Gerichtsjournalismus: Scharfe Worte für eine überdehnte Justiz

von Martin Rath

20.04.2014

Ein Glas Milch, das zu teuer verkauft wird, ein Redakteur, der Lästerliches über einen Priester schreibt: Es waren kleine und komische Verfahren, aus denen die Gerichtsreporterin Gabriele Tergit kleine, aber großartige Literatur machte. Ein Beitrag aus der Serie zum "Schreiben über Justiz", von Martin Rath.

"'Ich habe das bisschen Geld, das ich noch hatte, in dem Restaurant zugebuttert, ich kann es nicht mehr halten', sagte die müde Frau", angeklagt vor dem Wuchergericht zu Berlin. Es ist eine bittere Geschichte, die wohl in der Existenzvernichtung einer Gastwirtin endet. Sie spielt in den Zeiten der deutschen Sondergerichte. Gabriele Tergit, die bekannteste Gerichtsjournalistin der 1920er- und 1930er-Jahre, erzählte aus einer Welt, in der Preise sich nicht am Markt bilden durften: "Ein Angestellter, der 250 Mark im Monat verdient, hatte einen Ausflug gemacht", ins fragliche Restaurant bei Berlin, den Sommerabendstraum der 1920er-Jahre träumend, Schnitzel mit Bratkartoffeln, "war eingekehrt und hatte –– kann man bescheidener sein? – für sich und seine Frau zwei Gläser Milch bestellt, für die er 1,35 Mark zahlen musste. Er war empört und brachte die Sache zur Anzeige."

Reporterin in Zeiten der Gerichtssozialdramen

Die Sache kam zur Verhandlung, es folgte die Anklage wegen Verstoßes gegen eine der zahllosen wirtschaftsstrafrechtlichen Vorschriften, mit denen das Kaiserreich im Krieg und die junge Weimarer Republik die Preisbildung zu kontrollieren versuchten, insbesondere bei Gütern des täglichen Bedarfs. Im November 1919 wurde dazu mit den Wuchergerichten eine Sondergerichtsbarkeit eingerichtet. Mancher Paragraph dürfte noch heute die Augen hartherziger Rechtspolitiker zu Tränen rühren. Untersuchungshaft wegen Fluchtverdachts dufte beispielsweise angeordnet werden, "ohne daß der Verdacht der Flucht einer weiteren Begründung bedarf".

Tergits Bericht vom Prozess gegen die Gastwirtin beschreibt melancholisch den Irrsinn des Wirtschaftsstrafrechts im Jahr 1925: Der Preis für die strittigen Gläser Milch lag circa beim Sechsfachen des Einkaufspreises. Ein Sachverständiger rechnete das durch. Das Argument der Wirtin, die Pachtkosten für ihr Lokal könnten anders nicht erwirtschaftet werden, stieß auf taube Ohren. Die Gerichtsjournalistin schloss, dass das Leben in der Großstadt doch ein trauriges sei, wenn kleine Gastwirtinnen ihren kleinen Gästen keine günstigeren Bedingungen bieten könnten.

Gabriele Tergit, eine immer wieder zu Entdeckende

Anders als ihr großes Vorbild, der berühmte und zurzeit mit "Der Mensch, der schießt" wieder im Buchhandel greifbare Gerichtsjournalist Paul Schlesinger (1887-1928), hat seine jüngere Kollegin, die 1894 in Berlin als Elise Hirschmann geborene, 1982 im Londoner Exil verstorbene Gabriele Tergit bislang in Deutschland nur eine bescheidene Renaissance erlebt, beispielsweise mit einer wunderbaren Sammlung ihrer Gerichtsreportagen, die 1999 unter dem Titel "Wer schießt aus Liebe?" erschien.

Schade, dass sie nicht mehr Beachtung findet, denn Tergit ist in ihren Beobachtungen bei Gericht witzig, wo man es nicht vermuten möchte: "In Wien hat ein Polizeibeamter seine Frau ermordet. Dieser Wachtmeister hatte [während des Weltkriegs] eine Bauerntochter mit ehrbarer Mitgift geheiratet zu einer Zeit, da es im verhungernden Wien weder Brot noch Fleisch, weder Eier noch Fett gab. Aber Brot und Fett kamen wieder, die Bauernmagd blieb jedoch eine Bauernmagd, wurde weder eine fesche noch eine leichtlebige Wienerin, sondern dem Wachtmeister peinlich. Er jagte sie davon, doch die Arme, die ihn liebte, kam zurück, schlicht und einfältig, wie sie war, bis der Rohling sie erschlug."

Zitiervorschlag

Martin Rath, Gerichtsjournalismus: Scharfe Worte für eine überdehnte Justiz . In: Legal Tribune Online, 20.04.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11745/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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