Kann man eine Rückzahlung von Steuervorauszahlungen verlangen, wenn die Behörde völlig untergegangen ist? In friedlichen Zeiten wirkt schon die Frage absurd. Der Bundesfinanzhof hatte aber 1952 nach dem Krieg eine Antwort zu finden.
Dass in dieser Region mehr als ein Finanzamt von der Landkarte getilgt wurde, konnte im 20. Jahrhundert niemand überraschen. Fraglich blieb aber, wie mit dem Geld umzugehen ist, das mit den Behörden verschwunden war.
Der Landstrich im Süden der wunderbaren Ostseestadt Danzig – polnisch: Gdańsk, kaschubisch: Gduńsk – wurde lange Zeit als Provinz Westpreußen verwaltet. Zwei Drittel der Bevölkerung verstanden sich auf amtliche Befragung hin als Deutsche, ein knappes Drittel als Polen, es wurde von einer kleinen Gruppe auch Kaschubisch gesprochen.
Die ethnische Zugehörigkeit nach Sprachen wurde zudem vom scharfen konfessionellen Gegensatz zwischen evangelischen und katholischen Christen durchkreuzt, jüdische und mennonitische Gemeinden kamen hinzu. Obwohl die Verfassung ihres Königreichs von 1850 garantierte, dass alle Preußen vor dem Gesetz gleich seien, betrieb Berlin eine Staatskredit- und Siedlungspolitik zulasten der polnischen Staatsbürger. Katholiken wurden überdies in der deutschnationalen, protestantischen Propaganda des sogenannten Kulturkampfs als Reichsfeinde denunziert.
Nach dem Ersten Weltkrieg, auf der Grundlage des Versailler Vertrags, fiel das Gebiet der Provinz in wesentlichen Teilen an die Freie Stadt Danzig, einen neuen Staat unter dem Schutz des Völkerbunds, und an die ebenfalls neu gegründete Republik Polen – der Rest wurde anderen preußischen Provinzen zugeschlagen.
Der Übergang der Verwaltung an die neuen Staaten verlief in den 1920er-Jahren unter zähen Konflikten, die Kontinuität einer Staatsgewalt an sich stand aber nicht in Frage.
Während des Zweiten Weltkriegs gliederte das Deutsche Reich die Region als "Reichsgau Danzig-Westpreußen" in seine Verwaltung ein. Seit März 1945 wurde das Gebiet schließlich in die Volksrepublik Polen aufgenommen, die deutsche Bevölkerung vertrieben – überwiegend unter Verlust jeglichen Besitzes.
Verwaltung vor Ort geht unter, Kontounterlagen gehen auf die Flucht
Ein Ehepaar aus Westpreußen, vertreten durch den Mann, war bereits Anfang 1945 vor den sowjetischen Streitkräften nach Westen geflohen. Bis dahin hatten sie sich, offenbar recht erfolgreich, unternehmerisch betätigt.
Ende 1946 meldete sich der Mann bei seinem neuen Finanzamt in Nordrhein-Westfalen an und erhielt eine neue Steuernummer. Anfang 1947 reichte er dann seine Steuererklärung für das Jahr 1944 ein.
Weil die Eheleute ihre Dokumente mit in den Westen gerettet hatten, konnten sie nachweisen, dass sie beim untergegangenen Finanzamt in Westpreußen bereits Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer von gut 47.000 Reichsmark für das erste Quartal, von jeweils gut 33.000 Reichsmark für die übrigen Quartale des Jahres 1944 geleistet hatten – zum 31. März, 30. Juni, 15. September und 30. Dezember 1944.
Während sein neues Finanzamt den Steuerpflichtigen zu einer Einkommensteuer von knapp 25.000 Reichsmark veranlagte, war er der Auffassung, dass – nachdem er aufgrund des Veranlagungsbescheides 1943 die Vorauszahlungen geleistet hatte – ein Guthaben von 110.000 Reichsmark bestehe, das die Behörde ihm nun auszuzahlen habe.
Nordrhein-Westfalen wollte den Reichsfiskus nicht beerben
Auf seinen Einspruch hin nahm das Finanzamt den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1944 zurück, erklärte ihm aber, dass eine Anrechnung der Steuerzahlungen in Westpreußen – einem Gebiet außerhalb der amerikanischen, britischen, französischen und sowjetischen Besatzungszone – nicht erlaubt sei.
Die Finanzleitstelle, eine Oberbehörde der britischen Zone, hatte bereits im Jahr 1945 angewiesen: "Flüchtlinge, die ihren Wohnsitz bisher innerhalb der Grenzen Deutschlands nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 gehabt haben und nach dem 31. Dezember 1944 in die britische Besatzungszone zugezogen sind, werden vom Tage des Zuzugs an unbeschränkt steuerpflichtig. Vorauszahlungen, die solche Personen vor ihrem Zuzug an ihrem früheren Wohnsitz für 1945 an das früher zuständig gewesene Finanzamt gezahlt haben, sind nicht erstattungsfähig und dürfen daher auf das Steuersoll 1945 nicht angerechnet werden."
Weitere Bestimmungen schlossen auch sonst die Anrechnung solcher Vorauszahlungen aus.
Immerhin sah das Finanzamt zwar davon ab, überhaupt für das Jahr 1944 Einkommensteuer zu veranlagen, doch war der Steuerpflichtige mit Blick auf die geleisteten Zahlungen damit nicht einverstanden.
"Lage durch den Kriegsausgang grundsätzlich verändert"
Vor dem Finanzgericht blieb er erfolglos. Auch wenn die Ausschlussregelung durch die britische Militärregierung dem älteren deutschen Steuerrecht widerspreche, argumentierte es, müssten doch die veränderten Umstände beachtet werden. Der Bundesfinanzhof (BFH) zitiert es wie folgt:
"Die Lage habe sich durch den Kriegsausgang grundlegend verändert. In verwaltungsrechtlicher Hinsicht sei das Reich nicht mehr vorhanden. An seine Stelle seien einzelne Länder getreten. Diese betrachteten sich nicht als Rechtsnachfolger des Reiches. Jedes Land habe seine eigene Verwaltung und seinen eigenen Haushalt. Durch diese normative Kraft des Faktischen sei eine solche Veränderung eingetreten, daß die früheren reichsrechtlichen Bestimmungen über Zuständigkeit und Erstattung ihre Grundlage verloren hätten. Es könne deshalb nicht mehr verlangt werden, daß das Wohnsitz-Finanzamt Steuern erstatte, gleich wo und wann sie bezahlt worden seien."
Das neue Land Nordrhein-Westfalen musste sich laut Finanzgericht nicht als Rechtsnachfolgerin des Reichsfiskus behandeln lassen, dem das Geld 1944 in Westpreußen zugeflossen war. Es stehe daher in seiner Macht, die Vorauszahlungen an das untergegangene Finanzamt jenseits von Oder und Neiße nicht zu berücksichtigen. Immerhin habe es aber ganz auf die Veranlagung zur Steuer für 1944 verzichtet. Das müsse reichen.
Bundesfinanzhof macht sich Gedanken zur Staatskontinuität
Der BFH entschied hingegen am 21. Februar 1952 (Az. IV 439/51 S) zugunsten des Steuerpflichtigen und holte dazu rhetorisch weit aus.
Es sei zwar nach dem "Zusammenbruch" strittig gewesen, "ob das Deutsche Reich als Staat untergegangen sei, oder trotz der bedingungslosen Kapitulation und der totalen Niederlage noch weiter bestehe". Inzwischen seien aber maßgebliche juristische Stimmen aus dem In- wie dem Ausland zu der Auffassung gekommen, dass "es nach wie vor einen Staat und ein völkerrechtliches Subjekt Deutschland gebe".
Die entscheidende Frage sei, "ob die deutsche Staatsgewalt nach 1945 weiter bestanden" habe. Dies hänge nicht vom Fortbestehen des Regierungssystems ab, sondern sei "mit der Frage verbunden, ob das deutsche Volk, wie es in dem Deutschen Reiche vereinigt war, weiterhin die Staatsgewalt über das Staatsgebiet und das Staatsvolk [sic!] ausgeübt" habe. Zustimmend zitierte der BFH im Jahr 1952 hierzu den Hamburger Juristen Rolf Stödter (1909–1993): "Das Reich besteht als Staat fort; es befindet sich im Zustande kriegerischer Besetzung. Die alliierten Besatzungsmächte üben in Deutschland eine völkerrechtliche Okkupationsgewalt nach Maßgabe der Haager Landkriegsordnung und des dieser zugrunde liegenden allgemeinen Völkerrechts aus. Die deutsche Reichsgewalt ist infolge der Okkupation zunächst verdrängt."
Auch das Grundgesetz folge, wie der BFH weiter ausführte, der Idee, dass das Deutsche Reich 1945 "als Staat und Rechtssubjekt" zwar "desorganisiert und seiner Geschäftsfähigkeit beraubt worden", aber nicht untergegangen sei.
Damit stand für den BFH auch fest, dass die Bundesrepublik Deutschland – in Gestalt als "der Bund und die Länder" – "in die Rechte und Verpflichtungen des Reiches eingetreten ist, soweit die Westzonen an ihnen beteiligt sind".
Konsequenzen für die Veranlagung zur Einkommensteuer
Im Umgang mit alliiertem Recht, das den Auffassungen westdeutscher Gerichte nicht entsprach, hatte sich eine gewisse Eleganz etabliert. Der BFH vermied entsprechend die Feststellung, dass die von der Finanzleitstelle der britischen Besatzungszone erlassene Regelung, Vorauszahlungen an Finanzämter jenseits der Oder-Neiße-Grenze außer Acht zu lassen, gegen verbindliches deutsches Recht verstoße.
Der BFH entschied nur, dass der Steuerbescheid mit dieser Regelung rechtlich nicht zu begründen sei. Damit war der zwischenzeitlichen alliierten Obrigkeit nicht zu harsch ins Handwerk hineingeredet.
Im Übrigen hielt der BFH fest, dass das Finanzamt im Land Nordrhein-Westfalen mit Blick auf § 131 der (Reichs-)Abgabenordnung (AO) bei den deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen aus Billigkeitsgründen auf "formell entstandene Steuern" habe verzichten dürfen, weil deren wirtschaftliche Existenzgrundlage untergegangen war. § 131 AO hatte diese Kompetenz, auf die Erhebung von Steuern im Einzelfall oder einer Gesamtheit von Sonderfällen zu verzichten, im zivilen Jahr 1931 noch dem Reichsfinanzminister zugeordnet – mit dem Regelbeispiel einer Unwetterkatastrophe.
Aber auch die Erstattung der Vorauszahlungen dürfe wegen der Staatskontinuität nicht verweigert werden. Das hilfsweise Argument, dass Länder der Bundesrepublik, die besonders viele deutsche Flüchtlinge und Vertriebene aufgenommen hatten, dadurch über die Maße belastet würden, taugte dem BFH nichts – das sei Sache eines Länderfinanzausgleichs.
Mit diesen Vorgaben ging die Sache zurück ans Finanzamt, um sie ganz neu zu bescheiden.
Argumente geben nichts her für Pickelhaubenzüchter
Im Publikum wird heute oft unterschätzt, wie stark das Kontinuitätsbewusstsein von Verwaltung und Justiz über das Kriegsende 1945 hinaus war. Wie wenig man sich im Dienstbetrieb stören lassen wollte, hat etwa der in Berlin lehrende Zivilrechtler und Rechtshistoriker Benjamin Lahusen jüngst beeindruckend am Beispiel der Justiz der Jahre 1944 bis 1948 erzählt.
Es waren nicht einzelne dämonische Bürokraten, gern wird Hans Globke (1898–1973) genannt, die irgendeinen wesenhaft guten Neubeginn zunichte gemacht hätten. Die Verwaltung sah sich selbst insgesamt in eine Tradition der Akten, des Personals, des Rechts und der Gepflogenheiten gestellt – noch jede Verdienstmedaille aus den Fürstentümern vor 1918, jede Belobigung und jedes Dienstvergehen aus der Zeit zwischen 1919 und 1945 fand etwa Eingang in die Personalunterlagen von Beamten und Richtern. Nachträglich zu skandalisieren, was eine Gesellschaft fast ganz ausmachte, wirkt heute etwas seltsam. Trauer über fehlende Neuanfänge schließt das nicht aus; Freude darüber, dass die Resozialisierung Deutschlands trotzdem oder gerade deshalb einigermaßen gelungen ist, erst recht nicht.
In der Entscheidung des Bundesfinanzhofs zum Einstehenmüssen des neuen Landes Nordrhein-Westfalen für die Steuervorauszahlungen an den alten Reichsfiskus, vertreten durch ein Finanzamt im verlorenen Westpreußen, war dabei – neben der staatsmetaphysischen Patina – eine ganz praktische Dimension enthalten: Aufgrund der Kontinuitätsannahme ließen sich Vereinbarungen mit auswärtigen Staaten zur Doppelbesteuerung fortsetzen, wie dies bereits 1951 für die Schweiz, Schweden und Österreich verkündet worden war, und zwar auf der Grundlage von Abkommen aus den Jahren 1922, 1928 und 1931. Auch derlei musste also nicht ganz neu verhandelt werden.
Für die staatsmetaphysischen Geisterfahrer der sogenannten Reichsbürger gibt das alles natürlich ganz gar nichts her. Denn hier hatte man Kontinuität, praktisch wie ideell, im Vollbild.
Lesetipps: Benjamin Lahusen: "Der Dienstbetrieb ist nicht gestört". Die Deutschen und ihre Justiz 1943–1948. München (Beck) 2022, enthält u. a. Auskünfte zur Justiz in der oulipotischen Gemeinde Neustadt. Aufklärungen über das Deutsche Reich zwischen "Juristenkonstruktion und rechtlicher Mumie" bieten Christoph und Sophie Schönberger: Die Reichsbürger. Ermächtigungsversuche einer gespenstischen Bewegung. München (Beck) 2023.
Steuerrecht nach dem zweiten Weltkrieg: . In: Legal Tribune Online, 15.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55401 (abgerufen am: 07.10.2024 )
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