"Des Menschen Willen ist sein Himmelreich?" Neurobiologen beunruhigen mit der Botschaft, dass es mit dem freien Willen nicht weit her sein könnte. Juristen verteidigen das Himmelreich, ist der Wille doch Voraussetzung von Schuld und Haftung. Bis zur Klärung der Angelegenheit hilft vielleicht eine Übung in Willensbildungsstörungen. Ein Versuch von Martin Rath.
In der oft etwas boshaften Kleinzeitschrift "myops. Berichte aus der Welt des Rechts" fasste Ernst Gottfried Mahrenholz jüngst einige Probleme der Juristen mit der neueren Neurobiologie derart zusammen, dass man kaum glauben mochte, dass der Autor früher als Richter am Bundesverfassungsgericht an erschöpfend langen Urteilstexten mitwirken musste: "Die Hirnforschung stellt Schuld im strafrechtlichen Sinn in Frage", schreibt Mahrenholz, "weil sie Erkenntnisse hat, die ausschließen, dass ein Täter 'im Augenblick der Tat' hätte auch anders handeln können. Der Entscheidungsprozess sei im Nervensystem bereits abgeschlossen, bevor der Täter handelte. Handelte er aber ohne Freiheit des Willens, sei sein Tun nicht schuldhaft", (Heft 17 [2013], S. 5-11).
Wenn dem so sein sollte, stünde es um die traditionelle Begründung eines staatlichen Strafanspruchs gegen Menschen, die Normen verletzt haben, möglicherweise nicht gut. Entsprechend umstritten ist es, welche Schlüsse aus den neurobiologischen Ansichten zur Willensfreiheit gezogen werden. Mahrenholz benennt in seiner kleinen "myops"-Skizze zwar nicht das zu Tode zitierte Experiment des US-Psychologen Benjamin Libet (1916-2007), womöglich stand es ihm aber vor Augen – in seiner journalistisch-volkstümlichen Kurzform: Der Handlungsimpuls, der Menschen handeln lässt, bildet sich, bevor das Gehirn den klaren Gedanken fasst, diese Handlung zu wollen. Im Libet-Test bestand die Handlung aus einem Fingerschnippen.
Gehirnscan zum Tatzeitpunkt
Mahrenholz weist darauf hin, dass Straftaten zumeist komplexere Handlungsverläufe sind, die einen entsprechend nachhaltigeren Prozess der (Willens-) Entscheidung zum strafrechtlich zurechenbaren Fehlverhalten erforderten: "Der Bankeinbruch bedarf, soll er gelingen, langer Vorlaufzeit, an deren Beginn oder jedenfalls in einer frühen Phase der Entschluss zur Tat gefallen ist."
Das ist wohl meist richtig. Mit einem Fingerschnippen lässt sich kein Bankeinbruch organisieren. Und nach den Skandalen der vergangenen Jahre gilt dies hoffentlich auch für die bankinterne Kapitalvernichtung durch windige Geschäfte.
Doch mit der leichten Verschiebung der Willensfreiheit weg vom tatkräftigen Einzelakt hin zum komplexeren Handlungsverlauf liegt vielleicht ein Stück Aburteilung mitunter nur zufällig biografischer Abschnitte. In Zeiten allseitigen Gehirnscans könnte dann ein Justizkalauer lauten: Der Angeklagte zum Richter: Wäre ein Gehirnscan zum Tatzeitpunkt möglich gewesen, hätte er sicher belegt, dass die eigentliche Tathandlung ohne Willen geschah. Der Richter zum Angeklagten: Machen Sie sich nichts daraus, dass ist mir schon beim Unterschreiben von Urteilen passiert.
Weniger kalauernd gefragt: Wenn es mit der Willensfreiheit der Beschuldigten und Angeklagten (volkstümlich: "der Täter") nicht weit her ist, gilt das Gleiche nicht auch für die übrigen Justizbeteiligten? Gelten die Willensbildungsstörungen beziehungsweise das Problem des freien Willens nicht für alle Menschen?
Zivilrecht entdeckt die Sozialpsychologie
Bemerkenswerter sind daher vielleicht weniger die Frage, ob der freie Wille seinen guten Ruf überhaupt verdient als Fragen danach, wie es dazu kommt, dass das, was jemand zu wollen glaubt, nicht mit dem übereinstimmt, was er beispielsweise von seinen Vertragspartnern bekommt.
In einer noch frischen Ausgabe der Juristenzeitung (JZ 2013, S. 340-345) behandeln die emeritierten Professoren Herbert Wiedemann und Rolf Wank einige Erkenntnisse der Wirtschafts- und Sozialpsychologie, die sich auch als juristische Willensbildungsstörungen diskutieren lassen ("Begrenzte Rationalität – gestörte Willensbildung im Privatrecht").
Die Wirtschaftswissenschaften gingen bekanntlich und gehen in manchen Modellannahmen bis heute von einem schlichten Welt- und Menschenbild aus: Der Mensch am Markt gilt als ein rational-egoistischer Nutzenmaximierer und hat alles Wissen, das er für seine Entscheidungen benötigt. Gegen den zwar begrenzten, aber möglichen Erkenntnistransfer, z.B. zur ökonomischen Rationalität von Haftungsregelungen, haben sich Juristen oft gewehrt und etwa ein diffuses "Menschenbild des Grundgesetzes" dagegengesetzt. Einen Beleg für die Beinah-Totgeburt der "Ökonomischen Analyse des Rechts" in Deutschland vor bald 30 Jahren gibt die Kontroverse zwischen Karl-Heinz Fezer, Claus Ott und Hans-Bernd-Schäfer (samt Replik und Duplik in: JZ 1986, 817-824; 1988, 213-223 und 223-228).
Beim eindimensionalen Modellmenschen eines "rational-egoistischen Nutzenmaximierers" sind die Wirtschaftswissenschaften indes nicht stehengeblieben. Wirtschaftspsychologen wollen beispielsweise herausgefunden haben, dass Menschen überall und unabhängig von der Gesellschaft, in der sie leben, Schwierigkeiten damit haben, exponentielle Wachstumsprozesse zu erkennen: Bricht etwa in einem Zimmer ein Feuer aus, fliehen sie oft zu spät, selbst wenn sie die Flammen sehen. Sie verschätzen sich bei der Geschwindigkeit, mit der sich das Feuer ausbreitet. Menschen sind bei solchen Wachstumsprozessen systematisch unvernünftig. Für andere überraschend schnelle Wachstumsprozesse gilt nichts anderes: Der Zinseszins gehört etwa hierher.
"In der Jurisprudenz gibt es eine Reihe von Modellannahmen", stellen Wiedemann/Wank nun fest. "Wie den ehrbaren Kaufmann oder den ordentlichen Geschäftsführer; sie werden aber mit ganz anderer Funktion eingesetzt, nämlich als normativer Verhaltensmaßstab und nicht als empirischer Befund."
Als Beispiel für die juristische Auseinandersetzung für systematisch fehlerhafte Risikowahrnehmung geben Wiedemann und Wank das Problem der Nachschusspflicht im Gesellschaftsrecht an: Ein Gesellschafter soll sich, gestützt auf § 709 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) und § 119 Handelsgesetzbuch nicht vorab zu Mehrbelastungen zugunsten der Gesellschaft verpflichten können.
Willensbildungsstörungen in der Juristerei
Merkwürdig, dass Wiedemann/Wank eine hier naheliegende Weisheit des Gesetzgebers zur Eindämmung von Willensbildungsstörungen, hier im Teilgebiet der Risikowahrnehmungsprobleme, nicht erwähnen, § 289 BGB: "Von Zinsen sind Verzugszinsen nicht zu entrichten. Das Recht des Gläubigers auf Ersatz des durch den Verzug entstehenden Schadens bleibt unberührt."
Das Zinseszinsverbot ist eine Antwort des Gesetzes auf die gestörte Realitätssicht des Menschen in seiner durchschnittlichen biologisch-psychischen Ausstattung: Er wird vor seiner Fehleinschätzung eines exponentiellen Wachstumsverlaufs geschützt.
Leider genügt Juristinnen und Juristen oft der Blick ins Gesetz. Würde man nach Art der Wirtschaftswissenschaftler auf den "inneren Zweck" schauen, der sich mit Wirtschafts- und Sozialpsychologie erschließen lässt, ließe sich beispielsweise viel Sorge über staatlichen Paternalismus beenden. Wiedemann/Wank sprechen diese Sorge an, dass die nun aufkommenden verhaltensökonomischen Erkenntnisse über Willensbildungsstörungen den Gesetzgeber zu immer neuen, paternalistischen Eingriffen in die Freiheit der "unvernünft" handelnden Marktteilnehmer animieren könnten.
Dieser Blick auf verhaltensökonomische Gesetzmäßigkeiten ist vielleicht etwas zu pessimistisch. Man könnte ja durchaus auch bestehendes Recht freundlicher betrachten: Wem die innere, "ökonomische" Verwandtschaft zwischen dem alten Zinseszinsverbot und der neueren Pflicht, Brandschutzmelder zu installieren, geläufig ist, wird vielleicht nicht so schnell vom übervorsorglichen Staat sprechen, der seine Bürger für dumm erklärt.
Weites Feld unbequemer Denksportaufgaben
Mit Problemen, exponentielles Wachstum in seiner Umwelt zu erkennen, ist der Mensch nicht allein gestraft. Schon beim Versuch, die populäre Literatur zum Thema Willensbildungsstörungen auszuwerten, finden sich an die 100 Effekte und "Gesetze", die Einfluss auf die richtige Wahrnehmung der Realität und die daraus folgenden Entscheidungen nehmen oder im Verdacht stehen dies zu tun.
Als Verfügungsmasse für populärwissenschaftliche Bücher sind diese Probleme und Paradoxien eigentlich viel zu schade. Würden sie nicht gut dazu taugen, den oft beklagten Verlust an "innerjuristischer Interdisziplinarität" wieder wettzumachen?
Man nehme beispielsweise das "Abilene-Paradox", das eine Situation beschreibt, in der sich eine Gruppe zu einer Handlung entschließt, die der persönlichen Neigung jedes einzelnen Gruppenmitglieds widerspricht. Sollte sich das in europarechtlichen Falllagen, beispielsweise aktuellen währungspolitischen Entscheidungen, nicht ebenso wiederfinden lassen wie in den strafrechtlichen Situationen von Täterschaft und Teilnahme?
Oder scheinbar profane "Gesetze" wie der "Rezenzeffekt": Dass jüngere Ereignisse besser erinnert werden als ältere, scheint eine profane Einsicht zu sein. Aber sollte ein forensisch arbeitender Jurist aufs Berufsleben losgelassen werden ohne sich in Studium und Referendariat systematisch damit befasst zu haben, welche Verzerrungen der Effekt in Zeugenaussagen verursacht?
Sind Sie interessiert? Mit einem Fingerschnipp finden Sie weiterführende Hinweise, ob Sie das wollen oder nicht.
Martin Rath, Juristen und die Neurowissenschaften: Überall Willensbildungsgestörte . In: Legal Tribune Online, 28.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8622/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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