Die juristische Perspektive zu Straftaten endet meist mit dem Ermittlungsverfahren – oder entspricht dem statischen Sachverhalt einer Klausur. Über die Zukunft der Kriminalität nachzudenken, überlässt man Rechtspolitikern oder Polizeigewerkschaftlern. Dabei gibt es so viel Science-Fiction, von der wir lernen könnten, findet Martin Rath. Zum Beispiel "Schuldig in 16 Fällen" von Arno Behrend.
Über die Zukunft des Verbrechens kann man sich natürlich von einem der Pressesprecher der diversen Polizeigewerkschaften aufklären lassen, die hierzulande miteinander um das Licht der Öffentlichkeit buhlen. Fraglich ist, ob der Blick in die Zukunft der Kriminalität Polizeigewerkschaftspressesprechern guttut, hat man doch schon bei ihren Gegenwartsbekundungen den Eindruck, dass sie vor lauter Aufregung unter Bluthochdruck leiden.
Vielleicht ist es daher menschen-, jedenfalls pressesprecherfreundlicher, sich der Zukunft des Verbrechens durch die Vermittlung der Science-Fiction und der staatlich geförderten Glaskugel-Branche zu nähern. Jedenfalls verspricht das spannendere Zugänge als das polizeigewerkschaftsnotorische: "Es wird immer schlimmer!" beziehungsweise: "Fehlende Verwanzung ist unser Unglück!"
Innovationskraft in kriminellen Anliegen muss glücklicherweise nicht allein bei mutmaßlichen Verbrechern und der ihr staunend nacheilenden Staatsgewalt gesucht werden: Eine sehr einfallsreiche Sammlung mit Kurzgeschichten zu Straftaten, die sich insbesondere aus der Vorwegnahme technischer Entwicklungen ergeben könnten, enthält der Band "Schuldig in 16 Fällen" von Arno Behrend, unlängst erschienen im kleinen Phantastik-Fachverlag p.machinery.
Ein bisschen Spoilern muss sein
Strafrechtsdogmatisch ein wenig angreifbar dem Tatbestand des Betrugs zugeordnet wird hier beispielsweise in der Kurzgeschichte "Die letzte Jagd" folgendes fantastisches Verbrechen entwickelt: Ohnehin schon vermögende Menschen, die sich einen Weltraumflug leisten können, legen bei Reiseantritt Geld an. Weil ihre Flüge nicht nur eine Weile dauern, vom irdischen Standpunkt betrachtet, sondern auch ziemliches Tempo erreichen, wirft das ein Problem auf, das der Staat der Zukunft pönalisiert: Bei Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit vergeht den Reisenden die Zeit langsamer als der Menschheit auf der Erde, die bei der Rückankunft aus dem Anlagekapital ein monströses Vermögen erwirtschaftet hat. Über diese Vermögensmacht, die als "Betrug" bezeichnet wird, sollen die Raumreisenden nicht verfügen dürfen.
Arno Behrend erzählt die Geschichte aus der Perspektive einer speziellen Polizeieinheit, die sich des verbotenen Zunutzemachens von Zeitdilatation und Zinseszinseffekt annimmt. Seine dramaturgische Fall-Lösung soll hier nicht verraten werden, schon weil sie den Blutdruck etwaig mitlesender Polizeigewerkschaftspressesprecher gefährden könnte.
Mit Blick ins Buch offenlegungsbedürftig ist aber der Hinweis auf rechtsdogmatische Unschärfen: Erzählt werden die 16 Geschichten überwiegend mit Blick auf denkbare neue Delikts- oder bisher undenkbare Begehungs- oder Tatmotivformen. Die juristische Einordnung kommt etwas zu kurz.
Science-Fiction für Repetitoren
An der Subsumtionsarbeit kann der Leser sich also versuchen, darf es aber auch bleiben lassen. Vielleicht schadet aber etwas Übung in der juristischen Bewertung künftiger Handlungspotenziale nicht, auch wenn das Wechselspiel aus technischer und sozialer Bewegung noch nicht den Punkt erreicht hat, der in diesem Band beschrieben wird: Über die straf-, polizei-, zivil- und verfassungsrechtlichen, vor allem prozessrechtlichen Konsequenzen, die sich zum Beispiel aus der Technik des Gedankenlesens ergeben könnten.
Das "Neuroimaging" hat es immerhin schon in die tief seriösen Nachrichten des Vereins Deutscher Ingenieure gebracht. Welche rechtlichen Konsequenzen hätte es, wenn diese Technik serienreif wird? Bei Behrend geht die Phantasie zur Schnittstelle von Gehirn und Technik etwas weiter: Was folgt aus der unmittelbaren Vermittlung von Lerninhalten, direkt ins Schülergehirn? Das ließe sich straf- und verfassungsrechtlich, aber gern auch schulrechtlich diskutieren. Vielleicht beim Repetitor, dort sollte Neugier auf neue Lerntechniken ja vorhanden sein.
Von solchen Nutzwert-Interessen abgesehen bieten die 16 Geschichten, insgesamt rund 360 Seiten, auch schlicht gute Unterhaltung. Der 1967 in Hilden bei Düsseldorf geborene Arno Behrend zählt zu den preisgekrönten Autoren der deutschen Science-Fiction. Diesem Genre hat die fehlende Aufmerksamkeit seitens der halbamtlichen Feuilletons von "Zeit", "FAZ" und Co. vermutlich ganz gut getan – in der kritischen Beurteilung etwa ihrer erzähltechnischen Fähigkeiten springen die Autoren der deutschen Phantastik-Szene jedenfalls erfreulich leistungsförderlich miteinander um. Die Resultate lesen sich heutzutage oft überraschend gut, so auch hier.
Utopia als Juristentestgelände
Ein wenig Orientierung an populärer Literatur könnte auch den juristischen Ausbildungsbetrieb ein bisschen erträglicher gestalten. In der rechtssoziologischen Bewertung der Juristenausbildung wird beispielsweise von Zeit zu Zeit ein Blick auf die mitunter haarsträubenden Fälle geworfen, die den Studenten zur Subsumtionsübung vorgesetzt werden.
Anlass zur Kritik sah beispielsweise Vera Finger an den mit Stammtischhumor gewürzten Stereotypen in jenen "Sachverhalten", in denen einfältige Prostituierte auf Drogenhändler mit hübschen Namen wie "Albaner Toni und Kongo Bongo" treffen (myops Nr. 14, 2012, S. 27-31). Finger schlug vor, den von "Diskriminierungen und Rassismus" geprägten "Beispiele(n) von traditionellem Juristenhumor" mit ethischen Leitlinien zur Gestaltung von juristischem Studienmaterial zu begegnen.
Gegen Geschmacklosigkeiten mit moralischer Sauertöpfigkeit vorzugehen, ist vielleicht nicht der beste Weg. Wie wäre es, der juristischen Ausbildungsliteratur ein Mindestmaß an Unterhaltungswert dadurch zu geben, dass mancher Sachverhalt in einer sozialen bzw. technologischen Zukunft liegt?
Beispielsweise wäre die strafrechtsdogmatische Abgrenzung von Anstiftung und mittelbarer Täterschaft vielen Juristen sicher weit weniger präsent, würde im berühmten "Sirius-Fall" der nicht ganz ernstzunehmende "Außerirdische" fehlen.
Staatlich geförderte Verbrechensphantasie
Womöglich könnten professorale Rechtsgelehrte, die in ihrer Ausbildungsliteratur den Anschluss an zeitgenössische Science-Fiction suchten, sogar mit Fördergeldern der Europäischen Union rechnen.
Im Rahmen eines Projekts der Europäischen Kommission wurden utopische Spekulationsgeschäfte auf die Zukunft des Verbrechens durchaus schon gefördert. Dazu legte etwa der Schriftsteller und Unternehmensberater Karlheinz Steinmüller im Rahmen der FESTOS (Foresight of evolving security threats posed by emerging technologies) eine Anzahl kleiner Science-Fiction-Geschichten vor, von denen sich der europäische Staatenverbund offenbar Aufschluss über künftige Themen der Kriminalitätsbekämpfung verspricht.
Wem an juristischen Subsumtionsübungen gelegen ist, könnte sich – gleichsam mit dem Segen der Europäischen Kommission – beispielsweise an einem hübschen Schnittmengenverbrechen aus Körperverletzung mit Todesfolge, Computersabotage, Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation sowie Wahlbehinderung versuchen, zu finden in den Steinmüller-Wildcards, Beispiel ab S. 17).
Wer durcherzählte Verbrechens-Science-Fiction bevorzugt, greift vielleicht zu "Schuldig in 16 Fällen".
Salvatorischer Hinweis: § 12 Strafgesetzbuch ist bekannt. Der Artikel verwendet einen literarischen Begriff von "Verbrechen".
Tipp: Arno Behrend: „Schuldig in 16 Fällen“. Verlag p.machinery, ISBN 978-3-95765-007-8, 360 Seiten, 12,90 Euro
Martin Rath, Science-Fiction & Strafrecht: Die Zukunft des Verbrechens . In: Legal Tribune Online, 07.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14040/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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