Sozialkredit statt Rechtsstaat: Wenn Com­puter eine Gesell­schaft zusam­men­halten

von Martin Rath

17.03.2024

Ein neues Buch zum chinesischen Sozialkreditsystem vermittelt Einblicke in dessen Entstehungsgeschichte. Ob hier mittels IT eine rechtsförmige durch eine sozialtechnologische Steuerung von Gesellschaft abgelöst werden soll, bleibt offen.

Mit dem Gedanken, dass die Steuerung der politischen und ökonomischen Verhältnisse in einer Gesellschaft statt durch die juristische Formensprache und einen von Befehl und Gehorsam freigestellten Justizbetrieb auch mittels sozialkybernetischer Systeme erfolgen könnte, tut man sich in Deutschland aus guten wie schlechten Gründen schwer. 

Das hat unter anderem mit den kuriosen Zügen einer als soziale Steuerungstechnik verstandenen Kybernetik zu tun. 

Ausgerechnet in der DDR, also jenem deutschen Staat, der zwar eine von Kindesbeinen an vorzügliche mathematische Bildung betrieb, der aber bis zum Untergang der SED-Diktatur noch nicht einmal seinen Informatikern einen auch nur ansatzweise hinreichenden Zugang zu Computern organisieren konnte, wurde seit den 1960er Jahren darüber diskutiert, ob die damals neumodische Wissenschaft von den Steuerungssystemen als Instrument ökonomischer und staatlicher Lenkungsprozesse dienen könnte. 

Sogar Hilde Benjamin (1902–1989), die "schreckliche Juristin" der DDR, gab 1967 ihre Überlegungen zur "Kybernetik im Kampf gegen die Kriminalität" in den Druck. 

Diese vorübergehende Aufgeschlossenheit für die Kybernetik im Osten ging so weit, dass sich mancher Volkswirt im Westen sorgte, eine informationstechnisch aufgerüstete Planwirtschaft könnte künftig mit einem Wirtschaftswachstum von acht bis zehn Prozent den Westen überholen, der sich dann mit drei Prozent bescheiden müsse. 

Von prozessierenden Offizieren und erheiterten Journalisten 

In der DDR endete zwar der ideologische Flirt mit der kybernetischen Regelung des Staats- und Gesellschaftsbetriebs im Wesentlichen mit dem Sturz Walter Ulbrichts (1893–1973) im Jahr 1971. 

Das hielt jedoch – bleiben wir für einen Moment im Anekdotischen – einen Offizier der Bundeswehr nicht davon ab, sich auf dem Rechtsweg über ein Buch zu echauffieren, das ihm sein Dienstherr als Prämie für seine Leistungen in einem traditionellen Aufsatzwettbewerb für Soldaten hatte zukommen lassen (Bundesverwaltungsgericht, Beschl. v. 29.05.1973, Az. I WB 23/71). 

In diesem Buch unter dem Titel "Programm 2000" hatte sich der Mathematiker, Informatiker und Zukunftsforscher Karl Steinbuch (1917–2005) in berufstypischer Offenheit auch positiv über die naturwissenschaftlich-technische Ausbildung in der DDR geäußert, zugleich harsch über die Mängel im westdeutschen Bildungssystem – und er hatte nicht zuletzt die Chancen der informationstechnischen Zukunft Deutschlands referiert. Anfang der 1970er Jahre gelang Steinbuch damit ein Bestseller-Erfolg. Mit Werken zum Verhältnis von "Automat und Mensch" und über "Die informierte Gesellschaft" erreichte er eine Gesamtauflage von über 500.000 Stück, selbst im damals noch leselustigen Deutschland ein beachtlicher Auflagenerfolg. 

Ungefähr für das Jahr 1990 prognostizierte Steinbuch in seiner sozialkybernetischen Denkungsart das Ende des klassischen gedruckten Lexikons durch redaktionell betreute Datenbank-Systeme, also eine Art Wikipedia, bloß vernünftig organisiert. Darüber machte sich etwa der "Spiegel" 1971 lustig: "Der Mensch der Zukunft wird seinen Wissensbedarf per Telephon von Datenbanken zapfen." 

Sozialkybernetisch zu denken, kam vor allem in höheren Verwaltungskreisen in Mode. In sein "Taschenbuch für Kriminalisten" schrieb etwa einer der intellektuell interessantesten Polizisten Deutschlands, damals Polizeipräsident von Nürnberg, im Jahr 1968 den pathetischen Satz: "Das maschinelle Sein bestimmt das polizeiliche Bewusstsein."  

Als Präsident des Bundeskriminalamts verschreckte eben dieser Horst Herold (1923–2018) dann in den 1970er Jahren das linke und liberale Publikum durch Vorahnungen einer künftigen digitalen Kontrollgesellschaft – so nachhaltig, dass sich die erste Bundestagsfraktion der "Grünen" 1983 ganz und gar selbst verbot, Computer zu nutzen. Wie sehr die Sozialkybernetik des promovierten Juristen Herold seiner Zeit vorausgewesen sein muss, lässt noch der Nachruf in der "Süddeutschen Zeitung" erahnen, trotz des etwas kindlichen Stils, in dem davon erzählt wird. 

Aktuelle Aufklärung über chinesische Staatskybernetik 

And now for something completely different? Das ist die Frage. 

Gegenwärtig vermittelt auch die Berichterstattung zur IT in der Volksrepublik China den Eindruck, dass vor allem das Bedürfnis befriedigt werden soll, sich in kindlicher Unschuld vor einer sozialkybernetisch aufgerüsteten Staatsgewalt gruseln zu wollen – nun in Gestalt des sogenannten "Sozialkreditsystems". 

Nicht untypisch sind hier Beiträge, die "China auf dem Weg in die IT-Diktatur" sehen (DLF, 2018) oder sich mittelbar an der Furcht weiden, in Deutschland drohe ebenfalls ein chinesisches Sozialkreditsystem. 

Mit ihrem Werk "Sozialkybernetik in statu nascendi" (Berlin, 2024) belegen nun der Sinologe Martin Woesler (1969–) und der Mathematiker, Physiker und Informatiker Martin Warnke (1955–), dass eine solche Perspektive jedenfalls stark verkürzt ist und dem "Sozialkreditsystem" nicht ganz gerecht wird. 

Einerseits bedient dieses Sozialkreditsystem zwar, darin den ideologischen Träumen in der DDR der 1960er Jahre nicht unähnlich, die Idee von einem antiliberalen Staats- und Wirtschaftssystem, in dem die Informationstechnologie leisten soll, worin die sozialistische Zentralplanungsverwaltung sowjetischen Formats von Beginn an scheiterte – also individuelle Bedürfnisse zu erfassen, zu aggregieren und in die Bereitstellung von öffentlichen wie privaten Dienstleistungen bzw. in Güterproduktion umzumünzen. 

Dass das System dabei auch Kontroll- und Sanktionsbedürfnisse einer politischen Partei bedient, die für sich das Monopol auf die Souveränität und die verfassungsmäßige Ordnung Chinas anmaßt, wird von Warnke und Woesler natürlich nicht bestritten. 

Auch Warnke und Woesler erwähnen, dass der potenziell totale Zugriff auf Daten, die z.B. ein nur moralisch heikles Fehlverhalten dokumentieren, zu gelegentlich skandalös absurden Konsequenzen führt. So befremdet es, wenn etwa Fußgänger, die bei Rot über die Straße gehen, dank Sozialkreditsystem dann schlechtere Chancen haben, öffentliche Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können. 

Sozialkreditsystem – der "Schufa" nicht fern? 

Andererseits erklären Woesler und Warnke, dass sich das Sozialkreditsystem auch – so ein alternativer Übersetzungsvorschlag – als "gesellschaftliches Vertrauenswürdigkeitssystem" verstehen lasse. 

Funktional gedacht, war seine Einführung nicht nur auf übliche Machthaberfantasien zurückzuführen. So fehlte etwa, das ist ein nüchterner Befund, für den dramatischen wirtschaftlichen Aufschwung Chinas seit den 1980er Jahren ein ausgereiftes Bankwesen. 

Kredit nach westlichem Verständnis war zunächst vielfach nur in privaten Netzwerken zu finden. Und wie prekär solche Netzwerke im Rahmen der erweiterten Familienbande sind, solange sie auf dem Stand des 19. Jahrhunderts bleiben, weiß man etwa aus Thomas Manns "Buddenbrooks" (1901). 

Die Entstehung des Sozialkreditsystems sei daher dem Bemühen des chinesischen Staates geschuldet, aus der kreditwirtschaftlichen Buddenbrooks-Welt der 1980er Jahre herauszukommen und nicht zuletzt – nach dem Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO im Jahr 2001 – international Vertrauen aufzubauen. 

Würde das "Sozialkreditsystem" heute nicht auch dazu genutzt, politische Dissidenten zu schikanieren, wäre es nur ein zwar recht krasses, aber doch deutlich weniger beunruhigendes Verfahren der Verhaltenssteuerung mit den Mitteln von "Zuckerbrot und Peitsche".  

Aussagen vom Typ "Nein, in Deutschland soll kein Sozialkreditsystem wie in China eingeführt werden" (Correctiv, 2022), greifen daher möglicherweise zu kurz – es wäre dazu doch zu klären, welche Aspekte eines gegenwärtigen oder künftigen, aus technologischen und ökonomischen Gründen auch hierzulande absehbaren "Vertrauenswürdigkeitssystems" kritisch gewürdigt werden wollen. 

Dokumentation der chinesischen Regelungsgeschichte 

Ausführlich kommentiert dokumentieren Woesler und Warnke die Regelungsgeschichte des Sozialkreditsystems in Übersetzung sowie im chinesischen Original. 

Gerade weil das positive Recht in der Volksrepublik China mehr als anderenorts von pragmatischen Zwecken unterlaufen oder durchbrochen wird, mag eine solche Sammlung von Dokumenten für deutsche Juristinnen und Juristen einen gewissen, nicht immer nur exotischen Reiz haben. 

In der Dokumentation von Woesler und Warnke finden sich programmatische Reden und Beschlüsse zum chinesischen Sozialkreditsystem, angefangen mit einem biografisch interessanten amtlichen Porträt von Lin Junyue, seinem maßgeblichen Entwickler – der sein Handwerk nicht zuletzt in den USA gelernt hat. 

Wie unterschiedlich die Perspektiven auf die sozialkybernetische Technik ausfallen können, illustrieren – neben der Kommentierung durch Woesler und Warnke – etwa auch Online-Lexika aus der Volksrepublik und der Republik China auf Taiwan. 

In der europäischen und deutschen Rechtspolitik ist seit geraumer Zeit eine gewisse Unlust zu erkennen, große Vorhaben mit entsprechend scharfem rechtsphilosophischen Besteck zu kritisieren – etwa aus einer hegelianischen oder kantianischen Perspektive. Wer sich darin jedenfalls am chinesischen Objekt üben will, wird von der Dokumentation zum Sozialkreditsystem von Woesler und Warnke profitieren. 

Weitere Kreißsäle der Sozialkybernetik? 

In seinem "Programm 2000" schrieb der später aus politischen Gründen etwas in Vergessenheit geratene Mathematiker und Futurologe Karl Steinbuch 1971, dass in unserer Zeit eine Teilnahme am technischen Fortschritt unvermeidbar sei, ein Verzicht darauf in der Regel mit einer eingeschränkten Selbstbehauptung einhergehe. 

Der heutige Jurist denkt vielleicht nur ans "beA" und seufzt leise auf. 

Vermutlich wird das nicht ausreichen. Denn wenn beispielsweise Vorgänge wie die Vertragsverwaltung oder die Abwicklung von Fluggastentschädigungsansprüchen digital automatisiert werden, berührt das bisher nur die betriebswirtschaftlichen Erwartungen von Anwältinnen und Anwälten, wenngleich das schmerzhaft genug sein mag. 

Hinter der chinesischen Sozialkybernetik verbirgt sich aber, ebenso wie hinter der Manie von bisher noch meist amerikanischen Libertären und Anarchokapitalisten für Kryptowährungen, die Fantasie, vollständig oder doch sehr viel öfter ohne einen eingerichteten und ausgeübten Rechtsstaatsbetrieb auskommen zu können – wenn vielleicht nicht hierzulande, dann doch, mit allen Kostenvorteilen, die das bringt, im sogenannten "globalen Süden". 

Der Kreißsaal der Sozialkybernetik steht damit womöglich weiter offen, als man glaubt. 

Lesehinweis: "Sozialkybernetik in statu nascendi. Die Entstehungsgeschichte des chinesischen Sozialkreditsystems" von Martin Woesler und Martin Warnke ist erschienen im Verlag Matthes & Seitz, Berlin, 2024, 352 Seiten, 28 Euro. 

Zitiervorschlag

Sozialkredit statt Rechtsstaat: . In: Legal Tribune Online, 17.03.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54124 (abgerufen am: 03.11.2024 )

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