Manche Regeln sollen so heilig sein, dass ihre Verletzung wie von selbst bestraft wird. Von solchen "Tabus" erzählte einst die ethnologische Forschung. Heute sind sie kaum greifbar und stehen dem öffentlichen Vernunftgebrauch meist im Weg.
Von seiner frommen Mutter dazu genötigt, nimmt ein Mädchen am Gottesdienst der römisch-katholischen Kirche teil, obwohl ihm etwas übel ist. Nach dem Empfang der heiligen Kommunion in Form der Hostie, also einem aus Mehl und Wasser gefertigten Stück "Brot", übergibt es sich im Kirchenraum auf den Fußboden.
Weil sich die Geschichte in den 1950er Jahren abspielt, enthält das Erbrochene nur Magenflüssigkeit und den unverdauten "Leib des Herren" – denn Katholiken sind seinerzeit noch verpflichtet, sich von Mitternacht an nüchtern zu halten, bevor sie ihn in sich aufnehmen.
Die Gemeinde rätselt darüber, ob der Priester den Mageninhalt des Kindes, den er sorgfältig mit einem sonst zum Reinigen des Kelches genutzten Tuch aufgewischt hat, nun selbst verzehren muss – oder wie man sich die Entsorgung sonst vorzustellen habe. In den Augen seiner Mutter hat das Mädchen einen erheblichen Tabubruch begangen.
Es gehört zu den Vorteilen einer Kirche, die sich von jeher in juristischen Formen organisiert hat, sogar Regeln verändern zu können, die bisher mit einem Tabu assoziiert waren: Inzwischen verpflichtet Canon 919 § 1 Codex Iuris Canonici die Gläubigen nur noch darauf, mindestens eine Stunde vor der Kommunion nüchtern zu bleiben, erlaubt es ihnen sogar, Wasser oder Medikamente zu sich zu nehmen.
So heilig, dass der Tod von selbst eintritt
Sehr viel gefährlicher soll die Verletzung von Tabus in Gegenden gewesen sein, aus denen lange Zeit nur Seefahrer und reisende Abenteurer, Kolonialherren und Ethnologen berichteten.
Es sind Geschichten von diesem Typ: Inmitten der üppigen Gärten einer Südsee-Insel entdeckt ein Mann einige sehr schöne Pfirsiche und sonstige Früchte. Er pflückt sie, obwohl er weiß, dass es sich um einen tabuisierten Ort handelt. Auf seinem Weg bittet ihn eine arme Frau, ihr etwas von dem Obst abzugeben. Nachdem sie es verzehrt hat, erklärt der Mann ihr, wo er es fand. In Todesangst ruft sie aus, dass das Tabu des von ihm verletzten Heiligtums sie töten werde. Am Nachmittag des Folgetages war die Frau tatsächlich tot.
Derartige Erzählungen – diese hier stammt aus einem 1845 publizierten Werk über die Maori in Neuseeland – gehören zu den Klassikern der älteren ethnologischen Literatur.
Dass die Verletzung eines Tabus zum "psychogenen Tod" führen könne, gilt dabei als wenig umstritten – mitunter wird sogar behauptet, ganze Stämme und Völker seien kurzfristig ausgestorben, nur weil Fremde ihre heiligsten Regeln verletzt hatten. Da Gerichtsmediziner seinerzeit nie zugegen waren, kann das nicht mehr aufgeklärt werden. Es wird aber davon ausgegangen, dass ein seelisch bedingter Zusammenbruch des Blutkreislaufs derart tödliche Folgen haben kann.
Tabu in der Rechtsprechung – existenzielle Randbereiche …
Regeln, deren Verletzung mit ähnlich unverfügbarer Abscheu assoziiert wird, sind in modernen Gesellschaften selten – wenn es sie überhaupt noch gibt.
Das prominenteste Beispiel ist nach wie vor der Kannibalismus. Tote genießen nach deutschem Recht einen postmortalen Schutz ihrer Persönlichkeit, was regelmäßig nur zu Streitigkeiten führt, wenn zu Lebzeiten prominente Menschen in Massenmedien ungünstig dargestellt werden. Das bietet sich zur weiteren Kommerzialisierung ihrer Person an, sofern der Verstorbene nicht selbst mit einer unvorteilhaften Inszenierung seiner öffentlichen Existenz einverstanden war.
Von Unverfügbarkeit auszugehen hatten das Landgericht Kassel und der Bundesgerichtshof (BGH) hingegen in der Frage, welche rechtliche Bedeutung es haben könnte, wenn das Opfer eines Tötungsdelikts sich damit einverstanden erklärt hatte, dass der Täter Teile der Leiche verzehren würde: Handelt es sich im Fall des Einverständnisses noch um "beschimpfenden Unfug" an seiner Leiche, strafbar gemäß § 168 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB)?
Nach Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte selbst davon ausgegangen, dass "das Schlachten und Verzehren von Menschenfleisch gegen ein gesellschaftliches Tabu verstößt". Von Interesse war dies jedoch nur noch insoweit, als der Vorsatz zu klären war. Nicht ernsthaft in Frage stand, dass die Strafandrohung von § 168 Abs. 1 StGB neben dem postmortalen Persönlichkeitsschutz des Individuums auch dem Pietätsgefühl der Allgemeinheit dient (vgl. BGH, Urt. v. 22.04.2005, Az. 2 StR 310/04).
…oder beliebige Metapher für heikle bis harmlose Dinge?
Ebenfalls noch in einen existenziellen Bereich der leiblichen Unversehrtheit fällt die Entscheidung des BGH zu einer Werbekampagne des Textilunternehmens Benetton.
Statt – wie seinerzeit üblich – die Kleidungsstücke von konventionell extrem schönen Menschen vorführen zu lassen, wurde etwa ein nacktes Gesäß mit dem Stempel "H.I.V. positive" abgebildet, um für eine Marke des Unternehmens zu werben.
Ein solches "Ausbeuten von Reizthemen und Tabus" war nach unverrückbarer Auffassung des BGH grob anstößig und sittenwidrig nach § 1 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) (Urt. v. 06.12.2001, Az. I ZR 284/00).
Beim Verbot des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, insbesondere aus der Zeit des Nationalsozialismus, soll es nicht darauf ankommen, ob etwa das Zeigen eines Hakenkreuzes oder das Ausrufen einer SS-Parole mit dem Willen erfolgt, die verbotene Vereinigung zu unterstützen. Vielmehr soll § 86a StGB "derartige Kennzeichen grundsätzlich aus dem Bild des politischen Lebens in der Bundesrepublik Deutschland verbannen" und – als genüge das nicht – auch "ein kommunikatives Tabu" errichten (vgl. u.a. BVerfG, Beschl. v. 01.06.2006, Az. 1 BvR 150/03).
In ihrer abweichenden Meinung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über den "Großen Lauschangriff" erklärten die Richterinnen Renate Jaeger (1940–) und Christine Hohmann-Dennhardt (1950–): "Inzwischen scheint man sich an den Gedanken gewöhnt zu haben, dass mit den mittlerweile entwickelten technischen Möglichkeiten auch deren grenzenloser Einsatz hinzunehmen ist. Wenn aber selbst die persönliche Intimsphäre, manifestiert in den eigenen vier Wänden, kein Tabu mehr ist, vor dem das Sicherheitsbedürfnis Halt zu machen hat, stellt sich auch verfassungsrechtlich die Frage, ob das Menschenbild, das eine solche Vorgehensweise erzeugt, noch einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie entspricht." (BVerfG, Urt. v. 03.03.2004, Az. 1 BvR 2378/98)
Stand damit der Begriff des Tabus immerhin noch für die Erwartung, dass es einen schlechthin unverfügbaren Raum staatlich bzw. medial unkontrollierter menschlicher Existenz geben solle, wird er in weiteren Entscheidungen fast beliebig. Beispielsweise bezeichnete der Verfassungsgerichtshof Thüringen jene Gegenstände, über die mittels Volksbegehren nicht entschieden werden darf, als "Tabus" (Urt. v. 05.12.2007, Az. 47/06).
Und die verwaltungsgerichtliche Entscheidungspraxis kennt inzwischen, wenn es etwa um die Frage geht, ob irgendwo ein weiteres Windrad errichtet werden darf, sogar "weiche Tabukriterien" der Standortwahl – hat also den Begriff für das einst normativ ganz Unverfügbare vollständig schwammig gemacht (vgl. z.B. Verfassungsgerichtshof NRW, Urt. v. 01.12.2020, Az. 10/19).
Wert oder Wertlosigkeit des "Tabus" für das juristische Leben
Eine ins Grundsätzliche gehende Untersuchung zum Wert des "Tabu"-Konzepts legte im Jahr 2003 in scharfsichtiger Kürze der Bonner Staatsrechtslehrer Josef Isensee (1937–) vor.
Monierten die Verfassungsrichterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt in Sachen "Großer Lauschangriff" noch, dass es "kein Tabu" mehr sei, in die räumliche Intimsphäre einzugreifen, sodass das Allerheiligste des Verfassungsstaates möglicherweise bedroht werde, äußerte Isensee bereits auf einer grundsätzlicheren Ebene skeptisch:
"Ein Verbot, dessen Inhalt rational diskutiert werden darf, ist kein Tabu. Der eigentliche Effekt, den das Berührungsverbot des Art. 79 Abs. 3 GG zeitigt" – also die sog. Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes – "besteht darin, daß keine politische Kraft und kein wissenschaftlicher Interpret ausdrücklich gegen die Gewähr der Menschenwürde, des Rechtsstaats oder der Demokratie angeht, sondern, falls er grundstürzenden Wandel anstrebt, versucht, die Begriffe umzudeuten und den Sinn der Wörter auszutauschen. Gegen eine Subversion des Verfassungsverständnisses ist kein grundgesetzliches Kraut gewachsen."
Dass die Verfassung als Wertordnung gedeutet werde, so Isensee, helfe hier nicht weiter, weil Werte noch schwieriger zu fassen seien als Normen, eine Umwertung von Werten nicht mit juristischen Mitteln aufzuhalten sei. Immerhin gewinne die Verfassung damit einen "metarechtlichen Nimbus", "ein Schritt zu ihrer Tabuisierung". Es folge:
"Die Verfassung gilt als Medium der Integration. Strebungen gehen dahin, sie religiös zu überhöhen und als eine Art weltlicher Bibel zu betrachten. In diese Richtung wirkt auch die alte demokratische Lehre, daß die Verfassung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes entstamme, ein Mythos, der die wirkliche, nicht unehrenhafte, aber doch prosaische Entstehungsgeschichte mit demokratischem Weihrauch vernebelt. Ähnliche Wirkung erzeugt die Ideologie des Verfassungspatriotismus, dessen Propagatoren die patriotischen Empfindungen, die herkömmlich Land und Leuten galten, umleiten wollen auf die Ideen, die sie in oder hinter der Verfassung sehen oder zu sehen vorgeben."
Es werde die Verfassung damit tabuisiert, wenn auch nicht auf die originäre Weise wie der heilige Obstgarten der Maori: "Doch umgibt sich das Grundgesetz deshalb nicht mit einem Todesstreifen. Eine unbestimmte, finstere Gefahr für den, der die Verfassung als solche in Frage stellt, ist nicht zu erkennen. Im übrigen beziehen sich die Tabuierungstendenzen nicht auf alle Verfassungsgrundsätze, die das Grundgesetz in Art. 79 Abs. 3 für unberührbar erklärt, sondern nur auf Grundsätze, zu denen es heute keine politisch und moralisch diskutable Alternative gibt, wie Grundrechte und Demokratie, nicht aber auf den Bundesstaat."
Wenn aber ein Tabu nicht mehr ist als die Konvention, sich über anerkannt indiskutable Dinge zu streiten, wird es hinfällig, sobald nur irgendjemand den Bedarf anmeldet, über sie nun eben doch verhandeln zu wollen. Als juristische Orientierungsgröße wäre es damit denkbar ungeeignet, als politische eigentlich auch unbrauchbar. Man sollte also damit aufhören, der jeweiligen Gegenseite vorzuwerfen, mit Früchten vom verbotenen Baum zu spielen.
Hinweise: Gary Bruno Schmid: Tod durch Vorstellungskraft. Das Geheimnis psychogener Todesfälle. Wien: Springer. 2. Auflage 2010. Josef Isensee: Tabu im freiheitlichen Staat jenseits und diesseits der Rationalität des Rechts. Paderborn/München: Schöningh. 2003 (online). William Brown: New Zealand and its aborigines. London: Elger Smith. 1845 (online). Sigmund Freud: Totem und Tabu. 3. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer. 1961 (online).
Das "Tabu" als juristische Orientierungsgröße?: . In: Legal Tribune Online, 09.02.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56549 (abgerufen am: 18.03.2025 )
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