Darüber, wen man an der nationalen Gemeinschaft teilhaben lassen und einbürgern möchte, denken Staaten schon immer nach. Früher sah man das Ganze aber ein wenig enger. Martin Rath mit einem spannenden Blick in die Rechtsgeschichte.
Stellen wir uns einmal vor, einige eben erst aus dem Dienst geschiedene Bundeswehrsoldaten reisten ins Ausland, um dort einen Aufstand gegen die böse Fremdherrschaft anzuzetteln, die dort schon viel zu lange besteht. Obwohl sie kampferfahren sind – gut, an dem Punkt müssen wir unsere Vorstellungskraft etwas anstrengen –, geraten sie bald in Gefangenschaft.
Von der Justiz des fremden Staats werden sie nicht etwa allerlei Petitessen wie Totschlag oder Sachbeschädigung angeklagt, sondern wegen des Hochverrats gegen den Fremdherrscher. Denn der mag nicht anerkennen, dass unsere tapferen Ex-Bundeswehrsoldaten die Staatsangehörigkeit seines Tyrannenstaats längst aufgegeben hatten.
Das deutsche Volk schäumt nun vor Aufregung über die Niedertracht des Tyrannen. Der Generalsekretär der CSU tönt, dass der Anspruch, die fremdländische Staatsangehörigkeit loszuwerden, ein Freiheitsrecht sei, wie das der freien Rede, er sogar dem Recht gleiche, zu atmen und zu denken.
Und der Bundestag beschließt kaum ein Jahr später ein Gesetz, das die Bundesregierung dazu aufruft, sich für die Rechte aller Bürger im Ausland einzusetzen, seien sie von Geburt oder durch Einbürgerung an die deutsche Staatsangehörigkeit gelangt.
Irische Aufstandsposse gegen Queen Victoria
Wem dies zu abstrakt war, stelle sich deutsche Staatsangehörige tibetischer Abstammung vor, die auf dem Gebiet der Volksrepublik China einen Aufstand gegen die ortsansässige Tyrannei anzetteln. Alternativ lassen sich auch Menschen kurdischer, syrischer, tamilischer, kongolesischer und diverser anderer Volkszugehörigkeit in die kleine Fabel einsetzen. An undeutschen Tyranneien ist der Planet ja nicht arm.
Unwahrscheinlich, dass Politik und Gesetzgeber in dieser Form reagierten?
Im März 1867 stand in Dublin ein gewisser John Warren vor Gericht, ein im US-amerikanischen Bürgerkrieg verdienter Offizier – beschuldigt des Verrats dergestalt, dass er sich führend am Versuch beteiligt haben soll, Königin Victoria ihrer rechtmäßigen Herrschaft über das Königreich Irland zu berauben.
Gebürtig aus Irland, spielte für Warren das Moment des Verrats nicht erst auf der materiell-rechtlichen Ebene eine Rolle, sondern schon prozessual: Weil er am 1. Oktober 1866 die Staatsangehörigkeit der USA erhalten hatte, verlangte die Verteidigung eine gemischte Jury von Geschworenen. Für Angeklagte ausländischer Staatsangehörigkeit sah das Common Law seinerzeit vor, dass die Jury zur Hälfte aus britischen, zur Hälfte aus ausländischen Untertanen ("de medietate linguae") bestehen solle. Relevant war dies freilich sonst eher für zivile Streitigkeiten unter Kaufleuten.
Abscheu vor der Aufgabe des Untertanenstatus
In seinem Buch "At Home in Two Countries. The Past and Future of Dual Citizenship" erzählt der US-amerikanische Juraprofessor Peter J. Spiro (geb. 1961), dass der Richter dieses Ansinnen Warrens nachgerade mit Abscheu abwies.
Jeder Mann, der unter der britischen Krone geboren sei, schulde ihr fortdauernden Respekt, und es stehe ihm nicht zu, sich eine fremde Staatsangehörigkeit anzumaßen oder auch nur die eigene aus eigener Initiative loswerden zu wollen. Diese Rechtsvorstellung von der Bindung des Untertanen an seinen Souverän sei derart anerkannt, dass es schon überflüssige Pedanterie sei, sie mit Zitaten zu belegen.
Warren kam als britischer Untertan vor eine rein britische Jury. Das Urteil lautete auf 15 Jahre schweren Zuchthauses, was in dieser Milde sicher auch dem Umstand geschuldet war, dass sein von nur rund 40 Möchtegern-Rebellen getragener Aufstandsversuch vom militärischen Standpunkt betrachtet eine romantische Farce blieb.
Zuwanderer, sie gehören zu uns!
Rund ein Jahr später kam Warren allerdings auch wieder frei. Denn die "Ferrian Rebellion", die von irischen Nationalisten im Vereinigten Königreich sowie in Kanada angezettelten Unruhen, und vielmehr noch ihre juristische Aufbereitung setzten die seit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten fortwährende Auseinandersetzung um die Staatsangehörigkeitsrechte ins Zentrum der öffentlichen Debatte in den USA.
Sogar noch das Parlament im US-Staats Wisconsin, das man sich ähnlich provinziell vorstellen darf wie das Berliner Abgeordnetenhaus unserer Tage, beklagte den britischen Hochmut. Auch fand sich ein Kongressabgeordneter in Washington, der die eingangs paraphrasierte Rhetorik bediente, von alter Staatsangehörigkeit frei zu werden, entspreche dem Menschenrecht, frei zu sprechen, zu atmen und zu denken.
2/2: Fremde Tyrannen geben die Leute nicht frei
Naturgemäß ging es in der juristischen Praxis realistischer zu. Als das Einwanderungsland schlechthin sahen sich die USA dem Problem der doppelten Staatsangehörigkeit als Resultat mangelnder Freigabebereitschaft europäischer Potentaten ausgesetzt.
Insbesondere die britische Regierung war lästig, begegnete man ihren schwimmenden Dienststellen damals auf allen Weltmeeren: Die Royal Navy presste Menschen von auch nur potenziell britischer Untertanenschaft gern auf hoher See in ihre Dienste.
Eine dramatische Zuspitzung der amerikanisch-britischen Staatsangehörigkeitsfragen war mit dem Krieg beider Nationen von 1812 einhergegangen. Der britische Prinzregent Georg – Spross der für ihr gutes Benehmen bis heute nicht unbedingt bekannten Adelsfamilie aus Hannover und später König Nummer vier seines Namens – sprach seine Erwartung aus, dass jeder amerikanische Soldat, der von Geburt britischer Staatsangehöriger sei, wegen Verrats hingerichtet werden müsse. Davon nahm er nur Abstand, weil US-Präsident Madison mit einer Retorsion an kriegsgefangenen britischen Soldaten im Verhältnis zwei zu eins drohte.
Einseitig einbürgern, völkerrechtlich nachverhandeln
Galt den britischen Juristen des Jahres 1867 die Staatsangehörigkeit noch als eine gleichsam biologische Bindung des Untertanen an die Krone, das staatsrechtliche Äquivalent zur Eltern-Kind-Beziehung, mussten sie bald umdenken.
Als Reaktion auch auf die öffentliche Empörung, die es ausgelöst hatte, dass ein amerikanischer Bürger irischer Abstammung in Dublin als britischer Untertan behandelt wurde, erließ der US-Kongress den Expatriation Act von 1868, der es zum unveräußerlichen Menschenrecht erklärte, seine alte Staatsangehörigkeit ablegen, um die neue – naturgemäß US-amerikanische – sich aneignen zu können.
Erst nach diesem Akt einseitiger US-amerikanischer Gesetzgebung handelte man mit der britischen Regierung ein bilaterales Abkommen aus, das dem Anspruch einer immerwährenden Fortgeltung des Untertanenstatus den Garaus machte.
Einbürgerungspathos rassistisch gebrochen
Umgekehrt entdeckte der US-Gesetzgeber im Lauf des 20. Jahrhunderts das Problem vermeintlich oder tatsächlich geteilter Loyalitäten. Wiederholt wurde nun der Rechtssatz bekräftigt, dass ein US-Bürger sich nicht in Kriegszeiten seiner Staatsangehörigkeit entledigen dürfe.
Frei von Doppelmoral war das Pathos, mit dem das Einwanderungsland seinen neuen Bürgern dabei behilflich sein wollte, nicht in die Untertanenpflichten des Herkunftslandes gefesselt zu bleiben, natürlich nicht. Hohe Moral hat dies ja derart an sich, dass es fast albern ist, hier noch etwas entlarven zu wollen.
Im Fall der USA brach bereits der "Naturalizsation Act" von 1790, der indigene Amerikaner, unfreie Vertragsarbeiter ("intendured servants", eine Art Zeitarbeitssklaventum), Sklaven, "freie Neger" und Asiaten von der Einbürgerung ausnahm, das heroische Pathos. Das Freiheitsrecht der Einbürgerung kraft Willensentschluss blieb bis ins 20. Jahrhundert rassisch genehmen Zuwanderern vorbehalten.
Aus dem 14. Zusatzartikel zur US-Verfassung, 1868 erlassen, lasen die Gerichte hingegen wiederum ein von Rassenschranken gelöstes Einbürgerungsrecht heraus. 1898 erstritt sich etwa Wonk Kim Ark, Sohn ungeliebter chinesischer Einwanderer, die US-Staatsbürgerschaft qua Geburt im Land – obwohl eine grammatische Auslegung dieses Zusatzartikels eher heikel ist.
Beides gehört in einem Einwanderungsland wohl zusammen: Abgrenzungswünsche und das Pathos, fremde Menschen durch die Bürgerrechte an den Vorzügen der eigenen, als großartig und chancenreich erlebten Gesellschaft rechtssicher teilhaben lassen zu wollen.
Professor Spiros deutsche Staatsangehörigkeit
In seinem Buch zur doppelten Staatsangehörigkeit vergleicht Peter J. Spiro das Verhältnis zwischen Staat und Staatsbürger vage mit familienrechtlichen Konstruktionen. Sah der absolutistische Staat mit seiner feudalen Rechtsformensprache in der Staatsangehörigkeit eine Analogie zur Vater-Kind-Beziehung, habe das 19. Jahrhundert einen Bindungsgrad zwischen Staat und Bürger entwickelt, der etwa der Bindung innerhalb einer bürgerlichen Ehe entspreche – grundsätzlich auf Freiwilligkeit beruhend und auf Lebenszeit angelegt. Aber wir wissen, oft gehen Motiv und Lebensfrist dabei nicht auf.
Nicht abwegig findet es der US-amerikanische Juraprofessor, wollte man in Zukunft die Staatsangehörigkeit analog zum vereinsrechtlichen Bindungsgrad sehen. Das hat auch mit seinem eigenen Doppelbürger-Projekt zu tun.
Spiro selbst und seine Kinder besitzen seit dem Jahr 2013 neben der US-Staatsbürgerschaft auch die deutsche. Seinem Vater Herbert J. Spiro (1924–2010), geboren in Hamburg, war die deutsche Staatsangehörigkeit aufgrund der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 entzogen worden.
Der Anspruch Peter Spiros und seiner Kinder auf Einbürgerung stützte sich damit letztlich auf Art. 116 Absatz 2 Grundgesetz, wie bei gar nicht wenigen Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit – in ihrem Fall motiviert auch durch den Wunsch, in der als großartig erlebten Europäischen Union Freizügigkeit und Bildungschancen zu genießen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.
Martin Rath, Historische Entwicklung: Die Staatsangehörigkeit als Untertanenstatus . In: Legal Tribune Online, 21.08.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20343/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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