Der aktuelle Meinungskampf z. B.um den Einfluss feministischer Lehren, etwa auf die Amts- und Bildungssprache, hatte einen Vorläufer: In den 1970er Jahren wurde unter Juristen mit teils harten Bandagen um den Wert der Soziologie gestritten.
Sogar der Deutsche Juristentag (djt), dieses große Klassentreffen der rechtspolitisch interessierten Juristen, hatte schon zur Frage diskutiert, wie sich der intellektuelle Horizont ihrer Zunft erweitern ließe: "Was kann geschehen, um bei der Ausbildung (vor oder nach Abschluss des Universitätsstudiums) das Verständnis der Juristen für psychologische, wirtschaftliche und soziale Fragen in erhöhtem Maße zu fördern?"
Dem alten djt-Ritual entsprechend wurde hierzu unter anderem beschlossen, dass es die Aufgabe der akademischen Lehre sei, "den Inhalt der einzelnen Rechtsinstitute regelnden Rechtssätze – unter Klarlegung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen und Wirkungen – zu entwickeln".
Zu den Prüfungsfächern des rechtswissenschaftlichen Studiums sollte laut djt-Beschluss die Volkswirtschaftslehre zählen, die Grundzüge der Betriebswirtschaftslehre, der Finanzwissenschaft und der Sozialgesetzgebung würden jedenfalls zum Pflichtstoff gehören. Vorlesungen über Statistik, Wirtschaftsgeschichte, über volks- und privatwirtschaftliche Spezialgebiete seien an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten ebenso "dankbar zu begrüßen" wie eine Einführung in die soziologische Wissenschaft.
Sozialwissenschaften und Recht – Hassliebe mit Hindernissen
Dieser Beschluss, die juristische Lehre für die Sozialwissenschaften zu öffnen, fiel – anders als konservative Köpfe vielleicht vermuten – nicht etwa in die Zeit der radikal linken Studenten- und Hochschulbewegung, die seit 1967 in Deutschland an Dynamik gewann.
Die zitierte Forderung, die Lehre der rechtswissenschaftlichen Dogmatik mit Erkenntnissen zu ihren sozialen und ökonomischen Voraussetzungen und Folgen zu verbinden, wurde deutlich früher beschlossen – vom 31. Deutschen Juristentag, der zwischen dem 3. und 6. September 1912 in den Räumen des heutigen Wiener Nationalrats tagte.
Gewiss war das für diese Zeit modern, wie ein anekdotisches Beispiel illustriert: Als Louis Ferdinand von Preußen (1907–1994), seit 1951 "Chef des Hauses Hohenzollern", in den 1920er Jahren Volkswirtschaftslehre studierte und in diesem Fach 1929 abschloss, trug das zu seinem Ruf als "Roter Prinz" bei – auch weil er damit kokettierte, über Karl Marx promoviert zu werden. Das VWL-Studium galt schlicht als wenig standesgemäß für einen Enkel des letzten preußischen Königs und deutschen Kaisers.
Der Raum für moderne Sozialwissenschaft sollte zwischenzeitlich sehr eng werden – in den Jahren 1933 bis 1945 galten der völkische Utilitarismus und eine ebenso menschen- wie wissenschaftsfeindliche Rassenlehre als neue Leitwissenschaften, die auch das Recht prägen sollten. Als es damit vorbei war, war an den akademischen Pluralismus der 1910er oder 1920er Jahre zunächst nicht mehr leicht anzuknüpfen.
Spätestens mit den frühen 1960er Jahren wuchs aber das Interesse an den beiden Zugängen der Soziologie zum Recht: einmal mit der soziologischen Betrachtung der Justiz als Forschungsobjekt, dann mit der deutlich heikleren Idee, soziologische oder andere sozialwissenschaftliche Methoden könnten für die juristische Lehre und Praxis nützlich gemacht werden.
Streit wird in den 1970er Jahren virulent
Gemessen an der freundlichen Haltung, mit der den Sozialwissenschaften beim Deutschen Juristentag des Jahres 1912 begegnet worden war, verlief die Auseinandersetzung in den 1960er und 1970er Jahren erheblich ruppiger.
1970 unterstellte beispielsweise Norbert Achterberg (1932–1988), der später Professor für öffentliches Recht in Münster wurde und intellektuell durchaus nicht auf die Juristerei beschränkt blieb, in der "Juristenzeitung" (JZ 1970, 281–283), dass sowohl "für die Forderung als auch für die Ablehnung des Einbaus rechtssoziologischer Lehrveranstaltungen in den Rechtsunterricht" zu gelten scheine, dass "Soziologie" gedanklich mit "Sozialismus" assoziiert werde. Dem Anliegen selbst stand er unter anderem deshalb skeptisch gegenüber, weil der soziologische Zugang zum Recht keine "über Forschungsanfänge hinausgehende 'Lehrreife'" aufweise.
Der Münchener Zivilrechtsgelehrte Andreas Heldrich (1935–2007) merkte 1974 in der "Juristischen Schulung" (JuS 1974, 281–284) spöttisch an, die seinerzeit virulente Diskussion um die Reform des Jurastudiums laufe auf den Wunsch hinaus, einen "kritischen, mündigen, in permanenter Reflexion seiner selbst, der Gesellschaft und des Rechts verharrenden juristischen Übermenschen" zu schaffen – die Etablierung soziologischer Lehrveranstaltungen gehörte selbstverständlich mit zu diesem ersehnten "Übermenschen"-Programm.
Zur Verteidigung der Soziologie an den juristischen Fakultäten gegen teils polemische Kritik sah sich etwa Ernst E. Hirsch (1902–1985) berufen, der im türkischen Exil neben Handelsrecht auch Rechtssoziologie gelehrt hatte und mit dieser Fächerkombination 1952 nach Berlin zurückgekehrt war. Er wies gegen den Vorwurf, die Rechtssoziologie habe noch kein lehrbares Programm, auf seine seit 1953 etablierten Vorlesungen und die verfügbaren Beiträge im Schrifttum hin (JZ 1970, 679).
Andere Verteidiger befanden, dass die Forderung nach empirisch arbeitenden Wissenschaften an den juristischen Fakultäten noch nicht weit genug gehe, "vielmehr auch aus politik- und wirtschaftswissenschaftlicher, aus ethnologischer und psychologischer Sicht Rechtsforschung betrieben" werden könne. Unter dem wenig schmeichelhaften Titel "Kognitive Distanz oder defensive Ignoranz?" antworteten die noch jungen Konstanzer Nachwuchsjuristen Klaus Dammann und Gerd Winter namentlich auf Achterberg (JZ 1970, 679–682) und empfahlen interessierten Studierenden, zur Not auf ausländische Hochschulen auszuweichen, um zeitgemäße (rechts-) soziologische Sach- und Methodenkenntnisse erwerben zu können.
50 Jahre später – eine Bestandsaufnahme
Das aktuelle Themenheft "Reform, Revolte, Rechtssoziologie" der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung – "Mittelweg 36" (3/2022) – bietet nun rund 50 Jahre nach dem Streit um die sozialwissenschaftliche Aufrüstung der juristischen Studiengänge eine beeindruckende Bestandsaufnahme dieses bildungspolitischen Reformprogramms, das einer der damaligen Vorkämpfer, der Jurist und Soziologe Rüdiger Lautmann (1935–), heute wie folgt resümiert:
"Um 1970 ist versucht worden, der Jurisprudenz eine sozialwissenschaftliche Wende zu geben. Einige Nachwuchssoziologen nutzten die Chance und gelangten auf akademische Positionen, aber ihre Gründungseuphorie lief ins Leere. Nassforsch und großmäulig waren sie aufgetreten; kleinlaut und bescheiden arbeiteten sie später an juristischen (und kriminologischen) Instituten, bis auch das vorbei war. – Heute gelten die Aufregungen von 1970 oft als überwundene Episode."
Aus den vielen bemerkenswerten Details, die im "Mittelweg 36" zu diesem Lauf ins Leere angeführt werden, sollen hier nur zwei Beiträge herausgegriffen werden.
Unter dem doppeldeutigen Titel "Soziologie im freien Fall?" geht die am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie tätige Gelehrte Susanne Karoline Paas (1987–) den damaligen Versuchen nach, sozialwissenschaftliche Methoden und Perspektiven in genuin juristischen Lehrbüchern unterzubringen – sie also konkret für die im Studium exzessiv geübte Erstellung von Texten im sogenannten Gutachtenstil fruchtbar zu machen.
Zu den wenigen Werken, die einen solchen "Einbau" soziologischer Methoden anschaulich machten, zählte das unter anderem von W. Rainer Walz (1942–2006) herausgegebene Lehrbuch "Sozialwissenschaften im Zivilrecht", das 1983 zwar bereits einen Schwerpunkt auf die ökonomische Analyse des Rechts legte (die sich, weil sie leichter "einbaufähig" ist und kanonisierbar war, bis heute erhalten hat), das aber auch schöne Beispiele etwa für mediensoziologische und -psychologische Orientierungsmöglichkeiten im Gegendarstellungsrecht oder für eine soziologische Evaluation des Betriebsverfassungsrechts gab.
Selbstbild von Justizjuristen in der Gegenwart
Studierende der Rechtswissenschaften damit zu fordern, auch noch soziologische Methoden in Gutachten zu verbauen, erwies sich also als fruchtlos. Einen etwas leichteren Stand hat hingegen die Justizsoziologie – denn sogar Juristinnen und Juristen interessieren sich für sich selbst.
Doch selbst damit, die Justiz und ihre Mitarbeiter als Gegensand sozialwissenschaftlicher Neugier zu erforschen, hatte man in den 1960er Jahren einen schlechten Start, wie der in Göttingen lehrende Soziologe Berthold Vogel (1963–) in seinem Beitrag "'Die Hüter von Recht und Ordnung'. Die Kaupen-Studie im Lichte neuer justizsoziologischer Befunde" anmerkt.
Unter diesem Titel hatte der Rechtssoziologe Wolfgang Kaupen (1936–1981) im Jahr 1971 ein äußerst negatives Bild der Justizjuristen gezeichnet: "Wer sich in die Gerichtssäle begebe", fasst Vogel Kaupens Haltung zusammen, "der treffe auf der Richterbank auf Beamtensöhne, die entweder konservative Ordnungshüter, patriarchale Richterkönige oder seelenlose Subsumtionsautomaten seien".
Schon vor dieser Arbeit des radikalen Linken Kaupen, der sich sogar für die "Barfuß-Rechtspflege" im China Mao Tse-tungs begeistern konnte, hatte sein berühmter sozialliberaler Kollege, der vorübergehende FDP-Politiker Ralf Dahrendorf (1929–2009), im Jahr 1962 von der deutschen Richterschaft als einer für die übrige Gesellschaft weitgehend blinden Oberschichten-Kaste geschrieben.
Waren diese Befunde bereits vor 50 Jahren im besseren Sinn fragwürdig, stellt Vogel im "Mittelweg 36" auch Erkenntnisse aus einer neueren soziologischen Erhebung unter Justizjuristen vor, etwa ihrer Autoritätsneigung und zu ihrer Schichtzugehörigkeit.
Wenn heutige Justizjuristinnen und -juristen beispielsweise einen Mangel an Achtung für den Rechtsstaat und seine Institutionen beklagten, verberge sich dahinter "kein kollektiver Wunsch nach obrigkeitsstaatlichen Strukturen und keine gemeinschaftliche Sehnsucht nach Standesbewusstsein". Das mag wenig überraschend sein, aber angesichts älterer grau-brauner Justizbilder in der Öffentlichkeit mag es zitiert werden: "Macht und Autorität werden nicht (mehr) aus der staatlichen Ordnung abgeleitet. Sie lassen sich nicht verordnen, sondern müssen mehr und mehr kommunikativ hergestellt werden."
Erfasst werden heute auch Frustration über vielerorts unzureichendes Mobiliar und mangelhafte Telekommunikationsmittel bei den Gerichten – mit empirischen Erhebungen dazu bietet die Soziologie inzwischen also weniger methodische Zumutungen als Argumentationshilfen fürs nächste Gespräch mit dem Ministerium.
Hinweise: Das Themenheft der Zeitschrift "Mittelweg 36" findet sich online hier. Der emeritierte Rechtssoziologe Klaus F. Röhl hat sein klassisches Lehrbuch "Rechtssoziologie" hier online gestellt. Eine immer noch schöne, soziologisch unterrichtete und Studierende methodisch nicht herausfordernde Sammlung von Rechtsgeschichten bietet Roland Dubischar: "Prozesse, die Geschichte machten. Zehn aufsehenerregende Zivilprozesse aus 25 Jahren Bundesrepublik". München (Beck) 1997. Als Einführung für Studien neben dem juristischen Pflichtprogramm ist instruktiv: Sighard Neckel u. a. (Hg.): "Sternstunden der Soziologie. Wegweisende Theoriemodelle des soziologischen Denkens", Frankfurt/Main (Campus) 2010.
Sozialwissenschaftliche Methodik in der Jurisprudenz: . In: Legal Tribune Online, 23.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49957 (abgerufen am: 10.10.2024 )
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