garniert mit Hakenkreuzen. Wir sollen unsere "verräterische Arbeit" endlich einstellen, heißt es darin.
Diese bedrohliche Atmosphäre begleitet uns das ganze Spiel über und lässt niemals nach. Passende Ambient-Musik verstärkt sie noch. Das typische Spionage-Thriller-Gefühl, das schon Klassiker wie "XIII" vermittelt haben und uns immer latent unter Spannung hält, kommt hier auch musikalisch zur Geltung.
Wie Cluedo, nur brutaler
Mit jedem Arbeitstag nähern wir uns der Gerichtsverhandlung, die das Finale eines jeden Falls darstellt. Zwischendurch erstatten wir Bauer immer wieder Bericht, wie wir im Fall Naumann vorankommen. Je nachdem, wie gut wir in der Rolle von Katz ermitteln und wie gut wir die Beweise kombinieren, punkten wir später und führen die Täter ihrer gerechten Strafe zu. Versemmeln wir es, kommen die Täter glimpflich oder gar mit Freispruch davon.
Sobald alle Zeugen befragt und Dokumente ausgewertet sind, schaltet sich das Reißbrett frei. Auf diesem rekonstruieren wir Cluedo-mäßig den Tathergang. Wer hat im Brauereikeller den Befehl zur Hinrichtung erteilt? Wer ging zum Opfer Naumann in die Zelle? Wer hat in der erhitzten Situation den Schießbefehl verweigert, wer damit gedroht, den Ungehorsam der Geheimen Staatspolizei zu melden? Und wer hat Naumann letztlich mit einem gezielten Kopfschuss hingerichtet?
Wer Videospiele vorzieht, die auf schnelle Unterhaltung und Action ausgelegt sind, sei an dieser Stelle gewarnt: In "The Darkest Files" löst man Fälle detektivspieltypisch nicht, indem man Zeugenvernehmungen und Dokumentauswertung lässig auf einer Arschbacke absitzt. Selbst im Story-Modus, in dem das Spiel an schwierigen Stellen Tipps gibt, muss man Zeit und eine Menge Hirnschmalz investieren, um den Fall bestmöglich zu lösen – und dabei auch manchmal ganz schön um die Ecke denken.
Dieser gottverdammte Richterhammer
Am Tag der Gerichtsverhandlung zeigt sich dann, wie belastbar die Theorie ist, die wir uns am Reißbrett ausgedacht haben. Wir spielen unsere Theorie zu den einzelnen Fragen schrittweise ab und erkennen anhand der Reaktion des Richters, ob wir richtig liegen. Das Voice Acting ist dabei genial: Die Stimme des Richters ist latent genervt, leicht näselnd tadelt er den Verteidiger bei unsinnigen Zwischenrufen, aber auch Katz, wenn ihn unsere Beweisführung mal so gar nicht überzeugt. Der gute Mann hat offenbar mehr als genug zu tun, auch wenn PEBB§Y 1956 noch kein Thema war.
In der Verhandlung passiert dann etwas, was dem Juristenherz leider einen fiesen Stich versetzt und uns kurz aus der bis hierhin schön verdichteten Atmosphäre reißt: Der Richter nutzt – wie sollte es anders sein – einen gottverdammten Richterhammer, den die deutsche Justiz nicht kennt. Auch dass die Verteidiger ab und an "Einspruch, Euer Ehren!" rufen, löst kurz den Reiz aus, in die Tischkante beißen zu wollen. Als professionelle, engagierte Top-Juristin haben wir uns aber natürlich im Griff.
Ein Spiel zum darin Versinken
Insgesamt ist es ein Spiel zum Versinken, sofern man Lust auf Akribie hat. Gehört man zu diesem Spielertyp, startet man auch gern einen zweiten Anlauf, um am Ende eines Falls ein härteres Urteil für die Angeklagten zu erwirken, falls man den Richter beim ersten Mal nicht so recht überzeugen konnte.
Während Deutschland heute darüber diskutiert, ob man eine 99-jährige Ex-KZ-Sekretärin noch vor Gericht stellen sollte (die mittlerweile verstorben ist), sind in der Zeit, in der "The Darkest Files" spielt, zahlreiche Verbrecher auf freiem Fuß, was dem Spiel eine ganz andere, beklemmende Dimension verleiht. Naumann ist dabei nur der erste Fall, den es aufzuklären gilt. Als wir uns dem nächsten widmen, wirft jemand die Scheibe unseres Büros ein. Es sind bedrohliche Zeiten. In diesem Sinne: "Willkommen an der Front, Fräulein Katz."
Computerspiel "The Darkest Files": . In: Legal Tribune Online, 10.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56976 (abgerufen am: 25.04.2025 )
Infos zum Zitiervorschlag