US Supreme Court Richterin Sotomayor: "Life is not fair in a way we want it to be fair"

von Dr. Markus Sehl

13.05.2014

Von der New Yorker Bronx ans höchste Gericht der USA. Das ist eine sehr amerikanische Geschichte, die auch ein Roman sein könnte. Erzählt wird sie von einer Frau, die sich mit ihrer Offenheit angreifbar macht und den US Supreme Court verändert. Die Autobiographie von Sonia Sotomayor "My beloved World" wurde zum Beststeller in den USA. Am Montagabend hat sie ihr Buch in Berlin vorgestellt.

Das neue Jahr in New York beginnt mit einem Ritual. Auf Knopfdruck fällt der glitzernde "Time Ball" und es beginnen die letzten sechzig Sekunden bis zum Feuerwerk am Times Square. Am 31. Dezember 2013 zählten nicht Bill Clinton oder Lady Gaga vor Millionen Zuschauern das neue Jahr an, sondern zum ersten Mal eine Supreme Court Richterin: Sonia Sotomayor.

Es war nicht der erste Auftritt, der erahnen ließ, dass Sotomayor die Wahrnehmung des höchsten US-Gerichts verändert. Und das nicht allein deshalb, weil sie überhaupt erst die dritte Richterin und die erste mit lateinamerikanischen Wurzeln ist. Es fällt auch nicht leicht, sich ihre Kollegen vorzustellen, wie sie in der amerikanischen Sesamstraße Kindern erklären, was Karriere bedeutet, oder mit einem TV-Moderator Salsa tanzen.

Mit 2013 ging für die gebürtige New Yorkerin ein Jahr zu Ende, in dem ihre Autobiographie "Meine geliebte Welt" ("My beloved World") wochenlang die Beststellerlisten in den USA anführte. Keine Kritik, die sich nicht tief beeindruckt gezeigt hätte von dieser sehr amerikanischen Geschichte. Schon als Präsident Barack Obama sie 2009 zur Richterin ernannte, schien das wie eine Wiederholung seines politischen Wunders, ein "Change" am Supreme Court.

Von der Bronx nach Washington, D.C.

Jede Neubesetzung verschiebt das Gefüge des Gerichts und seiner Rechtsprechung. Auch wenn die Rede von "The Supreme Court", "Das Gericht" oder auch "Karlsruhe" es manchmal verdeckt, letztendlich sind es einzelne Richterpersönlichkeiten, die eine Entscheidung treffen.

In Berlin erwachen zurzeit politische Begehrlichkeiten, das in Deutschland bisher bewusst informelle und intransparente Wahlverfahren zum Bundesverfassungsgericht zu reformieren. In den USA herrscht dagegen bereits ein hohes Maß an Transparenz.

Sotomayor musste sich wie jede Nominierte in einer Anhörung dem Rechtsausschuss des US-Senats stellen. Jedes Wort davon ist veröffentlicht und auf knapp 1.500 Seiten für jeden nachzulesen. Die Fragen reichen vom Selbstverständnis als Richterin bis zum Einfluss von persönlichen Erfahrungen und Vorurteilen. Als würde das nicht schon genug Angriffsfläche für jede zukünftige Entscheidung der 60-jährigen Richterin bieten, wagt sie sich mit "Meine geliebte Welt" noch einen Schritt weiter in die Öffentlichkeit.

Befreit und mit klarer Sprache erzählt sie von ihrer Diabetes-Erkrankung, den Katastrophen der Pubertät, dem Scheitern ihrer Ehe. Die Kapitel sind keine Aneinanderreihung von moralisierenden Episoden. Sie funktionieren über verdichtete Szenen, die trittsicher und aufmerksam beobachtet sind. Sie beschreiben den Weg des Mädchens Sonia Sotomayor, das mitten im Hochsommer der 60-er Jahre mit ihrer Großmutter über den Viehmarkt der Bronx läuft, und schließlich als junge Richterin mit zitternden Beinen den Saal zu ihrer ersten Verhandlung betritt.

"I hate sitting still"

Einen Roman erkennt man, weil auf dem Buchdeckel Roman steht. Auf dem Buch von Sonia Sotomayor steht nicht Autobiographie, da steht nur Sonia Sotomayor. Nach den ersten Seiten kann man die Geschichte auch als eine dicht erzählte Fiktion lesen.

Ein Kind, das langsam begreift, dass es krank ist und dass diese Krankheit sein Leben bestimmen wird. Mit acht Jahren stellen die Ärzte bei Sotomayor Diabetes fest. Weil ihre Mutter, eine nicht examinierte Krankenschwester, kaum zuhause ist und ihr alkoholkranker Vater es nicht fertig bringt, setzt sie sich ihre Spritzen selbst.

Die geliebte Welt endet an den Rändern der Bronx und beginnt in der Vorstellung wieder an der Küste von Puerto Rico. Die einzige Verbindung zu Lateinamerika bleibt die Sprache und zugleich ist sie das Hindernis für die Familie, ein neues Leben zu beginnen.

"Life is not fair in a way we want it to be fair", sagt Sotomayor am Montagabend, als sie ihr Buch an der Humboldt-Universität zu Berlin vorstellt. Sie nimmt das Mikrophon und steigt vom Podium. "I hate sitting still", sagt sie und geht an den ersten drei vollbesetzten Stuhlreihen vorbei, an denen Namensschilder kleben. Wer eine Frage hat, bekommt ein Foto mit ihr. Wer dabei ein bisschen zittert, wird in den Arm genommen. Ein junger Mann will wissen, wie ihre Familie mit ihrem Aufstieg umgegangen ist. Sotomayor nimmt sich Zeit für jede Antwort, auch dann noch, als man ihr nach zwei Stunden ein Zeichen gibt, lässt sie sich nicht unterbrechen. Es gehe darum, junge Menschen an die Startlinie zu bringen, an die Startlinie eines Rennens, von dem sie bisher nichts wussten.

Die amerikanischen Ivy League Colleges wie Princeton und Yale mit ihren Bogengängen und raumhohen Bücherwände lernte Sotomayor sich vorzustellen, als sie "Love Story" im Kino sah. Erst Jahre später erfuhr sie, dass viele Szenen an der Fordham University, nur ein paar Blocks von zuhause entfernt gedreht wurden.

"I respectfully dissent"

Auf dem deutschen Buchmarkt sucht man vergeblich nach einer "Geliebten Welt" der Verfassungsrichter, die von Osnabrück oder Schaumburg-Lippe erzählt. Es gibt eine Biographie über Jutta Limbach, die erste Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Zu Wolfgang Böckenförde findet sich ein Aufsatzband inklusive wissenschaftlich-biographischem Interview. Mehr geht nicht.

In den USA gibt es eine andere Veröffentlichungskultur, wenn es um den eigenen Lebensweg geht – und es stört auch niemanden, dass er sich manchmal dramatisch durchkomponierter liest, als man es der Wirklichkeit zutrauen würde. Schon gleich zu Beginn seiner politischen Karriere veröffentlichte Obama seine Biographie "Dreams from my father", die ein Vorbild für Sotomayors Buch war.

Die Richter des US Supreme Court sind auf Lebenszeit gewählt. Wenn ein Präsident das Weiße Haus verlässt, entscheiden "seine" Richter noch für Jahrzehnte über die Themen, welche die amerikanische Gesellschaft polarisieren: gleichgeschlechtliche Ehe, Waffenbesitz, religiöser Pluralismus, NSA-Überwachung.

Zu einer ersten Überblendung von Sotomayors eigener Biographie und einer ihrer richterlichen Entscheidungen kam es Ende April. Der Supreme Court bestätigte ein Verbot von "affirmative action", also solchen staatlichen Maßnahmen, die der Diskriminierung bestimmter Gruppen entgegenwirken sollen (positive Diskriminierung). Die Universitäten in Michigan dürfen nun nicht mehr die Herkunft ihrer Bewerber als Auswahlkriterium besonders vorteilhaft berücksichtigen, um eine möglichst diverse Studentenschaft zu sichern. Die Entscheidung erging mit 6:2 Stimmen. Das abweichende Sondervotum von Sotomayor nimmt dabei mehr Seiten ein als die Entscheidung der Mehrheit.

In ihrer Autobiographie schreibt sie: "Meine Unschuld kam daher, dass ich mir keine Vorstellung davon machte, wie wenige Latinas es an einem Ort wie Princeton gab oder welch große Rolle meine Herkunft bei meiner Zulassung gespielt hatte."

Eine abweichende Meinung endet immer mit der gleichen rhetorischen Formel. Bei Sotomayor klingt sie nach über fünfzig Seiten dennoch nicht wie ein sprachlicher Fertigbaustein:

"I respectfully dissent."

Zitiervorschlag

Markus Sehl, US Supreme Court Richterin Sotomayor: . In: Legal Tribune Online, 13.05.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11952 (abgerufen am: 10.10.2024 )

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