Schule ist Ländersache. Entsprechend sorgt das in 16 Bundesländern teils unterschiedlich geregelte Schulrecht für unfreiwillige Komik. Zeit für eine kleine Kostprobe, denn in manchen Bundesländern enden die Sommerferien 2024 bereits.
Es gibt gute rechtliche und politische Gründe, warum die Schulgesetze der Länder manchmal im Detail regeln, was in der Schule unterrichtet werden soll.
Das nach wie vor beste Beispiel gibt der Streit um die Sexualerziehung, der in den 1970er Jahren auch vor Gericht ausgetragen wurde. Denn mit Beschluss vom 21. Dezember 1977 erklärte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eine Regelung des Hamburger Schulrechts für nichtig, die es der Schulbehörde der Hansestadt überlassen hatte, die Sexualkunde in eigener Regie einzuführen.
Nicht wenige Eltern, aufgewachsen im Duft von Kernseife und Manneszucht, störten sich daran, dass ihre Kinder über die rein biologischen Tatsachen hinaus auch mit neuartigen Erkenntnissen beispielsweise dazu konfrontiert wurden, dass Sexualität Freude bereiten könnte. Darüber, den Gegenstand im Unterricht auf so moderne Weise anzufassen, hatte entsprechend der parlamentarische Gesetzgeber zu beschließen, nicht bloß die Schulverwaltung (BVerfG, Beschl. v. 21.12.1977, Az. 1 BvL 1/75 u.a.).
Es versteht sich beinahe von selbst, warum die Richter wünschten, dass sich der parlamentarische Landesgesetzgeber selbst um eine derart umstrittene Angelegenheit wie die Einführung des Sexualkundeunterrichts kümmerte. Denn wo, wenn nicht im parlamentarisch-politischen Raum, sollten die im Volk strittigen moralischen Vorstellungen zu einer ausgleichenden Regelung gebracht werden?
Weit weniger gut zu verstehen sind dutzende, wenn nicht hunderte von weiteren Einzelzielen, die sich in den Schulgesetzen der 16 deutschen Länder sedimentiert haben.
Zweck- und Zielbestimmungen von Schule: schlecht sortierter Kitsch
Eine in Form und Inhalt sehr gute Kostprobe bietet § 2 Schulgesetz Nordrhein-Westfalen zum Bildungs- und Erziehungsauftrag. In Absatz 2 der Vorschrift heißt es:
"Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung. Die Jugend soll erzogen werden im Geist der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und zur Friedensgesinnung. Die Schule fördert die europäische Identität. Sie vermittelt Kenntnisse über den europäischen Integrationsprozess und die Bedeutung Europas im Alltag der Menschen."
An dieser Vorschrift ist eigentlich alles schön, jedenfalls wenn man Freund surrealistischer Kunst ist: Sie provoziert nicht nur die theologisch anspruchsvolle Frage nach dem Verhältnis zu Gott, der ja alternativ beispielsweise geliebt oder angezweifelt werden könnte, sondern verlangt auch von Lehrern eine zur pädagogischen Vermittlung hinreichende Vorstellung vom Gehalt der Menschenwürde. Nicht jeder hat hier die Gesinnungsstärke und die pädagogische Ausstrahlung von Heribert Prantl (1953–).
Derart großen Zwecken den Vorrang zu geben, ist pädagogisch gewiss edel. Nur wundert dann, warum der "Geist" – bekanntlich ein wabernder Geselle – "der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit" in einer Reihe mit der "Verantwortung für Tiere" stehen soll. Und überhebt man sich nicht ein wenig, wenn man vom gemeinen Studienrat verlangt, "in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und zur Friedensgesinnung" zu erziehen? Ganz von der Frage abgesehen: Wie viele Credit Points bekommen die Studierenden für diese Module im Lehramtsstudium?
Der nordrhein-westfälische Landesgesetzgeber mag sich damit entschuldigen, nach dem Prinzip der Abstellkammer gearbeitet zu haben: Alles, was ihm über die Jahrzehnte hinweg einmal wichtig erschien, wurde in den Wertekatalogen des Schulgesetzes abgelegt.
Wortreiche Schulsinnbestimmungen sind unfreiwillig komisch
Anders, nicht unbedingt besser, machte es der Thüringer Landtag, der bekanntlich erst seit 1990, nicht schon seit 1947 frei über pädagogische Ziele beraten kann. § 2 Abs. 1 Thüringer Schulgesetz benötigt 266 Wörter:
"Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule in Thüringen leitet sich ab von den grundlegenden Werten, wie sie im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und in der Verfassung des Freistaats Thüringen niedergelegt sind. Die Schule erzieht zur Achtung vor dem menschlichen Leben, zur Verantwortung für die Gemeinschaft, zu einem gewaltfreien und friedlichen Zusammenleben weltweit und zu einem verantwortlichen Umgang mit der Umwelt und der Natur. Sie pflegt die Verbundenheit mit der Heimat in Thüringen und in Deutschland, fördert die Offenheit gegenüber Europa und weckt das Verantwortungsgefühl für alle Menschen in der Welt. Wesentliche Ziele der Schule sind die Vermittlung von Wissen und Kenntnissen, die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Vorbereitung auf das Berufsleben, die Befähigung zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zur Mitgestaltung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie zum bewussten, selbst bestimmten und kritischen Umgang mit Medien, die Erziehung zur Aufgeschlossenheit für Kultur und Wissenschaft sowie die Achtung vor den religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen anderer. Die Schüler lernen, ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Akzeptanz sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter und der verschiedenen Lebensweisen zu gestalten. Dabei werden die Schüler darauf vorbereitet, Aufgaben in Familie, Gesellschaft und Staat zu übernehmen und dazu angehalten, sich im Geiste des Humanismus und der christlichen Nächstenliebe für die Mitmenschen einzusetzen. Die Schule fördert den Entwicklungsprozess der Schüler zur Ausbildung ihrer Individualität, zu Selbstvertrauen und eigenverantwortlichem Handeln. Sie bietet Raum zur Entfaltung von Begabungen sowie für den Ausgleich von Bildungsbenachteiligungen. Die natürlichen Rechte der Eltern und die ihnen obliegenden Pflichten zur Erziehung ihrer Kinder bleiben davon unberührt. Die Schule wirkt Mobbing und Gewalt aktiv entgegen."
Das juristische Interesse an einer Norm hängt bekanntlich davon ab, ob sie eine Antwort auf die Frage verspricht, wer von wem woraus etwas beanspruchen kann. Wenn schulrechtliche Regelungen dieser Art die Antwort schuldig bleiben, muss das nicht weiter stören. Es genügt, dass sie ab und zu bei der Klärung eines einklagbaren Anspruchs helfen könnten.
Ein bisschen befremdend wirken solche gesetzlichen Definitionen von Schulaufgaben aber doch. Denn zum unbewusst soziologischen Wissen von Juristen gehört etwa die Einsicht, dass das Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) nicht definiert, was der Sinn der Familie ist, also Liebe und sexuelle Reproduktion, sondern bloß die äußeren Umstände, beispielsweise die unterhaltsrechtlichen Ansprüche, die bei Zweckverfehlung der Familie geregelt sein wollen.
Der Gesetzgeber kann familiale Liebe und Fortpflanzung nicht ernsthaft regeln, er kann auch dem Arzt nicht mitteilen, wann eine Krankheit als geheilt, oder einem Lehrer, wann ein Kind als erzogen gilt. Der Gesetzgeber kann die Wirtschaftssubjekte noch nicht einmal ohne Weiteres dazu zwingen, Geld als Geld anzuerkennen – es sind immer nur die äußeren Verhältnisse und Konsequenzen, die in seiner Macht stehen.
Auch welchen Sinn die Schule ergibt, wie sie Bildung und Erziehung bewirkt, dürften Lehrer und Schüler besser wissen als der parlamentarische Gesetzgeber. Wenn er trotzdem wortreich versucht, das wahre Wesen, den inneren Sinn von Bildung und Erziehung aufzulisten, ist das unangemessen pathetisch und damit unfreiwillig komisch.
Wir lassen Schule nicht Schule sein
Dass es gesellschaftliche Bereiche gibt, die sich nicht vollständig in die Funktionslogik eines anderen Bereichs auflösen lassen, zählte zu den Lehren des juristisch gebildeten Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998), die leider nicht wirklich ins reflektierte Alltagsbewusstsein der Republik übergegangen sind.
Zu wissen, dass beispielsweise Schulen und Hochschulen niemals vollständig "ökonomisiert" werden können, ohne aufzuhören, der Bildung zu dienen, dass Kunst und Literatur ihren Sinn verlieren, wenn statt Künstlern allein die Betriebswirte über sie verfügen, könnte viele Kontroversen etwas entspannen oder klüger sortiert austragen helfen – wir hätten heute deutlich weniger Querdenker und Verschwörungsgläubige. Aber es ist auch verständlich, wenn nicht jedem der Blick für die Komik gegeben ist, zum Beispiel das Bildungswesen vollständig juristisch zu regeln, statt es halbwegs frei seiner eigenen Funktionslogik zu überlassen.
Die Lektüre der Ziel- und Zweckbestimmungen vermittelt aber auch ohne derart grundsätzliche Vorüberlegungen komische, jedenfalls seltsame Seiten.
Beispielsweise wird der Finanzsenator des Landes Berlin wohl jeden Morgen beten müssen, dass nicht eines Tages ein Gericht auf den Gedanken kommt, § 1 Abs. 1 Schulgesetz Berlin als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB zu lesen:
"Auftrag der Schule ist es, alle wertvollen Anlagen der Schülerinnen und Schüler zur vollen Entfaltung zu bringen und ihnen ein Höchstmaß an Urteilskraft, gründliches Wissen und Können zu vermitteln."
Und die Bildungssenatorin darf dankbar dafür sein, dass noch kein rechtgläubiger Feminist sich an § 3 Abs. 3 Nr. 2 Schulgesetz Berlin gestört hat. In einem grotesk ausführlichen Katalog der Dinge, die von Berliner Schülern "insbesondere" gewusst und gekonnt werden müssen, wird die Befähigung verlangt,
"die Gleichstellung aller Geschlechter auch über die Anerkennung der Leistungen der Frauen in Geschichte, Wissenschaft, Wirtschaft, Technik, Kultur und Gesellschaft zu erfahren".
Über den Sinn der Partikel "auch" in dieser Formulierung ließe sich länger meditieren als über manchen Genderstern.
Das Bayerische Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) zählt es hier rustikaler zu den Aufgaben der Schule,
"die Schülerinnen und Schüler zur gleichberechtigten Wahrnehmung ihrer Rechte und Pflichten in Familie, Staat und Gesellschaft zu befähigen, insbesondere Buben und junge Männer zu ermutigen, ihre künftige Vaterrolle verantwortlich anzunehmen sowie Familien- und Hausarbeit partnerschaftlich zu teilen" (Art. 2 Abs. 1).
Mag sein, dass in der bayerischen Schulpolitik der Hauswirtschaftsunterricht für "Buben" ähnlich heikel ist wie sonst nur die Sexualkunde. Höher im Rang zu stehen scheint jedoch die Aufgabe der bayerischen Schulen,
"Kenntnisse von Geschichte, Kultur, Tradition und Brauchtum unter besonderer Berücksichtigung Bayerns zu vermitteln und die Liebe zur Heimat zu wecken" (ebd.)
Es überrascht nicht, dass im putzigsten aller deutschen Länder, also in Rheinland-Pfalz, die Bereitschaft, "Ehrenämter und die sozialen und politischen Aufgaben im freiheitlich-demokratischen und sozialen Rechtsstaat zu übernehmen", noch vor dem Erziehungsauftrag zum "gewaltfreien Zusammenleben" gelistet wird (§ 1 Abs. 2 SchulG). Es gibt eben nichts Gutes, außer man tut es – in der Provinz weiß man das früh aus Erfahrung.
Der hessische Gesetzgeber erklärt sogar, wie zu diesem gewaltfreien Zusammenleben zu gelangen ist. So sollen die Schüler in Hessen – wiederum "insbesondere" – lernen,
"Konflikte vernünftig und friedlich zu lösen, aber auch Konflikte zu ertragen" (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 HSchG).
Tücke oder Gedankenlosigkeit in der Reihenfolge?
Der Schatz an schulrechtlichen Zielvorstellungen, die sinnvoll oder seltsam sind, ist damit längst nicht erschöpft. Der Bremer Gesetzgeber befriedigt etwa ein grundlegendes staatstheoretisches Bedürfnis, indem er zunächst dekretiert, dass niemand die Schule bewaffnet betreten dürfe – die Friedenspflicht des Staates wird damit schön jeder pädagogischen Moral vorangestellt. Das Land Schleswig-Holstein widmet sich prominent der Frage, wie Alkohol vom Schulgelände fernzuhalten ist.
In vergleichender Lektüre fallen kleine Unterschiede auf. Das Land Berlin hält es für im höchsten Rang dringlich, Persönlichkeiten heranzubilden, die "fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entgegenzutreten" (§ 1 Satz 2 SchulG Berlin). Im Freistaat Sachsen wird im Katalog der Inhalte zunächst die "Freude an der Bewegung und am gemeinsamen Sport und Spiel" genannt (vgl. § 1 Abs. 5 Nrn. 8 und 5 Sächsisches SchulG).
Finge jemand an, aus der Rangfolge der Nennung eine Rangordnung ihrer Lehrbedürftigkeit zu extrahieren, kämen Pädagogen wohl in Teufels Küche. Vielleicht ist es ein Glück, dass sich niemand für diese niedlichen Versuche ernsthaft interessiert, die schulische Wertordnung zu normieren.
Hinweise: Der Anglist Theo Stemmler (1936–) sammelte bereits Stilblüten und andere Marotten im Landesrecht: "Zur Sprache der deutschen Landesverfassungen. Ein Test", in: Ulrike Haß-Zumkehr (Hg.): Sprache und Recht (2002), S. 210–221. Ein Meisterwerk zum Pathos im Staatsbetrieb produzierte Ludwig Harig (1927–2018) mit seiner Hörcollage "Staatsbegräbnis" (1969).
Stilblüten im deutschen Recht: . In: Legal Tribune Online, 18.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55225 (abgerufen am: 15.10.2024 )
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